29. März 2009

Ulrike Rușdea: Mühlenforscherin von europäischem Rang

Nicht nur einmal hatte ich in den letzten Wochen die vertraute Stimme vom Anrufbeantworter mit der typisch siebenbürgischen Intonation gehört: „Ich bin zur Zeit nicht erreichbar. Sie können mir jedoch eine Nachricht hinterlassen. Bitte sprechen Sie nach dem Signalton.“ Zum Zeitpunkt meiner Anrufe freilich lag die bekannte Hermannstädter Ethnographin Ulrike Rușdea auf der Intensivstation eines Heidelberger Krankenhauses, wo sie am 18. Februar einer schweren Lungenentzündung erlag. Eine Ansage kann sehr betroffen machen, wenn sie einem Menschen gehört, der einem viel bedeutete und der einen nie wieder zurückrufen wird.
Wer heute an den Mühlen und Gehöften des Freilichtmuseums im Jungen Wald entlangspaziert, ahnt kaum, wie viel Planung und logistischer Aufwand nötig war, um dieses Museum zu einem der schönsten im Lande zu machen. Mit seinen 96 Hektar ist es nach dem Westfälischen Freilichtmuseum in Detmold (106 ha) das größte in Europa und damit eines der größten weltweit. Etwa ein Viertel der in einer von Weihern und Wasserläufen durchzogenen Parklandschaft originalgetreu wiederaufgebauten Objekte geht auf das Konto einer Frau zurück, die es eher zufällig dorthin verschlagen hatte: Ulrike Rușdea.

Ulrike Hedwig Rușdea wurde am 20. Juni 1924 in Hermannstadt als Tochter des bekannten Arztes und Naturwissenschaftlers Dr. Viktor Weindel und der Geigerin Hedwig Schuster, Enkelin des Dichters und Volkskundlers Friedrich Wilhelm Schuster, geboren. Nach dem Besuch des Mädchenlyzeums (Abitur 1943) und dem „völkischen Dienstjahr“ im Naturwissenschaftlichen Museum immatrikulierte sie sich 1945 an der Medizinischen Fakultät in Klausenburg. Zum Leidwesen des Vaters wechselte sie nach dem Vordiplom 1947 zur Germanistik, die sie gleichzeitig besucht hatte. 1951 schloss sie ihr Studium in Bukarest ab – die Germanistikabteilung war in Klausenburg kurz vorher aufgelöst worden – und wurde dem Gewerkschaftsverlag (Editura C. C. S.) als Redakteurin zugeteilt. 1955 folgte ein zweijähriges Zwischenspiel bei der Tageszeitung Neuer Weg.
Ulrike Rușdea mit ihrem Lieblingsmühlenbauer ...
Ulrike Rușdea mit ihrem Lieblingsmühlenbauer Dobre Alexe aus Babadag 1967 in Frecăței, Kreis Tulcea. Mit Alexe (* 1911) und dessen Bruder Panait Moraru (* 1900) baute Rușdea die fünf Windmühlen des Freilichtmuseums auf. Die beiden Mühlenbauer waren die letzten ihrer Art in der Dobrudscha.
1953 heiratete Ulrike gegen den erklärten Willen der Eltern und um den Preis der Enterbung ihre ehemalige Studentenliebe Dr. med. Dan Rușdea, einen aus Großwardein stammenden rumänischen Lungenfacharzt (Rușdea, ein hochgebildeter Arztsohn, leitete seit 1955 das Krankenhaus in Heltau, von 1969 bis 1973 das Brukenthal-Präventorium/Sanatorium in Freck und war danach Inspektor bei der Hermannstädter Kreisdirektion für Gesundheitswesen, wo er auch ein Tbc-Projekt der WHO betreute). Erst Jahre später akzeptierten die Eltern die deutsch-rumänische Mischehe ihrer Tochter („ich musste etwas zum Auffrischen des sächsischen Blutes tun“, wie sie später lachend kommentierte), wobei sicher auch der Charme von Schwiegersohn „Ica“, eines begnadeten Ironikers, eine Rolle gespielt haben mag. Mit der Aussöhnung stand dem Umzug nach Hermannstadt nichts mehr im Weg.

