26. September 2025
Seiltanz in den dünnen Lüften Europas
Anlässlich des 100. Geburtstages des siebenbürgisch-sächsischen Schriftstellers Hans Bergel (1925-2022) lud das Haus des Deutschen Ostens in München am 4. September zu einer Gedenkveranstaltung ein. Die Initiatorin der Feier, Elke Raschdorf-Bergel, war selbstverständlich anwesend. Als Auftakt wurde eine Sequenz aus dem letzten Interview, das Hans Bergel 2020 anlässlich seiner 95. Geburtstagsfeier dem HDO gegeben hatte, eingespielt. Anschließend wurden in Form eines Dialoges zwischen Dr. Lilia Antipow und Josef Balazs die wichtigsten Aspekte des Bergelschen Œuvres erwähnt. Der Festvortrag „Über den Tanzboden der Literaturen. Hundert Jahre seit der Geburt des ruhelosen Europäers Hans Bergel (1925-2022)“, den Josef Balazs zu diesem Anlass geschrieben hatte und im HDO hielt, wird im Folgenden wiedergegeben.

Die Antwort auf eine rhetorische Frage ist meist offensichtlich oder implizit bekannt, weshalb sie auch als Scheinfrage bezeichnet wird. Nun, die Antwort ist in diesem Fall weder offensichtlich noch implizit bekannt. Dennoch scheint sie zwischen den Zeilen des Schriftstellers Bergel so durch, dass sie für den aufmerksamen Leser dann doch offensichtlich ist. [Wir könnten Frau Bergel, die hier anwesend ist, fragen ... NEIN wir bleiben im spekulativen Bereich.]
In den Texten von Hans Bergel wird getanzt, Musik gemacht, in mehreren Sprachen gesungen. Musik und Tanz kennen keine Grenzen, keine Sprachbarrieren. Im Gegenteil, Tanz und Musik bilden Brücken zwischen den Sprachen, den Kulturen, Brücken zwischen Menschen. In diesem Sinne war der Schriftsteller Hans Bergel ein großer Brückenbauer.
In seinem Roman „Wenn die Adler kommen“ (1996) lässt Hans Bergel „Ilarie, den mageren Mann aus Alt-Tohan, nach dem Glas greifen. Er leerte es und begann, mit Handballen und Fingern Tanzrhythmen auf die Tischplatte zu hämmern; dazu pfiff er.“ Großvater nickte der jungen Mioara zu, sie ließ sich nicht zweimal auffordern; er wirbelte sie „in einem der quirligen Hirtentänze über den Dielenboden. Ilarie pfiff und trommelte. [...] federleicht bog und drehte sich Mioara im Tanz. Sie warf das Kopftuch weg und öffnete die vollen Haare …“ Alt und Jung, der Siebenbürger Sachse aus Rosenau und Mioara, die Rumänin, tanzen miteinander einen „quirligen Hirtentanz“. Vater lachte, „klatschte im Takt in die Hände und stampfte mit einem Fuß“.
Im Roman tanzt der Ich-Erzähler Bergel am Lagerfeuer vor der Sennhütte selbst mit. Nachdem er mit den sieben Söhnen des Bade Licu „von der mămăligă und dem Lammfleisch“ gegessen hat, geht es nahtlos weiter ... : Filip, einer der Söhne, klemmte sich ein Stück Birkenrinde zwischen die Daumen und fing an die altbekannte Weise zu pfeifen, dabei „zwinkerte [er] uns zu. Im Schein des Feuers tanzten wir, bis Bade Licu uns zum Schlafengehen mahnte“.
Dieser Hirten-Tanz, ein ausschließlicher Männertanz, war das Zeichen der endgültigen Aufnahme des jungen Ich-Erzählers in die Gemeinschaft der Licu-Männer, der Hirten aus den Bergen, die ihn (auch) in den Tanz des Wiedersehens eingereiht hatten.
Friedrich Schillers 15. Brief aus der Reihe der „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ enthält den berühmten Satz: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Wenn wir annehmen, dass Tanz ein Spiel ist, dann ist der Tanzende „in voller Bedeutung des Wortes Mensch“, ganz Mensch.
