7. April 2025
Kleiner Napoleon im Federkleid/Erzählung von Annemarie Roth
Annemarie Roth, geboren 1958 in Marienburg bei Schäßburg, begann während der Coronazeit Erzählungen zu schreiben, die in Siebenbürgen spielen und eine Mischung aus realen Begebenheiten und Fiktion sind. In der SbZ Online wurden bisher sechs ihrer Erzählungen veröffentlicht.

Einer dieser Wege führt mich nun, seit einem Jahr etwa, an freilaufenden Hühnern vom Biobauern vorbei. Oft bleibe ich an der Umzäunung stehen und betrachte sie oder, wenn ich alleine bin, rufe ich sie, so wie ich es in der Kindheit mit unseren getan habe, mit einem „tschip, tschip, tschip“ in unterschiedlichen Tonlagen. Sie kennen mich inzwischen und teilen sich mir gackernd mit, indem sie näherkommen.
Neulich habe ich die Jungbäuerin gefragt, wie sie denn die Hühner ruft, ohne ihr von meinem „tschip, tschip, tschip“ zu erzählen. Ich Alte wollte ja nicht wunderlich erscheinen. Sie sagte, sie würde „hello, chicks“ rufen. Ich war konsterniert. Sollte ich lachen oder weinen? Mein erster Gedanke war: „Oje, deutsche Biohühner verstehen kein Deutsch mehr. Sogar Hühner müssen sich mit Anglizismen rumschlagen. Was für ein Graus“. Na ja, es ist eine junge, naturbewusste, ökologische, offensichtlich englisch-affine Jungbäuerin. Da kann ich mit meinem „tschip“ nicht mithalten. Wahrscheinlich langweilig für sie, auch wenn die Hühner es wahrscheinlich mögen. Hauptsache, den letzteren geht es gut, ob mit altmodischer singsangverspielter Tschip-Ansprache oder neumodisch grün-alternativ angehauchter.
Diese Hühner nun haben mich auf eine längst vergessene Geschichte gebracht.
Ich kam schon als Dreijährige in die erfreuliche Lage, zwischen Hühnern zu stehen und sie zu füttern. Mein Vater war als Buchhalter im Büro einer staatseigenen Hühnerfarm beschäftigt und nahm mich oft mit. Während er im Büro saß, schleppten mich zwei Frauen, Ariana und Mimi, beide mit ausgeprägtem Mutterinstinkt, mit und ließen mich zwischen dem Hühnervolk nach Herzenslust herumtollen. Das „tschip, tschip, tschip“ schnappte ich damals von ihnen auf. Also, ich lernte schon als Kind mit Hühnern umzugehen und mochte sie.
Eines Tages brachte meine Mutter einen Zwerghahn und eine Zwerghenne mit. Nicht weil wir sie gebraucht hätten, sondern weil eine Bekannte sie ihr angeboten hatte und sie sie so schön fand. Sie waren nur halb so groß wie die anderen Hühner, wenn überhaupt, und wirklich prachtvolle Exemplare. Der Hahn vor allem mit seinem schillernden bunten Federkleid und seinem feuerrot leuchtenden Kamm. Wir befürchteten, dass unsere alten Hühner das neue Pärchen nicht annehmen würden, aber so mutig wie der kleine Zwerghahn in die Menge hineinmarschierte und sich aufplusterte, würden wir uns wohl keine Sorgen machen müssen.
Diese Position, die er sich von Anfang an schuf, sollte erhalten bleiben, ja er sollte sogar übermütig und äußerst dominant werden. Er wuchs sich zu einem kleinen Napoleon aus. Sein Verhalten, kämpferisch, arrogant und siegessicher, bekam ihm langfristig nicht gut.
Um in den Garten zu gehen oder in die Ställe, mussten wir den Hühnerhof durchqueren, über diesem Hof befand sich das Scheunendach mit seinem freistehenden Gebälk.
Eines Nachmittags hatte ich kaum ein paar Schritte in den Hühnerhof gemacht, als mir von oben etwas auf den Kopf flog. Unser kleiner, wohl an Größenwahn leidender Zwerghahn landete auf meinen Schultern, schlug mich mit den Flügeln und hackte mit seinem spitzen Schnabel auf mich ein. Trotz des Schrecks und der Schmerzen schlug ich nach ihm, bekam ihn zu packen und schleuderte ihn von mir.
Obwohl er über den Boden schrammte und ein gutes Stück von mir weg erst benommen liegen blieb, stellte er sich schnell wieder auf die Beine und ging zu einer erneuten Attacke über. Er rannte wie wild auf mich zu und bearbeitete diesmal meine nackten Beine. Jetzt trat ich nach ihm und er flog in einem hohen Bogen bis in die äußerste Ecke des kleinen Hofes. Ich trat schnell die Flucht an und schloss das Türchen zum Hühnerhof hinter mir zu. Erbost und außer sich rannte er flatternd in meine Richtung und flog einige Male gegen den Zaun, bis er endlich begriff, dass ich außer Reichweite war. Ich blutete an der Stirn und an den Beinen, wurde von meiner Großmutter verarztet und getröstet, da ich, obgleich siegreich – wenn auch mit Blessuren – aus dem Zusammenstoß hervorgegangen, aufgeregt heulte.
Jetzt war er nicht mehr nur ein kleiner aufgeblasener Macker, unser Zwerghahn, was wir bisher ganz amüsant fanden, sondern er wuchs sich zu einer Gefahr für uns aus, wenn auch zu einer kleinen.
Um uns gegen erneute Angriffe zu wappnen, riet uns Mutter, uns einen Besen zur Hand zu nehmen, und sollte er wieder zum Angriff übergehen, ihn uns damit vom Leib zu halten. Natürlich mussten wir in erster Linie nach oben schauen, da sein erster Angriff aus dem Gebälk der Scheune erfolgte.
