5. Juni 2018

"Was einer alleine nicht schafft, schaffen viele": Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen vor 200 Jahren geboren

Vor 200 Jahren, am 30. März 1818, wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der Begründer des modernen Genossenschaftswesens, in Hamm an der Sieg geboren. Seine Ideen erreichten 1885 in Siebenbürgen erstmals auch das Ausland. Kein Geringerer als der bedeutende Volkswirt Carl Wolff profilierte sich als der „Raiffeisen Siebenbürgens“.
Im Jahre 1818 wurden innerhalb weniger Wochen im preußischen Rheinland zwei der bedeutendsten Sozialreformer der Weltgeschichte geboren, am 30. März Friedrich Wilhelm Raiffeisen in Hamm an der Sieg und am 5. Mai in Trier Karl Marx, der Autor des kommunistischen Manifests. Während die Ideen von Karl Marx fast 100 Jahren brauchten, um 1917 in der Oktoberrevolution in Russland erstmals in die Praxis umgesetzt zu werden, ließ sich Raiffeisen nicht so lange Zeit und vor allem war er selber der Mann der Tat. Die Not, auf die er eine Antwort geben wollte, und sein fester christlicher Glaube, dem er sich zeitlebens verpflichtet fühlte, ließen ihm auch keine Zeit. Schon zu seinen Lebzeiten und vermittels seiner Inspiration erlebte das Genossenschaftswesen, das es in Vorformen bereits seit dem alten Ägypten und im Römischen Reich gab, aber das durch die Zünfte des Mittelalters verdrängt worden war, infolge der industriellen Revolution eine weltweite Renaissance.

Aus der Not eine Tugend machen

Am 30. März 1818 wurde Raiffeisen als siebtes von neun Kindern in Hamm an der Sieg im Westerwald geboren, seine Vorfahren stammten jedoch aus Schwäbisch Hall. Seine Kindheit war von Geldnöten geprägt, Gymnasial- und Hochschulbesuch waren nicht finanzierbar. Er meldete sich mit 17 freiwillig zum Militär. Der Aufstand der schlesischen Weber von 1844 gegen ihre ­katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen und die blutige Niederschlagung des Aufstandes wurden zum Fanal des sozialreformerischen Aufbruchs unter Raiffeisen. Ab 1845, mit 28 Jahren, ging Raiffeisen aktiv gegen die Armut der Landbevölkerung vor, die er am eigenen Leibe erlebte. Nach acht Jahren Militärdienst, den er wegen eines Augenleidens verlassen musste, und erfolgreicher Verwaltungstätigkeit wurde er 1845 Bürgermeister in Weyerbusch im Westerwald. Bereits dort initiierte er einen Schulbau und setzte sich für den Bau einer Straße an den Rhein ein, um den Absatz von Agrarprodukten zu erleichtern. Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung sollten ab sofort sein Leben und seine Arbeit prägen.
Der Raiffeisen Siebenbürgens: Dr. Carl Wolff, ...
Der Raiffeisen Siebenbürgens: Dr. Carl Wolff, gemalt von Trude Schullerus 1940 (derzeit im Alten- und Pflegeheim „Dr. Carl Wolff“ Hermannstadt). Die Gründung von Raiffeisengenossenschaften 1885 in Siebenbürgen geht auf den auch sozialreformerisch aufgeschlossenen Volkswirt Dr. Carl Wolff zurück. Ihre Organisation wurde von der Sparkassa getragen. 1892 gründete Wolff zusammen mit dem Buchdrucker Wilhelm Krafft auch den Verband der Raiffeisengenossenschaften (Raiffeisenverband), in dessen Leitung Krafft bis zu seinem Tod 1908 tätig war. Foto: Konrad Klein
Die Ausbrüche von Vulkanen in Asien und im Pazifik führten Mitte des 19. Jahrhunderts auch zu Klimaveränderungen in Mitteleuropa. Im Westerwald fiel im August 1846 Schnee, es kam zu Missernten, Krankheiten wie die Kartoffelfäule ließen zusätzlich die Lebensmittelpreise explodieren. Raiffeisen gründete daraufhin den „Weyerbuscher Brodverein“ – anfänglich zur Verteilung von Lebensmitteln, dann für den gemeinsamen Bezug von Saatgut und Kartoffeln. Das bald darauf errichtete Gemeindebackhaus war seine erste genossenschaftsähnliche Einrichtung. 1848 wurde Raiffeisen, auch angesichts dieser Leistungen, Bürgermeister von Flammersfeld. Im gleichen Jahr noch gründete er den „Flammersfelder Hülfsvereins zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“, den ersten Verein in Deutschland mit Solidarhaftung. Die von Raiffeisen 1862 gegründeten Darlehnskassenvereine in Anhausen, Engers und Heddesdorf verpflichteten die Kreditnehmer erstmals zur Mitgliedschaft und gelten daher als erste Genossenschaften im Raiffeisenschen Sinne. Als Geburtshelfer an der Seite von Raiffeisen fungierte der Landwirtschaftliche Verein für Rheinpreußen. 1864 wechselte Raiffeisen als Bürgermeister nach Heddesdorf. Bereits 1866 trat Raiffeisen aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand. Er widmete sich erst jetzt der theoretischen Aufarbeitung seiner praktischen Erfolge. Mit wesentlicher Unterstützung seiner Tochter Amalie veröffentlichte er sein Buch „Die Darlehnskassenvereine als Mittel zur Abhülfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“. Das Buch wurde ein Erfolg. Vier Jahre später existieren in der preußischen Rheinprovinz bereits 75 solcher Darlehnskassenvereine. Neben den Kassenvereinen thematisierte das Buch auch andere Genossenschaftsarten wie Konsum-, Verkaufs-, Winzer-, Molkerei- und Viehversicherungsgenossenschaften. 1872 gründet Raiffeisen die Rheinische Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank. Damit schuf der Sozialreformer nicht nur Modelle zur finanziellen Unterstützung unbemittelter Landwirte, sondern schuf auch die Grundlagen zur Gründung von landwirtschaftlichen Einkaufsgenossenschaften zum günstigen Einkauf von Saatgut und Düngemittel.