Blickt man in ferne Zeiten zurück und sucht nach dem Begriff „Tanzen“ bei den Siebenbürger Sachsen, findet man Erstaunliches.
Die Siebenbürgische Quartalschrift in Hermannstadt 1790 publiziert, erwähnt einen gewissen modernen Tanz, der „der Gesundheit höchst schädlich“ sei. Es wird sogar die „medicinische Polizei“ aufgerufen, die nötigen Schritte gegen den „leider seit einem Jahre [...] herrschend gewordenen Tanze, Langaus genannt, zu unternehmen“. Die „Mortalitätstabellen“ sind ein beredtes Zeugnis für dieses Übel.
Jahre später, der alternde Gubernator Samuel von Brukenthal lebte zurückgezogen hinter den Vorhängen seines Palastes am Großen Ring, wurde gewarnt, dass „wenn ein Tanz gefährliche oft wirklich tödliche Krankheiten verursacht, dann ist es Pflicht für den Arzt zu reden und zu warnen“. Es wurde nochmals in der Siebenbürgische(n) Quartalschrift 1795 allen, die es lesen wollten, mitgeteilt, dass „eine aus der Hölle herstammende Erfindung eines Tanzes, den man Langaus nennet, unter uns ist bekannt worden. [...] So soll der erste Erfinder desselben ein wahnsinniger Franzos gewesen seyn, und man versichert, daß er in dem Taumel dieser Leidenschaft den Hals gebrochen habe“. Einfach war es dem Vorgänger des heutigen Walzers nicht, in Siebenbürgen bei den Honoratioren in Hermannstadt, akzeptiert zu werden oder sogar sich beliebt zu machen.
In seiner „Geographie des Grossfürstenthums Siebenbürgen“, publiziert 1790 in Preßburg, vermerkte Karl Gottlieb von Windisch über den „volkreichen sächsischen Ort“ Bulkesch, wo man „vorzüglich gute Weine“ anbaut, dass „die Einwohner einen besondern Dialekt“ reden, „und welches etwas seltsames ist, sie tanzen niemals“. Eine stille Rebellion gegen den Rhythmus der Zeit?
Der österreichische Historiker Franz Josef Sulzer, ein guter Kenner sowohl Siebenbürgens als auch der Walachei, beschreibt den Tanz der rumänischen Männer Ende des 18. Jahrhunderts. Sechs Burschen oder „Hirten, auf ihre Stäbe [...] gelehnt“, bewegen sich im gleichen Tempo mit abgemessenen, sehr schweren Schritten, welche der Kadenz nicht zu entsprechen scheinen. Sie springen in einem Kreise langsam herum, ohne sich jemals die Hände zu geben, „wobei sie dann und wann ein seufzendes Jauchzen aus der vollen Brust ausstoßen, welches man mehr für das Brüllen eines verwundeten Bären als für ein wirkliches Jauchzen halten könnte“.
Schlendern wir weiter auf dem europäischen Tanzboden, diesmal versuchsweise im 17. Jahrhundert! Johannes Tröster (1640-1670), Gelehrter der Heiligen Theologie, Philosophie und Medizin, aus Hermannstadt in Siebenbürgen stammend, hat sich in seinem 1666 in Nürnberg publizierten Werk eingehend mit dem Tanz der Rumänen beschäftigt, den er „als schwerlich irgend in Europa“ zu finden sei, bezeichnet. Tröster zitiert Verse des berühmten Martin Opitz (1597-1639), der den Reigentanz der Rumänen, die Hora, in seinem Epos „Zlatna“ 1623 präzise in Versen beschrieb. Hier eine Kostprobe: „Wie dann ihr Tanz anzeige, / In dem so wunderbar gebückt wird und geneigt, / Gesprungen, in der Höh’, auf Art der Capriolen, / Die meine Teutschen sonst aus Frankreich müssen holen, / Bald wird ein Kreis gemacht, bald wiederum zertrennt / Bald gehn die Menschen rechts, bald auf der linken Hand.“
Nicht zu glauben und dennoch wahr, denn scripta manent – Geschriebenes bleibt: es sind seit dieser Beschreibung 402 Jahre vergangen!
