21. Oktober 2014

Zeitzeugin Susanne Kräutner erinnert sich an die Massenflucht vor 70 Jahren

Susanne Kräutner, geborene Hartig, war 17 Jahre alt, als die Nordsiebenbürger Sachsen vor den Russen in den Westen flüchteten. Am 30. September abends berichtete sie im Kulturhaus Drabenderhöhe über die Ereignisse vor 70 Jahren, die Zuschauer dankten ihr mit stehendem Applaus. Ursula Schenker hat mit der 87-jährige Zeitzeugin gesprochen und ihre Erinnerungen im Folgenden festgehalten.
Frauen und Kinder weinen. Die Alten klammern sich im Haus fest. Sie wollen nicht weg. Brüllend laufen Kühe, Pferde, Schweine und Schafe durch das Dorf. Bauern haben die Tiere rausgetrieben, damit sie in den Ställen nicht verhungern. Sie sollen sich ihr Futter in Gärten und auf Feldern suchen. Überall auf den Straßen Militärfahrzeuge.

„Dieses Brüllen der Tiere, die Tränen und Verzweiflung der Menschen, die ihre Heimat verlassen sollten, kann ich nicht vergessen“, sagt die 87-jährige Susanne Kräutner, einige der wenigen Zeitzeugen, die heute noch leben. Sie ist 17 Jahre alt, als im September 1944 der Gemeindediener laut trommelnd durch Botsch läuft und bekannt gibt, dass das Verlassen der Höfe zu erfolgen habe, weil der Russe vor der Tür steht.

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Das Nötigste wird auf Planwagen gepackt, Essen, ein paar Decken, ein wenig Bekleidung. Vater Hans Hartig lenkt das Pferdegespann, in dem auch seine Eltern sitzen: Johann und Maria Hartig. Susanne geht zu ihrer Mutter auf dem Ochsenkarren.

„Bei uns war ein deutscher Soldat einquartiert. Als wir durch das Hoftor fuhren, setzte er sich ans Klavier und spielte den Deutschmeister-Marsch. Wann immer ich noch heute diese Melodie höre, bekomme ich eine Gänsehaut“, erzählt Krätner mit Tränen in den Augen. „Die Kirchenglocken läuteten, alle Tore öffneten sich, Wagen um Wagen rollt heraus.“ Zu diesem Zeitpunkt ahnt keiner, dass die Flucht über Ungarn nach Österreich geht und zwei Monate dauert. Es ist der 2. November 1944, als sie entkräftet im österreichischen St. Pölten ankommen. Am nächsten Tag fällt Schnee. „Wir dankten Gott, dass wir jetzt ein Dach über dem Kopf hatten.“

Wochen voller Leid und Qual liegen hinter den Menschen. Wagen brechen auseinander. Pferde laufen sich die Hufe ab, die Klauen der Ochsen sind wund. Für viele Frauen ist kein Platz mehr auf den Wagen. Sie laufen zu Fuß den weiten Weg von Siebenbürgen bis Österreich. Ihre verzagten und gequälten Gesichter sieht Kräutner heute noch vor sich. „Immer wieder hören wir Tiefflieger, verstecken uns. Bei Dunkelheit darf kein Feuer gemacht werden.“

Zeitzeugin Susanne Kräutner schilderte die ...
Zeitzeugin Susanne Kräutner schilderte die Massenflucht der Nordsiebenbürger Sachsen. Foto: Christian Melzer
Kinder besorgen von den Feldern Heu und Rüben, um die Tiere zu füttern, suchen nach Holz, damit gekocht werden kann. „Nahe der Donau hieß es, die Russen sind ganz nah, wenn sie uns einholen, treiben sie uns in den Fluss. Pure Angst saß mir im Nacken, deshalb schlug ich unbarmherzig mit der Peitsche auf die armen Ochsen ein, die kaum noch laufen konnten. Lauf, lauf, lauf, hämmerte es in meinem Kopf. Wir müssen die Brücken passieren, bevor sie gesprengt werden. Unsere Gebete wurden erhört, bei Estergom überquerten wir die Donau.“

Die Großeltern werden unterwegs in einen Zug gesetzt, der aus Bistritz kommt. Die Strapazen im Treck sind zu groß für sie. Der 73-jährige Johann Hartig stirbt im Zug. In Budapest wird Maria Hartig mit dem Toten auf dem Bahnhof zurückgelassen. Weinend sitzt sie neben ihrem Mann, als ein deutscher Soldat sie findet. Er besorgt einen Sarg, bestattet Johann Hartig auf einem Friedhof in Budapest. Maria Hartig stand nie wieder an seinem Grab.

„Auch auf unserem Treck gab es Tote“, erzählt Susanne Kräutner. Wir haben sie mitgenommen und auf dem nächsten Friedhof beigesetzt.

Nach Ende des Krieges Ende Juni/Anfang Juli 1945 kehrt die Familie ins siebenbürgische Botsch zurück. „Das war ein großer Fehler“, sagt Kräutner. „Wir hätten, wie so viele Siebenbürger Sachsen, in Österreich bleiben sollen. Was uns in der Heimat erwartete, haben wir alle nicht geahnt. Unsere Häuser wurden von Rumänen bewohnt. Sie gaben uns für acht Personen ein Zimmer. In den Garten durften wir nur mit Erlaubnis, und in den eigenen Weinbergen mussten wir als Tagelöhner arbeiten. Der Staat hatte sie konfisziert.

Susanne Kräutner kam, wie alle jungen und arbeitsfähigen Frauen und Männer in ein Arbeitslager. Nie wird sie ihre weinende Mutter vergessen, die vor lauter Schmerz und Verzweiflung ihr Kopftuch in zwei Teile zerriss. Im Lager gab es nur Wasser und Brot. „Ab und zu kamen Ungarn und steckten uns heimlich Kartoffeln und Maiskolben zu.“

Erst 1977 konnte die Familie „nach vielen Kämpfen“ Siebenbürgen verlassen.

Ihre Erinnerungen und Erlebnisse verarbeitete die 87-Jährige in vielen Gedichten und Geschichten sowie in dem kleinen Heimatbüchlein „Botsch nach dem Krieg 1945“.

Ursula Schenker

Schlagwörter: Evakuierung, Gedenken, Zeitzeugin

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