25. Dezember 2017

Nur die Alten sind noch geblieben - Notizen einer Siebenbürgenreise zu Weihnachten 1992

Weihnachten 1992 im siebenbürgischen Großau: Keine „große Unterhaltung“ mehr im dortigen Kulturhaus. Kein freundliches „Grüß Gott“ mehr an jeder Straßenecke für erlebnishungrige Abenteurer. Auch den stolzen Frauen in ihren Trachten und mit den langen ergrauten Zöpfen, die mich einst gern mit den Worten „Hast Du schönes langes Haar, so wie Jesus“ ansprachen, begegnete ich nicht mehr.
Kurze Zeit nach den Umbrüchen im Ostblock war auch hier auf dem Balkan fast alles anders geworden. Die nach dem blutigen Ende der Ceaușescu-Diktatur einsetzende flächendeckende Ausreisewelle der Rumäniendeutschen hinterließ unübersehbare Spuren. Eine über 800 Jahre andauernde Kulturgeschichte mit ihren Traditionen wurde über Nacht hinweggefegt. Mich trieb die Sehnsucht trotzdem wieder in diesen Landstrich. Zusammen mit meiner jetzigen Frau begann 1992 die Spurensuche. Mit unserem uralten gelben Ford Fiesta verlief der Ausflug bis zur ungarisch-rumänischen Grenze relativ zügig. Aber spätestens an diesem Kontrollpunkt wurde klar, dass die so genannte rumänische Dezemberrevolution von 1989 als Palastrevolte einzuordnen ist. Zwar besiegelte dieser Aufstand das Ende Ceaușescus, aber ansonsten rettete sich der bisherige Machtapparat problemlos in die neue Zeit. Die Zöllner schikanierten beispielsweise Touristen wie eh und je.
Weihnachten 1992: auf dem Großen Ring in ...
Weihnachten 1992: auf dem Großen Ring in Hermannstadt erinnert dieses Denkmal an die gefallenen dieser Stadt während der Dezember-Revolution 1989 in Rumänien. Foto: Roland Barwinsky
Kurz hinter der Einreiseschranke verlangte die Vernunft, den bisherigen Fahrstil zu ändern. Denn auch die katastrophalen Straßenverhältnisse blieben nach der vermeintlichen Einführung der Demokratie in Transsilvanien erst einmal unangetastet.

Nachts kamen wir in Hermannstadt an und verbrachten dort Heiligabend. Im Gegensatz zu 1987 füllte sich die Kirche beim abendlichen Gottesdienst am 24. Dezember leider nur noch halb. Am 1. Feiertag ging es von dieser Metropole aus weiter nach Großau. Ein Ausflug, der zunächst mit Pannen begann. Da es seinerzeit im ganzen Land noch immer kaum Tankstellen gab, musste irgendwie Benzin von Privatpersonen besorgt werden. Die auf diese Art organisierte Ware erwies sich leider als wenig resistent gegen die gerade herrschenden Minustemperaturen. Der Sprit wurde mit Wasser gepanscht und gefror so buchstäblich über Nacht aufgrund der von den Karpaten über ganz Siebenbürgen gezogenen eisigen Kälte. Bei der Ankunft in dem rund zehn Kilometer entfernten Dorf begegneten uns vor der dortigen evangelischen Kirchenburg zwei dunkel gekleidete, warm eingehüllte Frauen. Katharina Holzinger und Elise Schulte kamen soeben vom Gottesdienst. Elise Schulte lud uns an diesem bitterkalten Dezembertag zu sich nach Hause ein. Dort wartete schon ihr Sohn Franz. Ich selbst kannte ihn von meinen vielen Reisen vor 1989, die in mir noch recht lebendig sind.

Bei einer der zahlreichen Touren zu jener Zeit in dieses Land drangen urplötzlich treibende Rhythmen an unsere Ohren. Kumpel Theo und ich bekamen schnell heraus, worum es sich dabei handelte. Ganz in der Nähe wurde gerade eine Hochzeit zelebriert. Unsere Gastgeber sprachen von einem rumänischen Fest, zu dem keine „Sachsen“ hingehen. Die Deutschen vermählten sich nämlich zumeist untereinander, was besonders innerhalb der festgefügten Dorfgemeinschaften auf dem Lande als eisernes Gesetz angesehen wurde. Wir akzeptierten natürlich diese gewachsene Tradition. Trotzdem obsiegte bei dem Duo aus der DDR die Lust auf Abenteuer. Schon wenige Minuten später standen zwei Reisende aus der Ferne vor dem Hochzeitsgebäude, wurden sofort hereingewunken und an den Tisch des glücklichen Brautpaares gebeten. Bei diesem Ball bot sich Franz schnell als Dolmetscher an. Er war entgegen der üblichen Norm mit einer Rumänin verheiratet. Außerdem bezeichnete er sich nicht als „Siebenbürger Sachse“, sondern als „Landler“. Landler sind Protestanten, die im 18. Jahrhundert aus Bad Goisern in Österreich nach Siebenbürgen zwangsumgesiedelt wurden. Sie lebten dort in drei Dörfern. Ein Zielort der so genannten Transmigration aus dem Salzkammergut war Großau.
Die Aufnahme entstand 2009 und zeigt die ...
Die Aufnahme entstand 2009 und zeigt die Burghüterin im burzenländischen Marienburg. Foto: Roland Barwinsky
Zurück zur Hochzeitsparty. Irgendwann im Morgengrauen ging dieses riesige Fest mit mehreren hundert Personen zu Ende. Und der durch viel Wein erzeugte Nebel in unseren Köpfen verzog sich später ebenfalls. Franz ging 1990 über die noch existente DDR in den Westen und holte später Frau und Kinder nach. An diesem Nachwende-Weihnachtstag berichtete er uns von dem großen Auszug aus seinem Dorf nach dem Ende des sozialistischen Experiments in seiner Heimat.

Am 2. Weihnachtsfeiertag fuhr ich nach Michelsberg – ein mir recht vertrautes sächsisches Bilderbuchdorf bei Hermannstadt. Maria Klöss, damals 80 Jahre alt, öffnete uns an dem glasklaren Wintertag die Tür. In ihrer Küche berichtete sie nicht nur über den eher traurigen Zustand in dieser Gemeinde, sondern auch über weit zurückliegende Ereignisse ihres Lebens. Wie tausende andere Rumäniendeutsche wurde sie im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die damalige Sowjetunion verschleppt. Durch den Roman „Atemschaukel“ von Herta Müller wurde diese Zeit wieder ins Bewusstsein gerückt. Die Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2009 stammt aus Nitzkydorf im rumänischen Banat und setzte den seinerzeitigen Zwangsarbeitern damit ein viel beachtetes Denkmal.

Roland Barwinsky


Der Autor, 1963 in Sachsen-Anhalt geboren, trampt seit den achtziger Jahren regelmäßig durch Rumänien. Seit Anfang der 1990er Jahre schreibt er regelmäßig für mehrere Tageszeitungen. "Nur die Alten sind noch geblieben - Notizen einer Siebenbürgenreise zu Weihnachten 1992" ist gewissermaßen die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte "Am Fuße der Karpaten" von Roland Barwinksky, die in der SbZ Online vom 26. Dezember 2016 erschienen ist und bislang knapp 5.000 Mal gelesen wurde.

Schlagwörter: Weihnachten, Erinnerungen, Barwinsky

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