Mit dem „Grünen Kredit“ konnten Landwirte Saatgut und Dünger mit der späteren Ernte bezahlen. Die gemeinsame Erntevermarktung und die örtlich verwalteten Spar- und Darlehenskassen wurden in vielen Dörfern Deutschlands entsprechend seinen Vorgaben eingeführt. Mindestens sieben Landwirte waren erforderlich, um Genossenschaften zum Einkauf oder Vertrieb zu gründen. Um wirkungsvoll verhandeln zu können und dadurch preisgünstig Saatgut und Dünger einzukaufen, sah die Genossenschaftssatzung zunächst eine unbeschränkte Haftung mit dem gesamten Vermögen der Mitglieder vor. Dies änderte sich nach der ersten Erfolgsphase, als die Garantien auf die Vermögen der Vorstandsmitglieder und nach Ansparung von Genossenschaftsvermögen auf dieses gemeinsame Vermögen beschränkt wurden. Der Leitspruch: „Einer für alle, alle für einen“ wurde für die landwirtschaftlichen Genossenschaften die Basis des Handels, ebenso wie der Name des Gründers „Raiffeisen“ eine weltweite Marke wurde. Mit der Gründung der Landwirtschaftlichen Zentralkasse für Deutschland 1876 und des „Anwaltschaftsverbandes ländlicher Genossenschaften“ ein Jahr später entstehen zentrale Einrichtungen für Spar- und Darlehnskassenvereine auf nationaler Ebene.

Raiffeisen sollte für seine Verdienste beim Aufbau des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens die Ehrendoktorwürde der Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn erhalten. Kurz vor der Auszeichnung starb er jedoch am 11. März 1888 in Heddesdorf im Alter von 69 Jahren. Seine enge Westerwald-Heimat hat er nie verlassen. Vier Jahre vor seinem Tod hatte Kaiser Wilhelm I. ihn zum Ritter des Roten Adlerordens ernannt.

Raiffeisens Modell reüssierte in Siebenbürgen

Raiffeisens Modell erlebte noch zu seinen Lebenszeiten eine Ausdehnung auf andere Länder. Vor allem unter den Auslandsdeutschen sollten die Ideen von Raiffeisen einen Durchbruch erleben und neben der wirtschaftlichen Konsolidierung auch zur Stärkung des Zusammenhalts dieser nationalen Minderheiten beitragen. Als erstes übernahmen die Siebenbürger Sachsen im Karpatenbogen im damaligen Österreich-Ungarn 1885 seine Ideen. Elemente des Genossenschaftswesens gab es schon in den Freiheitsrechten der Siebenbürger Einwanderer aus Westeuropa. Österreich hatte bereits 1873 ein Genossenschaftsgesetz verabschiedet, das sich am deutschen Gesetzt von 1868 orientierte. Der „Raiffeisen Siebenbürgens“ war der Volkswirt Carl Wolff (1849-1929) aus Schäßburg, der Modernisierer der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft. Nach seinem Studium in Wien und Heidelberg gründete er 1874 das „Siebenbürgisch-Deutsche Tagesblatt“. Er gründete 1885 in den Landgemeinden Frauendorf, Arbegen und Großscheuern nach sorgfältiger Vorbereitung der Statuten und der Geschäftsbücher Spar- und Vorschussvereine nach dem Raiffeisenschen System. Bereits ein Jahr später konnte ein Verband mit acht Genossenschaften gegründet werden, dessen Mitglieder gegen Solidarhaftung Kredite von der Hermannstädter Sparkassa erhalten konnten und die von dort auch technische Unterstützung erhielten.