1958 holte die befreundete Sprachwissenschaftlerin Gisela Richter Rușdea als „auswärtige Mitarbeiterin“ zum Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch. Die Zusammenarbeit kam auch der damaligen Familiensituation entgegen (Geburt der Töchter Evelyn und Sabine 1956 bzw. 1959). Als sich die studierte Germanistin 1961 um eine feste Anstellung bei der Wörterbuchstelle bewarb, wurde ihr von einer Klausenburger Kommission kurz vor Prüfungsbeginn(!) freilich beschieden, dass sie schon „zu alt“ für die ausgeschriebene Stelle als Sprachforscherin sei. Ins gleiche Jahr fällt der Umzug ins Elternhaus, wo bald darauf Tochter Ulrike mit anpacken musste – ihr an Altersdemenz erkrankter Vater, einst Leiter des Martin-Luther-Krankenhauses und Vorsteher der Deutschen Ärzteschaft in Rumänien, war zum Pflegefall geworden.

Im Mai 1962 trat die mittlerweile 37-Jährige eine Stelle an der Volkskunstabteilung des Brukenthalmuseums an, wo gerade die Planungen für das Freilichtmuseum im Jungen Wald vor dem Abschluss standen. Hier stieß sie zum hochmotivierten Team von Direktor Cornel Irimie, dem der Volkskundler Herbert Hoffmann, der Architekt Paul Niedermaier, die Textilkundlerin Raymonde Wiener, Stefan Palada u.a. angehörten, nicht zu vergessen die Museumszeichnerinnen Juliana Fabritius-Dancu und Ricarda Terschak. Durch die kluge Strategie des Projektleiters Irimie – ihm, Hoffmann und Niedermaier sind das thematische Konzept des Freilichtmuseums zu verdanken – wurden auch ältere Fachleute um Rat gefragt, etwa Stadtarchitekt Otto Czekelius.

Gerade die frühen Jahre von 1963 (Gründung) bis 1967 (Eröffnung) dürften die schönsten für Ulrike Rușdea gewesen sein. Tage- oder gar wochenlange Forschungsreisen mit dem museumseigenen GAZ-Jeep und „Mikrobus“ hatten damals sicher noch einen Hauch von Abenteuer und Forscherromantik. Besonders gern fuhr Rușdea in die Dobrudscha, wo sie noch fünf Windmühlen fürs Museum aufspürte, darunter die malerische Ständerwindmühle aus Frecăței, Kreis Tulcea, die Segelwindmühle aus Curcani, Kreis Konstanza (statt der Bretterflügel wird ein Segelantrieb verwendet, wie er in Mittelmeerländern typisch ist), die Kappenwindmühle aus Bestepe, Kreis Tulcea oder die Schiffsmühle vom Somesch aus Lucăcești, Kreis Maramuresch. Ganz zu schweigen von der spektakulären Turbinenmühle mit sechs Löffelrädern vom Tismanafluss aus Găleșoaia, Kreis Gorj. Weil Rușdea ebenso für die Bereiche Obst- und Weinbau sowie Nahrungsmittelherstellung zuständig war, haben wir ihr auch so manche Ölpresse, Obststampfe oder die „Schnapsbrennerei mit Wasserrad“ aus dem Kreis Gorj zu verdanken. Insgesamt hat Rușdea die Überführung und den Aufbau von 25 Einheiten geleitet. „Es ist eines der interessantesten Freilichtmuseen aus Europa, das auch seine pädagogische Aufgabe erfüllt hat“, notierte der bekannte Volkskundler Dr. Helge Gerndt von der LMU München nach seinem Besuch im Museum für Bäuerliche Technik ins Gästebuch.

Von Bedeutung ist insbesondere das Jahr 1969, in dem Ulrike Rușdea mit ihrem damaligen Direktor Cornel Irimie am II. Internationalen Symposium für Mühlenkunde („Molinologie“) in Kopenhagen teilnahm. Ihr vielbeachteter Beitrag lenkte schlagartig die Aufmerksamkeit auf die Mühlenvielfalt in ihrer Heimat. 1969 und 1973 wurde sie von der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde zu weiteren internationalen Tagungen nach Detmold und Hamburg eingeladen.

