6. Januar 2009

Wie das "Herrgottöchslein" zu seinem Namen kam

Eine Sage aus dem Nösnerland in Siebenbürgen, nacherzählt von Rudolf Rösler.
Dort, wo die Wasserscheide zwischen dem Szekler- und Nösnerland verläuft, steht ein großer Felsen, der wie ein Sessel anmutet. Es ist der in weiter Umgebung bis hin in das Buchenland bekannte „Herrgottstuhl“, den die Székler „Isten­szék“ und die rumänischen Schafhirten „Scau­nul lui Dumnezeu“ nennen. Wie die Alten es wissen und auch so erzählen, soll hier der liebe Gott am Sonntag nach der Erschaffung der Erde ausgeruht haben. Auch in späteren Zeiten soll er immer wieder diesen wunderschön gelegenen Ort, umgeben von unendlichen Karpatenurwäl­dern, aufgesucht haben. Ob er auch heute noch unsere Mutter Erde besucht und auf dem Gottes­stuhl ruht, wurde uns leider nicht überliefert.
Wie das "Hergottsöchslein" zu seinem Namen kam. ...
Wie das "Hergottsöchslein" zu seinem Namen kam. Zeichnung von Rudolf Rösler.
Vor langer, langer Zeit, sicher sind schon meh­rere hundert Jahre ins Land gezogen, kam der liebe Gott zu seinem Lieblingsplatz, um in Erfah­rung zu bringen, was es wohl noch so auf dieser Erde gäbe. Nach Norden blickend sah er eine reiche Stadt, deren Dächer mit neuen, rot leuch­tenden Ziegeln gedeckt waren, die bis weit in das Land flimmerten. Umgeben war diese Stadt – damals bekannt als die „Rote Stadt“ oder Nösen – von zahlreichen blitzsauberen Ortschaften, in deren Mitte zum Lobe des Herrn schmucke Kir­chen mit hohen, spitzen Türmen in den blauen Himmel ragten. Das gefiel dem Allmächtigen über alle Maßen und so segnete er diesen Land­strich. Sich in die andere Richtung wendend, in der die Sonne am Mittag stand, schweifte der Blick Gottes über die unendlichen Urwälder des Széklerlandes, in dem damals noch Auerochsen, Elche und Waldpferde ihre Fährten zogen und verstreut im grünen Wäldermeer auf sonnbeschienenen Waldwiesen kleine Dörfer standen, deren Häuser und Tore aus Holz gezimmert und geschnitzt waren. Auch über diesen Anblick war der Herr sehr erfreut. Doch halt! Was erblickten – ganz weit, weit am Rande des Urwaldes – seine alten Augen? Reiterei und Fußvolk; in unendlichem Zuge kamen sie näher. Ihre Krumm­schwerter und Lanzen funkelten und blitzten im hellen Sonnenschein. An der Kopfbedeckung und den grünen Bannern, die sie trugen, erkannte der liebe Gott ein mächtiges Aufgebot, eine türkische Heerschar.

„Die werde ich anhalten!“ murmelte der Herr in seinen greisen Bart. Er schickte ein mächtiges Unwetter mit peitschendem Regen, Blitz und Donner. Doch das Oberhaupt der Ungläubigen – den sie Sultan nannten – gab den Befehl, trotz allem weiter zu marschieren.

Als der himmlische Vater dieses sah, wusste er, dass dem Nösnerland und seinen redlichen Bür­gern und Bauern großes Unheil drohte. Rund um den Gottesstuhl gab es damals eine große Alm, auf der die Szekler ihre Ochsen zur Sommerwei­de aufgetrieben hatten. Doch als der liebe Gott den Ochsenhirten rief – er soll ein Rumäne ge­wesen sein und auf den Namen Bouaru gehört haben – war dieser zwecks Maismehlbesorgung für den täglichen Palukes (Polenta) in seinen Hei­matort Ardan hinuntergestiegen. Ihn wollte der liebe Gott nach Nösen – dem heutigen Bistritz – schicken um die fleißigen und redlichen Bürger vor der nahenden Gefahr zu warnen. Nun rief der Allmächtige den Ältesten der Ochsen zu sich und sprach: „Lauf geschwind nach Nösen und melde die Gefahr des nahenden Türkenheeres“.

