7. März 2024

Vortrag in Rüsselsheim: Der Zweite Eiserne Vorhang oder Grenzerfahrungen

Großes Gelächter im Mai 1978, als Helmut G. in einer Gruppe Studenten in Hermannstadt erzählte, dass er in der Neppendorfer deutschen 5. Klasse Vertretungsstunden übernommen hatte. Die Schüler sollten ein Lügenmärchen schreiben. Mehr als die Hälfte der Kinder erfanden sehr witzige Szenarien darüber, wie man die Grenze sicher überwinden könnte.
Vortrag in Rüsselsheim: Dr. Peter Chroust und ...
Vortrag in Rüsselsheim: Dr. Peter Chroust und Ortrun Maurer. Foto: Ramona Linz
Ein Thema, das weit verbreitet die Gemüter in der Sozialistischen Republik Rumänien beschäftigte. Auch den Erwachsenen ging die Phantasie oft durch, wenn erfolgreiche Fluchtversuche weiter erzählt wurden. So mutierten die Ausreißer des schwäbischen Dorfes Dolatz zu einer katholischen Wallfahrt ins jugoslawische Banat, das traurige Lied „Ech gon af de Bräck, kun nemi zeräck“ wurde zur Metapher für „Ich bin dann mal weg“, und manche „Gebirgsausflüge“ endeten glücklich in Nürnberg – welch ein Kontrast zu den bedrückend langen Wartezeiten der gedemütigten Auswanderungswilligen und zu den oft fürchterlichen Folgen vereitelter Fluchtversuche!

Szenenwechsel, 16. Februar 2024 im „Katharina von Bora“-Gemeindehaus in Rüsselsheim. Im gut besetzten Saal ehemalige Auswanderer, die über den angekündigten Vortrag „Der Zweite Eiserne Vorhang“ rätselten. Gast war der Politikwissenschaftler Dr. Peter Chroust. Eingeladen hatte Ortrun Maurer, Kulturreferentin des Landesverbands Hessen des Verbands der Siebenbürger Sachsen.

Während des Vortrags hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Alles Erlebte, alle persönlichen und auch sehr unterschiedlichen, oft emotionsgeladenen Erfahrungen der Zuhörer fanden sich wieder, eingebettet im Rahmen der wissenschaftlichen Forschungen von Dr. Peter Chroust: „Legale und illegale Migration aus Rumänien 1944-1989 und danach“ – nein, Migration nicht nach Deutschland, sondern erst nach Jugoslawien und Ungarn! Das war das verbindende Element der Schicksale jedes Einzelnen, der, getrieben vom Drang nach Freiheit, den Eisernen Vorhang überwinden wollte: Er musste erst die Grenzen der benachbarten sozialistischen „Bruderländer“ hinter sich lassen. Was war deren Spezifikum?

Dr. Chroust bezeichnet diese Grenzen als den „Zweiten Eisernen Vorhang“. Rumänien hatte als einziges kommunistisches Land keine „kapitalistischen“ Nachbarn. Wie alle Nachbarländer untereinander auch, pflegte es ein gehöriges Maß an Misstrauen diesen gegenüber. Zum ersten Mal wurde uns bewusst, als wir die Landkarte sahen mit den fortwährenden Grenzverschiebungen vor allem des 20. Jahrhunderts, wie alte Vorurteile, Ressentiments und nie bewältigte Grenzkonflikte („frozen conflicts“) eine nicht unerhebliche Ursache waren für die Wagenburgmentalität des kommunistischen Regimes. Rumänien gewährte nur sporadisch den kleinen Grenzverkehr, die eigenen Bürger konnten ganz schwer als Touristen die „befreundeten“ Nachbarländer besuchen, genauso schwer wie den Westen.

Dr. Chroust erforschte Ränder dieser ehemaligen Festung vor Ort, zeigte Bilder der Bunker und Wachtürme, besuchte die Grenzübergänge, sprach über die Methoden der Perfektionierung des Wachsystems, stellte Zeitschriften vor mit patriotischem Inhalt, mit denen die Grenzsoldaten ideologisch geschult wurden. Sein Kontakt zu jetzigen höheren Offizieren der Grenzpolizeidirektionen verlief respektvoll – distant. Dr. Chroust hat ihnen signalisiert, dass er Vorträge zu diesem Thema halten könnte. Vorerst sind seine Forschungen noch nicht beendet, die endgültige Verarbeitung der Datenlage wird voraussichtlich im nächsten Jahr erfolgen. Die Einsicht in Unterlagen und Daten mit Zahlen zu den erfassten illegalen Grenzübertretungen wurde versprochen, aber wo sich Akten befinden, ist noch unklar.

Im Anschluss an den Vortrag ergab sich die Gelegenheit, Dr. Chroust Fragen zu stellen. Die Moderation führte Ingwelde Juchum, die Vorsitzende des Landesverbands Hessen des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland. Sie dankte allen, die zum Gelingen dieses Abends beigetragen hatten. Dr. Peter Chroust hatte uns das Getriebe erklärt, in dessen Räderwerk die meisten von uns geraten waren. Viele wurden dabei zermalmt. An der jugoslawischen Grenze starben viel mehr Menschen als an der Berliner Mauer und der deutsch-deutschen Grenze. Trotzdem gelang hie und da ein Fluchtversuch. Auch unter den in Rüsselsheim Anwesenden war einer dabei, der davonkam: Auf Bitten aus dem Publikum erzählte der Banater Karl Schaumburger, wie er 1989 die ungarische Grenze überwand. Es ist eine packende Geschichte einer Flucht in Kälte, Regen und Schlamm, mit Hundegebell in völliger Dunkelheit. Ein Grenzübertritt, der, entgegen aller Ängste und Widrigkeiten und im Wissen darum, dass es kein „Zurück“ geben konnte, ein gutes Ende fand.

Christa Heinrich

Schlagwörter: Hessen, Kommunismus, Mauerfall, Osteuropa

Bewerten:

19 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.