8. November 2022

Be(R)geisterung: Ein wichtiges Buch über den Bergtourismus in den Karpaten

1880 wurde in Hermannstadt nach dem Vorbild des Deutschen Alpenvereins der Siebenbürgische Karpatenverein (SKV) gegründet, der sich zum Ziel setzte, die damals unbekannte Welt der Berge zu erschließen. Bis zum Jahr 1945, als er verboten und enteignet wurde, hatte der SKV den Tourismus in den Karpaten erheblich entwickelt. Darüber hinaus war er zum festen Bestandteil der siebenbürgisch-sächsischen Identität geworden.
Der Kommunismus entwickelte das Wandern mit Hilfe verschiedener staatlicher Institutionen, in denen auch viele Sachsen Mitglied werden konnten, zum Massensport. 1986 wurde nach dem Vorbild des ehemaligen SKV eine Sektion Karpaten des Deutschen Alpenvereins von in der Bundesrepublik lebenden Sachsen gegründet. Der SKV wurde 1996 in Hermannstadt wieder ins Leben gerufen. Er forderte Enteignungsentschädigungen und die Rückgabe der noch stehenden Hütten. Restituiert wurde bis jetzt die Julius-Römer-Hütte auf dem Schuler bei Kronstadt.

Das schöne Buch „140 Jahre SKV und seine Nachfolgevereine“ wurde von Manfred Kravatzky (über den SKV bzw. den Bergtourismus nach 1945), Reinhold Kraus (über die Sektion Karpaten im DAV) und Marcel Sofariu (über den in Rumänien wiedergegründeten SKV) geschrieben. Ziel der Autoren war es, einen Weg auch im übertragenen Sinne zu finden, der aus Verdrehungen, halben Wahrheiten und ganzen Mythologisierungen hinausführen soll, wie sie am Beispiel von Mălăieşti und der Hohen Rinne deutlich werden: kein Wort über den SKV in den aufgeführten Zitaten aus rumänischen Publikationen. Der Nationalkommunismus rumänisierte nicht nur die Geschichte, sondern auch die Wege. Die sächsischen Hütten, Karten und Wegmarkierungen sollten in Vergessenheit geraten, zumindest ihr sächsischer Ursprung. Denn die in den eigenen Grenzen eingesperrte Bevölkerung brauchte Ablenkung und was nunmehr Haupttourismusziel geworden war, durfte keineswegs mit einer deutschen Minderheit in Verbindung gebracht werden. Der vorliegende Band will demgegenüber „die Bedingungen dafür schaffen, dass einer breiten Öffentlichkeit die wahre Geschichte des Bergtourismus wieder zugänglich gemacht wird“, schreibt Kravatzky. Und das gelingt den Autoren auch auf glänzende Weise.

Nach einer kurzen Geschichte des Bergsteigens und einem historischen Abriss Siebenbürgens wird von der Gründung des SKV berichtet. Von Anfang an gehören Damen in schwerer Krinoline dazu – mit der Zeit werden sie immer sportlicher. Bald ist die Mitgliedschaft ein Muss für das ganze Bildungsbürgertum und später wird sie es auch für den mittleren städtischen Stand. Der Verein erreicht 1925 eine Mitgliederzahl von 6050, was für eine Minderheit von weniger als 250000 Menschen beachtlich ist. Die Sektion Hermannstadt hat im Jahre 1930 sogar stolze 2000 Mitglieder, die Sektion Mediasch 197. Bis 1944 erscheinen 56 Jahrbücher, die mit den Publikationen von Bergvereinen europa- und zum Teil weltweit ausgetauscht werden. 58 Hütten werden gebaut, Bergführer werden ausgebildet und patentiert, erste Formen der Bergrettung, die heute als Vorläufer von Salvamont angesehen werden, entstehen schon in den 1920er Jahren. Ein Netz von über 1000 Kilometer Wanderwegen wird gerodet und markiert.

Es werden Höhenkurhäuser gebaut, wie jenes auf der Hohen Rinne 1894; es erscheinen Karten mit den deutschen Orts- und Gebirgsnamen – keine Selbstverständlichkeit angesichts der Magyarisierungpolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert und der Rumänisierung nach 1920. Wo hätten die Sachsen sonst ihre Karten herausgeben sollen? (siehe ROTH Catherine, 2022, „Naturaliser la montagne? Le Club Carpatique Transylvain, XIXe-XXIe siècle“, Rennes, Presses Universitaires de Rennes).