Nicht nur bei der Gründung, auch bei den laufenden Verbandsangelegenheiten war Carl Wolff eine Schlüsselfigur, denn einerseits war er der Vorstand des Genossenschaftsverbandes, andererseits war er seit 1886 Direktor der Hermannstädter allgemeinen Sparkassa, die nun zum zentralen Kreditinstitut des siebenbürgischen Genossenschaftswesens wurde. Bis 1927 wuchs die Zahl der Verbandsmitglieder von den ursprünglich acht Mitgliedern auf 185, die erfassten Einzelmitglieder von 349 auf fast 20000. Insgesamt bestanden Ende der 1920er Jahre in 140 Orten Siebenbürgens Raiffeisengenossenschaften, bei denen aber der Prozentsatz der Mitgliedschaft beträchtlich schwankte. Neben den klassischen genossenschaftlichen Vorschussvereinen sollte es nach Raiffeisenscher Konzeption auch weitere genossenschaftliche Folgegründungen geben, wie Molkereigenossenschaften und Winzervereine. Auch in dieser Hinsicht hat sich Carl Wolff intensiv bemüht.
Raiffeisenhaus in Hermannstadt, Basteigasse ...
Raiffeisenhaus in Hermannstadt, Basteigasse 12/Dreieichenstr. 5, Anfang 1980er Jahre.Sein Leiter war von 1927 bis1942 Pfarrer Misch Bergleiter, der hier 1927 die erste deutsche Bauernhochschule Siebenbürgens ins Leben rief. Das Haus diente als Tagungsstätte und Herberge für Jugendliche, die an Lehrgängen der Raiffeisengenossenschaft teilnahmen, 1941-43 firmierte hier auch eine Deutsche Sekretärinnenschule. 1927-31 wohnte im Gebäude auch der Schriftsteller Erwin Wittstock. Nach 1947 wurden die Räume vom Klub der Eisenbahner genutzt. 1985 musste das Haus modernen Plattenbauten weichen. Foto: Hermann Balthes, Bildtexte: Konrad Klein
Kurz nach Siebenbürgen erreichten die Ideen Raiffeisens mit Chile erstmals auch einen anderen Kontinent. Vorreiter in Südamerika wurde jedoch Brasilien, wo unter den dortigen deutschsprachigen Einwanderern, die von der Regierung vollkommen sich selbst überlassen waren, das Genossenschaftsmodell zu einem Erfolgsrezept wurde. Die Deutschen wurden zum Wirtschaftsmotor ganz Brasiliens. Brasilien hat vor einigen Jahren als erstes Land sogar einen eigenen Gedenktag für das Genossenschaftswesen eingeführt. Allerdings waren es als erstes die katholischen Jesuiten, allen voran der Schweizer Theodor Amstad (1851-1938), die das Lebenswerk des evangelisch-pietistischen Sozialreformers in Brasilien übernahmen und weiterentwickelten. Heute liegt der Schwerpunkt des Erbes von Raiffeisen in der sogenannten Dritten Welt, die mit seinem Modell eine Möglichkeit erhielt, der Not in ihren Ländern entgegenzuwirken, und zugleich auch – unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ – ein belastbares Wirtschaftsmodell mit Zukunftscharakter.

Während der Marxismus als Modell zusammengebrochen ist, hat Raiffeisens Werk, das nicht nur auf den Bankensektor allein bezogen verstanden werden kann, als Genossenschaftsmodell auch heute noch eine Zukunft vor sich. Dort, wo das Gemeinwohl wirtschaftlichen Handelns und nicht der Eigennutz im Mittelpunkt steht, ist Raiffeisen nicht fern. Derzeit sind in über 90000 Genossenschaften fast eine Milliarde Menschen weltweit unter dem Modell von Friedrich Wilhelm Raiffeisen zusammengeschlossen. Ein eigenes Festjahr wird im Westerwald dem großen Sozialreformer gewidmet; zudem ist die evangelische Kirche, ein Jahr nach Luther, dabei, auch dem großen Sozialreformer aus den eigenen Reihen den ihm zustehenden Platz einzuräumen.

Bodo Bost

Zum Autor: Bodo Bost (61), Diplomtheologe, seit 19 Jahren beim Erzbistum Luxemburg tätig, zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Erwachsenenbildung am kircheneigenen Institut "Luxembourg School of Religion and Society" (LSRS), Centre Jean XXIII. Das Thema "Marx und Raiffeissen" ist eines der Jahresthemen 2018 an diesem Institut. Bodo Bosts Frau stammt aus Rumänien, so dass er immer wieder Urlaub in Siebenbürgen macht, wie kürzlich zu Ostern.

Schlagwörter: Banken, Wirtschaft, Carl Wolff

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