„Ich bin zu alt um so weit laufen zu können, und wenn ich es täte, würde ich so schwach wie der alte Klepper des Zigeuners Petru aus unserem Dorf werden und mein Herr, der Bauer János, würde mich sofort dem Fleischhauer verkaufen! Und das wäre doch schade um meine alten Knochen!“ „Es sei!“, sagte der liebe Gott, „so schicke den jüngsten und leichtfüßigsten der Ochsen nach Nösen!“

„Auch das geht nicht“, sagte der Älteste der Ochsen „dieser Junge mit Namen Tulek ist viel zu dumm und bis in die Stadt würde er den Weg nicht finden und wenn er es doch täte, würde er die Botschaft vergessen haben. Wenn ich jung wäre und dazu noch Flügel hätte, würde ich so­fort deine Weisung den Bistritzern überbringen“.

„Aha!“ sagte der liebe Gott so vor sich hin. „Nun habe ich den Ausweg gefunden!“

Gottvater verwandelte im Nu den alten Ochsen in einen kleinen, kugelrunden Käfer, auf dass ihn die Türken nicht sähen, denn ein fliegender Ochse wäre wahrlich zu auffällig gewesen.

Justamente flog der Käfer mit der Botschaft des Allmächtigen nach Bistritz, um die Bürger der Stadt vor der Wut der nahenden Türken zu retten; diese konnten die mit Wehrtürmen und Mauern befestigte Stadt nicht einnehmen und zogen kläglich von dannen.

Etwas Besonderes widerfuhr unserem zum Retter gewordenen Käfer: Als er fliegend in der Stadt ankam und sich auf das Dach des Pfarr­hauses – gedeckt mit roten, von den rumänischen Ziegelschlägern aus der Ruba frisch ge­brannten Ziegeln – setzte, verfärbte er sein schö­nes schwarz-braunes Kleid ziegelrot. Und wie das Schicksal es so will, war er neben dem Schornstein gelandet, aus dem Rußflöckchen auf seine nun roten Flügel niederfielen. Seit damals hat dieser Käfer – der heute auch als Marienkäfer besser bekannt ist – eine rote Flügeldecke, geziert von sieben schwarzen Punkten.

Seit damals trägt er in Siebenbürgen den Namen „Herrgottöchslein“. Auch heute noch, wenn die spielenden Kinder das Herrgottöchslein fangen, geben sie ihm die Freiheit, lassen es davonfliegen und singen da­bei: „Herrgottöchslein flieg in den Himmel, sag mir, wenn die Türken kommen ...“

Was geschah jedoch im Herbst nach dem Almabtrieb, als János seinen Ochsen suchte und nicht wieder finden konnte? Der Hirte Bouaru meldete seinem Herrn unterwürfig vom Tode des alten Ochsen, den die Wölfe gerissen und gemeinsam mit den Bären verspeist hätten.

Doch der Erzähler dieser Geschichte wusste es besser: Der einst alte Ochse von der Gottesstuhl-Alm fliegt auch heute noch zur Freude der Kin­der durch Garten und Flur und wird es auch weiterhin noch lange, lange so halten!

***

Diese einst wahre Begebenheit, und zwar wie das Herrgottöchslein zu seinem Namen kam, er­zählte uns Kindern einst unsere Thesi (The­resia) Beer Omama (1868-1953), die sie wiederum von unserem Nachbarn Oskar Kisch (* 1875, † nach 1951) erfahren hatte. Als Oberbuch­halter beim Städtischen Verzehrungssteueramt schrieb er unter anderem die bisher einzige populär gehaltene Geschichte seiner Vaterstadt Bistritz (1926); bekannt war er auch als Erzäh­ler von Sagen, Märchen und Legenden aus Bistritz und dem Nösnerland.

Als ich noch Primaner war, ergänzte unsere Mutter mein Wissen zum Herrgottöchslein mit den Kenntnissen, übermittelt von ihrem verehrten Lehrer der Naturkunde an der Bistritzer Deutschen Mädchen-Bürgerschule, Professor Carl Alberti (1871-1937), wie folgt: Ein gelehrter Herr aus Schweden verpasste einst unserem Käfer den überaus gescheit klingenden Namen Coccinella septempunctata, was auf Lateinisch so viel wie „Siebengepunkteter scharlachroter Käfer“ heißt. Ob dieser berühmte Schwede, der Carl von Linne (1707-1778) hieß, die Entste­hungsgeschichte des Herrgottöchsleins in Sie­benbürgen gekannt hat, konnte bisher nicht ergründet werden, bleibt also auch weiterhin ein noch zu lüftendes Geheimnis der Naturwis­senschaften.

Abschließend sei noch erwähnt, dass mein Vater – der als Junglehrer im südsiebenbürgischen Hundertbücheln tätig war – eine ganz an­dere Version kannte und uns Kindern erzählte und zwar: „Das Herrgottöchslein und das Wai­senkind“. Doch diese Geschichte erzähle ich gelegentlich ein anderes Mal.

Rudolf Rösler

Schlagwörter: Sagen, Nordsiebenbürgen

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