Nach dem Krieg wird der Bergtourismus in Vereinen wie Amicii munţilor praktiziert und durch staatliche Strukturen, insbesondere die „Rumänische Föderation für Tourismus und Alpinismus“ (Federaţia Română de Turism-Alpinism) und das „Tourismus-Büro für die Jugend“ (Biroul der Turism pentru Tineret – BTT) „betreut“, aber auch die deutschen Abteilungen an den Lyzeen, wie die Gymnasien nun genannt werden, halten die Tradition von Winter- und Sommerlagern aufrecht. Der Leser staunt, wenn er in dem Buch von absichtlich ungenauen Karten liest oder der Verpflichtung, dass jeder Wanderer bei seiner Rückkehr einen Routenplan (foaie de itinerar) abgeben muss. Manch einer wird Freunde auf den Fotos wiedererkennen, wie A. Phips (Kurt Philippi) oder Alfred Soos mit dem Spitznamen Papschi, sowie Richard Schuller genannt Schucki, der 1977 zu den Opfern der Bulea-Lawine gehörte.

Der dritte Teil des Buches ist der Vielfalt der in der Sektion Karpaten des DAV angebotenen Bergsportarten gewidmet, von Ski- und Mountainbike-Touren bis hin zum Eisklettern, von den Ausbildungsangeboten und den Besteigungen ohne Grenzen – diesmal in den Bergen der Welt, vom Mont Blanc bis zum Ortler über des Cho Oyu mit seinen 8200 Metern. Die sehr aktive Sektion des DAV hat seit ihrer Geburtsstunde ein kleines Extra – es wird oft Vişinata, einen Sauerkirschenlikör, auf dem Gipfel getrunken. Darüber hinaus entfaltet die Sektion Karpaten eine rege mediale Aktivität zu siebenbürgischen Themen. Beeindruckender Weise wächst die Mitgliederzahl: von 300 im Jahr 1996 ist sie 2019 auf 720 angewachsen.

Seinerseits hat der in Rumänien wiederbelebte SKV auch schon mehrere Phasen der Entwicklung hinter sich, darunter in den letzten Jahren eine starke Zunahme der rumänischen Mitgliederzahl und der sportlichen Aktivitäten, die jetzt vergleichbar sind mit jenen aller großen Bergvereine. Auch Schulausflüge sind wieder an der Tagesordnung und Wettkämpfe nach jetzt internationalen Standards. Ökologisches Denken entwickelt sich u.a. durch Müllsammlungen, man erfährt auch von den neuen, genauen und ästhetischen Wanderkarten, sowie von der Markierung der Wege und von vielen anderen ehrgeizigen Projekten. Erwähnt seien nur die Via Carpatica, ein Fernwanderweg, der durch die Slowakei, Tschechien, Polen, Rumänien und hoffentlich bald auch durch die Ukraine führen soll, und Eurorando, ein Ereignis, das alle fünf Jahre Tausende von Menschen zusammenführt. 2021-22 findet Eurorando in Hermannstadt und Umgebung statt. So entdecken Alpinisten aus ganz Europa, dass die Karpaten trotz ihrer bescheidenen 2500 Meter eine wunderbare Vielfalt an Landschaften bieten, die sie heute noch zu einem Insidertipp machen.

Und dem heutigen SKV würde etwas fehlen ohne die Julius-Römer-Hütte, aus der Rolf Truetsch, den man auf einem Bild erkennt, einen einzigartigen Ausflugsort gemacht hat. Nach seinem Tod im Jahre 2021 setzt seine Familie, der man das Beste wünscht, die deutsche Tradition in den siebenbürgischen Karpaten fort.