Da Professor Raluca-Andreea Rădulescu, die mit einer Arbeit über Hans Bergel promovierte, das Gedicht „Zlatna“ von Opitz als „Eine postkoloniale Lektüre“ (2022) bezeichnete, ist es Zeit für uns, in die Gegenwart zurückzukehren.
Der Tanz ist stets ein Spiegel der Zeit, gleichzeitig überdauert der Tanz die Zeiten.
Der schlesische Dichter Martin Opitz nimmt in der Geschichte Siebenbürgens eine unbeabsichtigte, jedoch oft zitierte Rolle ein, als er in lateinischer Sprache in einem Brief die Siebenbürger Sachsen „aus Hermannstadt, Kronstadt und anderswo ... die deutschesten Deutschen“ bezeichnete. Dabei beabsichtigte er keinen absoluten Superlativ, sondern wollte lediglich versichern, dass es sich um echte Deutsche handelt ... nicht mehr. Trotzdem hat man ihn bewusst missverstanden ... es klang verlockend: die deutschesten Deutschen, germanissimi germanorum!
In seinem Buch „Das Motiv der Freiheit“ (1988) widerspricht Hans Bergel dieser einseitigen Deutung des Opitz-Zitates und zeichnet den Homo Transilvanus Germanicus, also den Siebenbürger Sachsen, als ein „Produkt eines historischen Wegs der tief hineinwirkenden Berührung mit Völkern und Kulturen des Südostens“. Dabei kennt er die Gefahr, in die er sich begibt: „Ich weiß“, so Bergel, „dass meine Landsleute Feststellungen dieser Art nicht gerne hören“. Kühn behauptet Bergel, dass neben dem Homo Transilvanus Germanicus gleichzeitig durch die Jahrhunderte hindurch der Homo Transilvanus Hungaricus wie der Homo Transilvanus Vlahicus ihren Weg gegangen sind. Er schlussfolgert: „Denn für alle diese Völker im siebenbürgischen Raum war der Homo Transilvanus einst die Brücke, über die sie aufeinander zugehen, das gemeinsame, in dem sie sich trotz der Spannungen und Auseinandersetzungen immer wieder treffen konnten.“ Das ist das CREDO von Hans Bergel, ein Credo des Brückenbauers, das er in unzähligen Varianten in seinen Schriften aufnimmt. Nur so kann man das Tanzen des Großvaters mit der jungen Mioara verstehen oder den Begrüßungstanz der Hirten mit dem Ich-Erzähler Bergel.
Seine Tätigkeit als Brückenbauer wurde in Siebenbürgen wohlwollend wahrgenommen. Gewürdigt wurde Bergel durch die Übersetzungen seines ersten großen Romans „Der Tanz in Ketten“ (1977) in die Landessprachen Transilvaniens relativ bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. „Dans în lanțuri“ erschien 1994 in der Übersetzung von George Guțu in rumänischer Sprache, gefolgt 1999 von der ungarischen Übersetzung durch Balogh András: Titel: „Hajdútánc vasban“.
Vergessen sollte man im Reigen der Tänzer keinesfalls den schwarzen Hererotänzer, dessen ritueller Tanz, in Verse gebannt durch Hans Bergel, ein Beweis seiner sensiblen Weitsicht ist.
Bitten wir doch auf unseren virtuellen Tanzboden den wohl bedeutendsten Tänzer der siebenbürgischen Literatur: Den Hirten Gordan. Die Grand Dame der rumänischen Literatur, Ana Blandiana, sagte in einer Podiumsdiskussion: Gordan ist eine symbolische Figur des Rumänen, geschrieben mit einem Respekt und einer Liebe und einer Bewunderung, die absolut außergewöhnlich ist. Dafür müssen die Rumänen Hans Bergel tatsächlich dankbar sein. Kann man mehr loben? ... Respekt und Bewunderung ...