Leider blieb er bei dieser Taktik. Er hockte irgendwo oben auf den Balken und sobald einer von uns den Hühnerhof betrat, flog er von da oben auf ihn, um ihn zu malträtieren. Meist gelang es uns dank des Besens ihn wegzufegen oder von uns fernzuhalten, da er, solange man im Hof war, nicht von einem abließ und einen immer umkreiste, indem er dem Besen auszuweichen trachtete.
Dass dies kein haltbarer Zustand war, ist einleuchtend. So konnte es nicht weitergehen, den Hühnerhof immer mit dem Besen bewaffnet und mit einer Attacke rechnend zu betreten.
Wir rätselten, was mit ihm zu geschehen sei. Den ganzen Tag einsperren wollten wir ihn nicht, auch wenn wir das eine Zeit lang versuchten. Er änderte auch nach dieser Inhaftnahme sein Verhalten nicht. Was tun? Er war doch so schön anzusehen. Wir waren enttäuscht und traurig. Seine Schönheit konnte aber seine kämpferische Boshaftigkeit nicht überbieten. Die Entscheidung, die zu fällen war hinsichtlich seines Schicksals, zögerten wir hinaus, da wir alle wussten, wo er letztendlich landen würde, nämlich in der Bratpfanne.
Unser Zwergkampfhahn, denn so empfanden wir ihn inzwischen, hätte noch länger leben können, wenn er sich nicht noch einen kuriosen Zwischenfall geleistet hätte. Das setzte dem Ganzen dann die Krone auf.
Tagsüber waren im Hochsommer bei uns die Fensterläden zu, um die Gluthitze draußen zu halten. Kühlte es in der Dämmerung ab, öffneten wir Fensterläden, Fenster und Türen, damit im Durchzug die Räume auskühlen konnten.
Wir saßen an einem Abend auf dem Bänkchen vor dem Haus und genossen die aufkommende Frische des Abends. Plötzlich schepperte es laut aus der guten vorderen Stube, unser großer Spiegel war zu Bruch gegangen. Alle sprangen in heller Aufregung auf und waren im Nu im Haus und in der Stube. Vor den Scherben des Spiegels stand benommen und blutend unser Zwergkampfhahn, so mitgenommen von dem Kampf mit dem fiktiven Gegner im Spiegel, dass er uns weder angriff noch floh. Den Kontrahenten im Spiegel hatte er nicht besiegen können.
Das Ende vom Lied war der zu Bruch gegangene teure Spiegel, ein verletzter Hahn und eine aufgebrachte wild durcheinander diskutierende Familie. Wie der Hahn es aus dem Hühnerhof hierher geschafft hatte, konnte sich keiner erklären.
So wie er dastand, tat er mir leid. Sein Übermut und sein großes napoleonisches Ego wurden ihm zum Verhängnis. Kleiner Mann, eher kleiner Hahn ganz groß! Leider. An diesem Abend konnte ich ihn sogar auf dem Arm in den Stall tragen und ihm das Blut vom Kamm abwischen.
Ich redete ihm ins Gewissen, da ja sonst sein letztes Stündlein schlagen würde. Ob er in diesem Moment etwas begriffen hatte? Er war zahm und anlehnungsbedürftig. Na ja, schließlich hatte er auch eine äußerst schwere Schlacht verloren.
Der Familienrat beschloss beim Abendessen, nach einem hitzigen und intensiven Austausch von Argumenten, unseren Zwerghahn zu opfern. Sein Schicksal schien besiegelt.
In der Nacht schlief ich schlecht und träumte von unserem kleinen Hahn, den ich im Traum wie bei Witwe Bolte an einer Leine erhängt sah. Grauenvolles Bild!
Nachdem ich ihn am Abend so verletzt und zahm erlebt hatte, konnte und wollte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass sein womöglich letzter Tag angebrochen war. Ich bekniete meine Eltern, ihm noch etwas Zeit zu schenken. Vielleicht würde er ja seine Kampfeslust verloren haben nach der schwierigen Niederlage gegen den Spiegelfeind. Ich bot mich auch als Versuchsobjekt an.
Tatsächlich konnte ich den Hühnerhof betreten, ohne dass er mich angriff. Er hockte oben im Gebälk und sah teilnahmslos auf mich herab, egal wie oft ich das Prozedere wiederholte. Ich jubelte. Es war geschafft. Er würde leben.
Aber nein, so sollte es nicht sein. Am späten Nachmittag dann hörte ich Gefluche und Geflatter aus dem Hühnerhof. Der Großvater war diesmal das Opfer. Es ging gerade so weiter. Jeder, der den Hof betrat, wurde systematisch nach demselben Schema feindlich bestürmt, nur ich nicht.
Ich war trotz der allgemeinen Misere ergriffen. Es musste an dem Abend des härtesten Kampfes seines Lebens gegen den Spiegelhahn und der liebevollen Behandlung meinerseits im Herzen unseres rabiaten Zwerghahns eine innige Zuneigung zu mir entstanden sein. Wahrscheinlich war er selbst auch ganz verwirrt dadurch. Allerdings stark genug war dieses Gefühl nicht, um sein kriegerisches Ansinnen zu unterdrücken.
„Jeder übermütige Sieger arbeitet an seinem Untergang“, sagte Jean de la Fontaine.
Es nützte alles nichts. Unser schmucker Zwerghahn ging unter, selbstverschuldet. Ich weinte bitterlich.
Eine seiner bunten Federn legte ich in mein Tagebuch.
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Schlagwörter: Erzählung, Erinnerungen, Literatur
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