20. April 2015

„Gemeinschaft als großes Geschenk“: Interview mit Kirchenrätin Melitta Müller-Hansen

Deportierte und ihre Familien tragen ein schweres Trauma in sich, das wir aufarbeiten müssen. Dies erklärte Kirchenrätin Melitta Müller-Hansen im Gespräch mit der Siebenbürgischen Zeitung. Christine Hauptkorn sprach mit der Rundfunkbeauftragten über ihre Heimat Siebenbürgen, ihren Weg aus der Diktatur in die Freiheit und ihr neues Tätigkeitsfeld beim Bayerischen Rundfunk. Melitta Müller-Hansen, geboren am 9. Mai 1963 in Großscheuern, kam 1980 zusammen mit ihren Eltern und zwei Geschwistern nach Deutschland. Nach dem Abitur studierte sie Evangelische Theologie in Erlangen und Heidelberg. Ihr Vikariat verbrachte sie in Waldkraiburg, wurde 1992 ­ordiniert und arbeitete in München und Umgebung als Gemeindepfarrerin. Sie publizierte, neben eigener Autorentätigkeit, im Sonntagsblatt, in Publik-Forum und in der Zeitschrift efi. 2012 erhielt sie den „Goldenen Kompass“ für den Film „In jedem Menschen klingt ein Geheimnis“ beim Bayerischen Rundfunk. Melitta Müller-Hansen lebt in Olching bei München, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Seit März 2014 ist sie Beauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für Hörfunk und Fernsehen beim Bayerischen Rundfunk.
In Ihrem Vortrag im Jahr 2013 bei der Tagung der Kultur- und Frauenreferentinnen der Landesgruppe Bayern des Verbandes der Siebenbürger Sachsen haben Sie das Thema „Schätze heben“ behandelt: Welche „Schätze“, nicht materieller Art, haben Sie persönlich aus Siebenbürgen nach Deutschland mitgenommen?
Materielle Schätze haben wir wenige mitgenommen. Wir kamen jeder mit einem Koffer. Ich habe zwei Geschwister, eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Die immateriellen Schätze waren sehr viel größer und wichtiger. Ich habe eine ganz tiefe Verwurzelung in Kirche und Glauben mitgenommen, und zwar interessanterweise nicht geprägt durch das Kreuz und die Leidensgeschichte Jesu. In unserer Kirche in Großscheuern war auf dem Altarbild Christus, der die Kinder segnet. Ein Glaube, der sehr stark mit dem alltäglichen Leben, mit den Jahreszeiten und dem bäuerlichen Leben verbunden war als etwas sehr Lebensstärkendes. Als ich nach Deutschland kam, waren Kirche und Glaube die einzige Kontinuität, die ich wiederfand. Ich konnte in einen Kirchenraum gehen, habe alles erkannt und wusste, was sich dort abspielt. Das war in keinem anderen Lebensbereich so. Daher kam dann auch sicherlich meine Entscheidung, Theologie zu studieren, weil ich gemerkt habe, welch große innere Kraft mir der Glauben gibt.

Die Bedeutung von Gemeinschaft im Leben ­eines Menschen, die dich trägt, habe ich auch erfahren. Du gehörst zu einem Kreis von Menschen dazu ohne Voraussetzung. Diese siebenbürgische Dorfgemeinschaft war für mich als Kind ein großes Geschenk. Sie hatte aber auch ihre Schattenseiten. Ich habe große innere Kämpfe gehabt, um mich zu individualisieren. Aber zuerst einmal war dieses Zugehörigkeitsgefühl mit der Wärme einer Gemeinschaft ein ganz starkes Erleben.

Außerdem möchte ich auch das Gefühl für Sprache nennen: Man lernte den siebenbürgischen Dialekt als Muttersprache, die deutsche Hochsprache und das Rumänische. In jeder Sprache kann man etwas anderes ausdrücken.

Ich habe sehr gerne Musik gemacht und konnte in Siebenbürgen in die Musikschule gehen. Auch heute begleitet mich die Musik noch immer. Als ich 2007 das erste Mal mit meiner Familie zusammen in Siebenbürgen in Hermannstadt war, sind wir alle meine Schulwege und den Weg zur Musikschule abgegangen. Es hat mich umgehauen. Denn ich habe mich gefühlt wie als kleines Mädchen damals, das Cello spielen lernt – es roch wie damals und die Akustik war auch dieselbe. Ich war zu Hause.

Kirchenrätin Melitta Müller-Hansen, ...
Kirchenrätin Melitta Müller-Hansen, Rundfunkbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in ihrem Büro im Landeskirchenamt. Foto: Christine Hauptkorn
Die Deportation der Rumäniendeutschen jährt sich zum 70. Mal. Wie können Ihrer Meinung nach solch traumatische Erlebnisse wie die Zwangsarbeit in Russland von Betroffenen verarbeitet werden?
Davon sind wir als Familie unmittelbar betroffen: Mein Großvater väterlicherseits gehörte auch zu den Deportierten. Er hat drei Jahre lang im Donezbecken als Bauarbeiter arbeiten müssen und kam sicherlich schwer traumatisiert nach Hause, aber man wusste damals nichts davon bzw. man wusste nicht, was schwer traumatisiert bedeutet. Ich habe ihn als einen sehr schweigsamen und ängstlichen Mann erlebt. Er war immer wieder von Depressionen geplagt und konnte ohne Nachtlicht nicht einschlafen. Ich habe das erst bei der Lektüre von Herta Müllers „Atemschaukel“ verstanden, da sie genau diese Sequenz des Nachtlichts bei dem Heimkehrer ihres Buches beschreibt. Das heißt ich, in zweiter Generation, bin immer noch dabei, sein Schicksal zu verstehen, weil er selbst nichts erzählt hat.

