8. August 2025

Rückkehr nach Siebenbürgen mit der Eisenbahn: Vor 80 Jahren Evakuierung aus Nordsiebenbürgen

Die bei Kriegsende in den sowjetischen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs sowie in der Tschechoslowakei befindlichen Siebenbürger Sachsen wurden im Juni/Juli 1945 auf Befehl der sowjetischen Besatzung nach Siebenbürgen rückgeführt (ca. 6 000 von ca. 35.000, die hauptsächlich in der amerikanischen Besatzungszone im südlichen Oberösterreich und in Salzburg sowie in Bayern gelandet waren). Diese Rückführung gestaltete sich viel schwieriger als die Evakuierung 1944. Diesmal musste jeder sehen, wie er vorwärtskam.
Maria Göbbel (1914-2003) schreibt 1986:
„Mitte Juni 1945 kam von den Russen Befehl, jeder geht, von wo er gekommen ist. Unsere Männer – Gierescher 226, Gierling 288, Baier 164 ... – berieten und beschlossen, dass wir uns dem russischen Befehl beugen sollten. Diejenigen, die keine Pferde mehr hatten, kamen alle zum Bahnhof nach Perg, die anderen fuhren mit Pferdewagen Richtung Heimat Siebenbürgen. Wir fuhren bis St. Pölten in Personenwagen, dort mussten wir alles ausladen. Mit unserem Gepäck haben wir an einer Wand auf dem Fußboden geschlafen, Horst und Erika im Kinderwagen.

Erika Göbbel (2.10.1944 Ofeherto -10.07.1945 ...
Erika Göbbel (2.10.1944 Ofeherto -10.07.1945 Püspöklodanyi). Foto: Otto Engler Familienarchiv Göbbel
In St. Pölten durften wir unsere Sachen auf offene Plattformen aufladen und weiter gings bis zum nächsten Raion, wo unsere Männer wieder andere Waggons ,verschaffen‘ mussten, was Geld, Zucker, Militärschuhzeug, Streichhölzer u.a. kostete. All das mussten die Leute zusammenlegen, sonst kamen wir nicht weiter. Wir haben immer nur offene Waggons erhalten, viel, viel Wind und Regen ausgehalten. Wir legten uns nur Decken über den Kopf und über den Kinder-wagen. Es ging langsam weiter. In Ungarn auf einem Bahnhof kamen Frauen mit Literflaschen Milch, sie wollten von uns Streichhölzer dafür. So bekamen wir 2 Liter Milch für die Kleinen. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich ihnen nur Gries im Wasser gekocht, Zucker und Kakao hinein, das war zusätzlich zur Brust. Wie verlief aber das Kochen? Immer, wenn der Zug irgendwo stand, suchten die Männer zwei Steine, ein Blech drauf, ein kleines Feuerchen darunter, sie sorgten auch immer für Holz. So kochten wir hie und da. Nun hatte ich Milch und kochte für die Kleinen Gries, doch das war nicht gut, denn die Milch war wohl verdorben. Beide erkrankten, weinten, wollten die Brust nicht mehr, Durchfall und der Zug fuhr weiter. In Budafok hielten wir dann wieder einige Tage, wir gingen in die Stadt zu dem Doktor, ich wollte mit den Kindern ins Krankenhaus, aber der Arzt sagte, es sei nicht so schlimm, wir könnten weiterfahren, gab uns Arzneimittel, doch es ging den Kleinen immer schlechter. Meine liebe Mutter, überall wo sie nur konnte, ging sie ins Wasser, um Windeln zu waschen; einmal ist der Zug losgefahren, und sie ist zurückgeblieben. Sie ist dann auf der Bahnlinie zu Fuß gekommen und hat uns dann wiedergefunden. Spät am Abend fuhr dann der Zug wieder los, meinen Kindern ging es immer schlechter, früh zwischen 8 u. 9 kamen wir in Püspöklodanyi an. Die Kinder weinten, auf den vielen Gleisen standen Züge, Waggons, alles voll, mein Sohn Thomas hatte das Bahnhofsgebäude gesehen, er nahm den kleinen Horst in den Arm, ich nahm Erika und so schnell wir unter den Waggons rauf und runter konnten, kamen wir zum Gebäude. Dort war ein deutscher Arzt; er untersuchte die Kleinen, sagte dann, leider hätte er keine Medikamente. Als wir wieder über und unter den Waggons zurückkamen, ist meine liebe Erika in meinen Armen für immer eingeschlafen – es war am 10. Juli 1945 vormittags um ca. 10 Uhr. Sie war 9 Monate und 8 Tage alt.

Nun was tun? Mein Mann ging in die Stadt; er sollte einen Sarg kaufen, aber für Geld allein ging es nicht. Er kam zurück; wir hatten ein Bierfässchen aus Holz bei der Flucht von zu Hause voll mit Honig mitgenommen; es war noch was drin. Er ging dann mit Honig und Geld und holte einen kleinen Kindersarg. Wir haben Erika dann schön angezogen und den Sarg auf die Wiese neben der Bahnlinie gestellt; es war schön grün dort. Die Leute aus dem Transport, es waren ja viele Jaader dabei, kamen und sahen und weinten mit uns zusammen; es waren schwere Tage. In der Nacht nahmen wir den Sarg hinauf auf den Waggon, denn niemand wusste, wann es wieder weitergeht. Meinem kleinen Horst ging es ziemlich schlecht, er krächzte nur, konnte nicht mehr weinen, er wurde einmal blau, gelb, kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Ich betete: „Du, lieber Gott, lass mir auch nur dieses Kind gesund werden und mit nach Hause nehmen!“ An der Bahnlinie war ein großer Friedhof. Dort haben wir dann unsere kleine Erika zu Grabe getragen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, am 11. oder am 12. Juli. Mein Schwager Otto hat dann am Grab gebetet. Ich bin 1987 auf dem Friedhof in Püspöklodanyi gewesen, habe aber das Grab nicht mehr gefunden.

In der Nacht ging es dann wieder weiter bis Bihorkeresztes. Dort gingen wir mit Horst in die Stadt zum Doktor, kauften aus der Apotheke Medikamente und unserem kleinen Jungen ging es bald besser. (…) Von Desch hat uns dann Sidor, der Ziegelmacher, mit einem Lastauto abgeholt. Er wohnte in meinem Elternhaus und sagte uns, dass Großmutter gestorben sei. Als wir ankamen, war sie aufgebahrt in ihrem Haus. Der rumänische Pfarrer hat sie beerdigt. Wir waren zum Glück alle dabei. So habe ich die Flucht erlebt; es waren schwere Tage und Nächte zu überwinden. Mit Gottes Hilfe haben wir es geschafft.“

Quelle: Horst Göbbel (Hrsg.): Abschied aus der Geschichte – Jaad in Siebenbürgen – Werden und Niedergang einer deutschen Gemeinde, Nürnberg 1990, S. 316-320.

Textauswahl: Horst Göbbel

Schlagwörter: Flucht und Evakuierung, Geschichte, Nordsiebenbürgen, Göbbel

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