Der Roman „(Der)Tanz in Ketten“ kulminiert in einer Szene, die für Bergel typisch ist, ein mit viel Können geschilderter Tanz mit gefesselten Füßen – deshalb Tanz in Ketten – eines Häftlings, eines Kraftmenschen, des Hirten Gordan. Der Tanz in Ketten ist die Kulmination des nicht zu zerbrechenden Lebenswillens der im kommunistischen Unrechtssystem eingekerkerten unschuldigen Menschen.
Dieser Tanz wird aber von einem anderen Tanz in einer anderen Geschichte (Der Teufelstriller) des Romans vorbereitet. Es ist die Geschichte des Kokosch, eines Tausendsassa. „Kokosch konnte, je nach Laune oder Bedarf, pfeifen, heulen, schnattern oder quietschen – und auch sonst manches.“ Durch seine Pfeifkünste wird es ihm möglich, andere unfreiwillig zum Tanzen zu bringen. „Glauben sie mir“, so Bergel in seinem Roman, „es vergingen keine zwanzig Sekunden, da waren die Politruks wie hypnotisiert bei uns. Erst starrten sie Kokosch sprachlos an – und dann geschah das Unglaubwürdige: mit glänzenden Augen fingen sie an, sich zu drehen, zu hüpfen, sie stießen Juchzer aus, fassten sich an den Schultern, bildeten einen Kreis und warfen die Beine; es war als hätte Kokosch sie mit einem Zauberstab berührt.“ Bergel schlussfolgert zufrieden mit der Bemerkung: „es will schon etwas heißen, wenn ein Spaßvogel die Scheusale wie Puppen zum Tanzen bringt!“
Opernkenner merken gleich, dass diese Geschichte in Anlehnung an eine Szene aus der „Zauberflöte“ von Wolfgang Amadé Mozart konstruiert wurde, war doch der Autor Bergel einige Jahre nach der Entlassung aus dem Gefängnis als Cellist im Opernorchester in Kronstadt tätig. Bergel selbst erzählt in seinem letzten Interview 2020 ausführlich über seine Zeit im Orchestergraben und das wiederholte Spielen, Abend für Abend, der Opern, die gerade im Spielplan waren. Es ist nicht verwunderlich, dass sich besondere Szenen dem Musiker über Jahre ins Gedächtnis einprägten. So auch – und es ist kein Wunder, warum gerade diese Szene – der Auftritt, in der der böse Monostatos und die Wachen sich in sanfte, singende und tanzende Wesen verwandeln, im Augenblick als Papageno sein Glockenspiel ertönen lässt. Man kann sich Bergel sichtlich vorstellen, wie er sein Cello spielte, und bei den Worten von Pamina und Papageno schmunzelte: „Könnte jeder brave Mann / Solche Glöckchen finden, / Seine Feinde würden dann / Ohne Mühe schwinden.“
Kommen wir doch auf die eingangs gestellte virtuelle Frage, auf die potenzielle Frage zurück, die bis jetzt noch niemand gestellt hat: ob Hans Bergel ein guter Tänzer war? Ja, er war ein besonderer Tänzer! Ein Seiltänzer oft ohne doppelten Boden. Ein Solitär in den dünnen Lüften. Oben, geschickt balancierend, achtete er wenig auf die unten staunenden Menschen, die sehr oft das Sicherheitsnetz, das dem Seiltänzer für alle Fälle Sicherheit zu bieten hatte, nicht genug strafften oder sogar bewusst aus den Händen legten. Zeit seines Lebens tanzte Hans Bergel seinen eigenen Tanz, seinem CREDO entsprechend, einen Seiltanz in den Lüften Europas. Die gewagten Schritte, die er dabei machte, sind von seinen Lesern, von den Kritikern, von den Deutern seiner Texte NOCH zu entdecken. WIR sind alle gefragt!
Josef Balazs
Schlagwörter: Hans Bergel, Gedenken, Vortrag
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