Die drei Autoren dieses umfangreichen und spannenden Freskos des Bergtourismus stehen in vieler Hinsicht für Annäherung. Manfred Kravatzky verließ Rumänien 1990 und kennt seine Themen in- und auswendig. Von 2003 bis 2009 war er Vorsitzender der Sektion Karpaten. Reinhold Kraus war eine treibende Kraft im Bergsport sowohl in Mediasch, wo er den Wanderverein Adonis gründete und leitete, als auch in Deutschland, wo er der Sektion Karpaten lange vorstand. In Hermannstadt wurde Marcel Sofariu 2009 SKV-Geschäftsführer und 2017 dessen Vorsitzender. Ihre Zusammenarbeit hat einen hohen symbolischen Charakter. Sie führte zu der 2012 unterschriebenen Partnerschaftsvereinbarung zwischen der Sektion Karpaten und dem SKV, die die Grundlage für zahlreiche gemeinsame Touren, Ausstellungen und Projekte bildet. Aber darüber hinaus ist sie ein Beispiel für die Annäherung zwischen den Institutionen in Rumänien und Deutschland. Und schließlich wird allein durch das gemeinsame Verfassen eines solchen Buches das verwirklicht, was die Satzung beider Institutionen sich zur Aufgabe macht: Dokumentation und Zusammenarbeit „in der Tradition des Siebenbürgischen Karpatenvereins, 1880-1945“.

Seit 1990 sind mehrere Bücher zum Thema SKV erschienen, aber dieses ist das Erste, das sich auch mit der Sektion Karpaten und dem neugegründeten SKV befasst. Siehe HELTMANN Heinz, ROTH Helmut (éd.), 1990, „Der Siebenbürgische Karpatenverein 1880-1945, Gedenkband“, Thaur bei Innsbruck, Wort und Welt Verlag; WEDEKIND Michael, „Der Siebenbürgische Karpatenverein (1880-1944)“, Amnis, 2004, https://doi.org/10.4000/amnis.1088; KRAVATZKY Manfred (Hrg.), 2011, „Der Bergtourismus in Siebenbürgen/Rumänien 1945-1990“, Heidelberg, Sektion Karpaten des Deutschen Alpenvereins. CONSTANTINESCU Ioan Alexandru, 2016, „Memoria cărărilor“, Sibiu, Constant.

Das immer neu zu erfindende Gleichgewicht zwischen reiner sportlicher Betätigung und Identitätssymbolik existiert seit 1880 und ist heute noch aktuell, sozusagen als die Zukunft der Vergangenheit.

„140 Jahre SKV“ ist insgesamt ein angenehm zu lesendes und dabei hervorragend dokumentiertes Buch. Zahlreiche historische und zeitgenössische Fotografien bilden eine erfreuliche und zugleich seriöse Ikonografie. Daher wird der Band sowohl Sachsen der Erlebnis- oder Junggeneration – und da es auch in rumänischer Sprache erschienen ist – auch Rumänen ansprechen, die über die Geschichte des Bergtourismus im eigenen Land informiert werden wollen. Und sie sind nun zahlreich. Letztlich ist das Buch auch für die Forschung wichtig, der es wertvolle Informationen liefert. So werden zum Beispiel in drei Tabellen die Mitgliederzahlen der alten Sektionen zwischen 1881 und 1943 aufgelistet, dann alle historischen SKV-Hütten mit Gründungsjahr und gegebenenfalls Verfall, von denen auch zahlreiche alte und neuere Aufnahmen zu sehen sind. Dazu kommt eine wichtige und in diesem Umfang neue Liste der rumänischen und ungarischen Bergvereine vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Autoren sind sichtlich bemüht, jede Form von Ethnozentrismus zu vermeiden.

In dem Wort Begeisterung versteckt sich bis auf einen Buchstaben das Wort Berg. Das ist sicher kein Zufall, und auch dieses wichtige Buch wird Begeisterung hervorrufen.

Catherine Roth, Université de Haute-Alsace, Mulhouse

Manfred Kravatzky (Herausgeber): „140 Jahre SKV und seine Nachfolgevereine – Bergbegeisterung“, Sibiu – Hermannstadt, Honterus Verlag, 2021, mit einem Vorwort von Hans Bergel und einem Grußwort von Paul-Jürgen Porr. Das Buch ist erhältlich über Reinhold Kraus, Telefon: (08171) 63236, E-Mail: Reinhold.Kraus[ät]lorange.com. Für eine diesbezügliche Spende sind die Herausgeber dankbar.

Schlagwörter: Buch, Karpatenverein, Besprechung, Geschichte, Sektion Karpaten des DAV

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