Es wäre großartig, wenn Deportierte eine Sprache in sich zur Verarbeitung ihres Traumas finden, um das Erlebte nach vielen Jahren erzählen zu können, zum Beispiel in Gesprächen mit einem Menschen ihres Vertrauens, die nicht unbedingt mit der Familie stattfinden müssen, da dies schwierig sein kann.

Vielleicht haben wir in dieser Hinsicht etwas versäumt, da wir mit Deportierten nicht breitflächig Interviews durchgeführt haben. In mir hat das Buch von Herta Müller ganz viel wachgerufen und bewirkt. Wichtig ist auch, dass es eine Erinnerungskultur gibt. In Rumänien passiert hinsichtlich dieser Ereignisse mittlerweile sehr viel. Ob wir dafür eine Öffentlichkeit in Deutschland schaffen können, darauf bin ich sehr gespannt. Mein Bruder ist Historiker und hat in zwei Lexika Artikel über die Deportation geschrieben. Darin stellt er auch klar, dass die Deportation von Russland für Deutsche verordnet war.

In dem Artikel „Gedanken zur Lebensmitte“ der Zeitschrift efi (Heft 3/ Jahr 2011) erwähnen Sie, dass Sie „aus einer Diktatur in der Freiheit gelandet“ sind. Inwieweit beeinflusst Sie diese Etappe der Auswanderung?
Das Erlangen der Freiheit habe ich als unglaublich großartig empfunden. Doch mir ist dabei auch klar geworden, dass ich eine unglaubliche Ängstlichkeit mitgenommen habe, die man erfährt, wenn man in einer Diktatur lebt und sich seiner Umgebung nicht sicher ist. Man nicht weiß, was man sagen darf. Es gab ganz klar zwei Welten: Zum einen die private, und zum anderen die öffentliche, in der du jemand sein musst, der den Erwartungen entspricht, die jedoch auch nicht ganz klar sind. Das macht keine selbstsicheren Menschen. Das hat mich sehr lange in meiner Selbstreflexion begleitet und darin bestärkt, genau hinzusehen, was ich als Diktaturprägung erkenne. Herta Müllers Romane machen wiederum auch klar, in welchem Land wir gelebt haben. Immer noch prägt mich, dass ich entwurzelt bin aus dem, woher ich komme. Über 20 Jahre hatte ich das Gefühl einer Lücke in meinem Leben. Selbst wenn man zu Besuch nach Siebenbürgen fährt, kann man das Erlebte nicht wieder zurückholen. Das Gefühl, dass etwas fehlt, habe ich seit unserem letzten Besuch nicht mehr. Damals war es so, als ob ich mich als Kind wieder treffe, mich einsammle und mich ganz wieder mitnehme. Alles, was Siebenbürgen für mich ist, ist wieder in mir. Ich glaube, eine Auswanderung ist wie eine Trauerarbeit.

Inwiefern ergeben sich davon abgeleitete Glaubenssätze, die Sie an Ihre Kinder und die junge Generation weitergeben können?
Einen Glaubenssatz hat Václav Havel wunderbar formuliert und ich habe ihn für mich angenommen, nämlich, „Heimat ist der Ort, an dem du lernst, die Welt zu lieben.“ Es ist wie dein Fenster zur Welt. Aber es ist ein Fenster und du kannst wandern an andere Orte und merken, diese erste große Liebe ist nichts Exklusives. Sie öffnet dich, um an ganz vielen Orten noch mehr von der Welt lieben zu können. Das gebe ich meinen Kindern mit. Meine Kinder haben durch mich auch einen Teil Siebenbürgen lieben gelernt.

Von einer Gemeindepfarrerin zur Rundfunkbeauftragten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern seit 1. März 2014: Wie sehen Sie den Unterschied der beiden Arbeitsfelder?
Der Arbeitsunterschied ist gewaltig. Als Gemeindepfarrerin hat es mich fasziniert und sehr glücklich gemacht, mit vielen Generationen zu tun zu haben, nah am Leben der Menschen zu sein, Menschen seelsorgerlich zu begleiten und festliche Gottesdienste zu feiern – das habe ich übrigens auch in Siebenbürgen kennen gelernt. Im Gemeindepfarramt ist es eine große Herausforderung, alle Zuständigkeitsbereiche unter einen Hut zu bringen.

In meiner neuen kreativen Aufgabe kann ich mich stark auf Gottesdienstübertragungen und inhaltliche theologische Arbeit konzentrieren. Noch immer begleite ich Menschen und halte gelegentlich Gottesdienste. Doch ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal Filme mache. Das gehört nun allerdings auch zu meinen Aufgaben.

Haben Sie bereits Pläne für weitere Filmprojekte?
Im Moment bereite ich einen Film vor, der am Freitag vor Pfingsten, dem 22. Mai, um 17.00 Uhr im Bayerischen Fernsehen erscheinen wird. Es geht um den Geist, den Menschen in diese Welt hinein tragen können. Wir portraitieren einen Mann, der Asylbewerber betreut, mit ihnen musiziert, und auch eine Clownin, die auf Kinderstationen das Spielerische und den Geist der Freude in den Krankenhausalltag wiederbringt.

Frau Müller-Hansen, herzlichen Dank für das interessante Gespräch!

Schlagwörter: Interview, Deportation, Auswanderung, Pfarrerin, Müller-Hansen

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