1971 brachte Rușdea ihr museologisches Knowhow auch bei der Einrichtung des Michelsberger Heimatmuseums ein. Seine Vorgeschichte liefert eine bislang kaum bekannte Fußnote zur sächsischen Zeitgeschichte. Am Anfang stand eine Idee von Kreisparteisekretär Richard Winter, der in diesem damals noch rein deutschen Ort – der einzige Rumäne im Ort war damals, vom traditionell rumänischen Kuhhirten mal abgesehen, ein eingeheirateter Reschinarer – ein großes, gesamtsiebenbürgisch-sächsisches Museum gründen wollte. Als Direktor war Horst Klusch vorgesehen, der aus diesem Grund sogar das Lehramt verlassen hatte und seither als Referent für Museumswesen beim Kulturkomitee firmierte. Doch Winter holte sich für seine „großsächsische“ Idee beim Zentralkomitee einen empfindlichen Rüffel. An dem ihm bewilligten, weitaus kleineren Dorfmuseum hatte er kein Interesse mehr. Nicht so Klusch, der innerhalb weniger Wochen mit Ulrike Rușdea, Raymonde Wiener und dem Museumsgraphiker Fritz-Gert Weinrich ein schmuckes sächsisches Heimatmuseum mit kostbaren Exponaten im Rahmen der „Cibinium“-Woche präsentieren konnte (Neuer Weg vom 11. 9. 1971). Vergangenen Sommer wurde das Museum in einer leider abgespeckten Version auf Betreiben des Heltauer Stadtpfarrers Stefan Cosoroabă wieder eröffnet – obwohl es eigentlich niemals wirklich geschlossen war (SbZ vom 15. 6. 2008).

Als Rușdea 1981 in den Ruhestand verabschiedet wurde, war das der Hermannstädter Woche einen extra Artikel wert (18. 9. 1981). Dort kündigte sie an, dass sie sich nun verstärkt der sächsischen Volkskunde widmen wolle – woraus dann leider nichts mehr wurde. Ich erinnere mich noch gut, wie nachhaltig sie von Horst Schuller Anger angetan war, als dieser 1981 ein sorgfältig ediertes Büchlein mit Schriften aus dem Nachlass ihres Urgroßvaters herausbrachte. Zu bedauern ist aber auch, dass eine druckfertige Monographie über die Windmühlen der Dobrudscha unveröffentlicht blieb – „die vollständigste Arbeit über Windmühlen in der ethnographischen Literatur Rumäniens“, wie Valer Deleanu in einem Gutachten resümierte. Erschienen sind aber eine Reihe von Artikeln und Aufsätzen in Cibinium, der Zeitschrift des Freilichtmuseums, Transilvania, Die Woche, ebenso Beiträge für „Atlasul Etnografic al României“.

An die Stelle Ulrike Rușdeas kam 1982 die frischgebackene Ethnographin Irmgard Sedler. Auch der erwähnte Valer Deleanu, der seine Dissertation über die traditionellen Transportmittel und -techniken schrieb – eine von Rușdea begründete Abteilung des Freilichtmuseums –, hat seiner Vorgängerin viel zu verdanken. Mit der Übersiedlung 1987 nach Heidelberg begann ein neuer Lebensabschnitt für Ulrike Rușdea. Hier besuchte sie als Gasthörerin mit Begeisterung kunst- und architekturgeschichtliche Vorlesungen, reiste mit ihrem Mann durch halb Europa und war überdies passioniertes Mitglied eines Bridge-Clubs. Dass sie auf ihre alte Tage auch noch Großmutter für die kleine Anna ihrer Tochter Dr. Evelyn Rușdea sein durfte, freute sie besonders. Nicht zuletzt freute sie auch, dass ihre Tochter an der Freiburger Universität ein Großprojekt zur nachhaltigen Landnutzung im rumänischen Westgebirge entwickelt und betreut hat – eine ethnographische Zone, die sie seinerzeit selber gerne auf ihren Museumsfahrten abgeklappert hatte („Perspektiven für eine traditionelle Kulturlandschaft in Osteuropa“, Freiburg 2005).

Das Haus Rușdea in der Hegelstraße 18 auf der Hallerwiese war stets ein Haus der offenen Tür, der gelebten Multikulturalität und Gastfreundschaft, wohin jeder gern zurückkehrte. Vielleicht hatte es noch etwas vom Geist seines Erbauers Friedrich Wilhelm Schuster bewahrt, der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts rumänische Volkslieder sammelte und nun hier, halb erblindet, seine letzten Lebensjahre verbrachte. In friedlichster Koexistenz hingen hier neben rumänischen Ikonen und Hinterglasbildern Burzenländer Keramik und die biedermeierlichen Porträtlithographien des jungen Klaviervirtuosen Carl Filtsch (der Vater des Wunderkindes war der Großvater von Fr. W. Schusters Ehefrau Helmine Boos, was der Familie manch sorgsam behütete Filtsch-„Reliquie“ bescherte).

Mit Kochlöffel und Zigarette

Unvergessen die traditionellen Open-End-Frühstücke, wo es, Uli sei dank, immer sehr anregend und lustig zuging. Während im Kinderzimmer Bach geübt wurde und im irdenen Topf friedlich die Weihnachtssarmale vor sich hinköchelten, stand Uli mit Kochlöffel und ewig aschender Zigarette daneben, fragte, ob man denn noch ein „Teetscherl“ wolle und referierte gleichzeitig über Stefan Heyms König David Bericht, den ihr ein Gast aus dem Westen mitgebracht hatte. Auch die Volkskundlerin Weber-Kellermann und ihre Schülerin Annemie Schenk saßen – war’s 1974? – schon mal hier und besprachen noch letzte Details zur Befragung nach Leben, Wohnen und dem Nachbarschaftswesen in Stolzenburg. Ein Wirbel der besondern Art stand stets mit Joana „Pitzu“ Gorvin ins Haus, die Uli von ihren älteren Schwestern als Freundin „übernommen“ hatte (in Pitzus Bekanntenkreis wusste natürlich jeder, dass die große Schauspielerin 1918 und nicht 1922 geboren war, mithin um sechs Jahre älter war als Freundin Uli).

Eine Verkettung unglücklicher Zufälle während eines Aufenthaltes in einem Heidelberger Krankenhaus wurde Ulrike Rușdea im vergangenen Monat zum Verhängnis. Wegen einer eigentlich harmlosen Sache eingeliefert, zog sie sich hier eine Grippe und im Anschluss daran eine Lungenentzündung zu. Als sich ihr Zustand nach mehrtägigem Einsatz von Sauerstoffgeräten nicht besserte, schlug die behandelnde Ärzteschaft eine Intubation mit künstlichem Koma vor. Die Patientin freilich lehnte entschieden ab – zuviel Leid hatte sie schon im eigenen Umfeld erlebt und zu sehr schreckte sie die Vorstellung eines fremdbestimmten Lebens an irgendwelchen Schläuchen. Sie blicke auf 84 glückliche Lebensjahre zurück und wolle im übrigen niemandem zur Last fallen. „Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Nicht zufällig hatte sich Ulrike Rușdea gerade dieses Franz von Assisi zugeschriebene Wort für die Parte ausgesucht.

Die Bitte scheint erhört worden zu sein. Sie blieb luzide bis zuletzt und war nicht mal um ein Scherzwort verlegen. Ihrer Entscheidung gegen die Apparatemedizin zollten selbst die versammelten Ärzte größten Respekt. „Eine coole Dame, bewundernswert“, meinte ein junger Assistenzarzt, „man erlebt selten einen solchen Patienten“. Als sie sich von den versammelten Angehörigen verabschiedet hatte, fragte sie in die allgemeine Betroffenheit hinein nur ein befreiendes „Und was steht als nächstes auf dem Programm?“

Nicht nur wegen ihres Humors wird uns Uli sehr fehlen.

Konrad Klein

Schlagwörter: Kultur, Volkskunde, Nachruf

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