3. März 2011

Neuer Gesprächskreis: "Vertreibung, Flucht, Neuanfang?"

Zu einer Informationsveranstaltung über ein neues Programmangebot lud kürzlich das Haus des Deutschen Ostens (HDO) in München ein. In dem zu gründenden Gesprächskreis „Flucht, Vertreibung, Neuanfang?“ sollen Hilfen für lebensbewältigende Maßnahmen diskutiert, traumatische Erlebnisse im kleinen Kreis aufgearbeitet und individuelle Schicksale hinterfragt wer- den.
An der Sinnfrage entbrannte auch die erste heftige kontroverse Diskussion, die der Initiator und Referent Ulrich Sachweh, Sohn der oberschlesischen Künstlerin und Akademischen Malerin Gerda Sachweh, in den Raum stellte: „Flucht und Vertreibung, ein Neuanfang im kriegszerstörten, fremden Land, das zur neuen Heimat werden sollte – was macht das mit einem Menschen? Ist es persönliches Schicksal, das halt durchlitten werden musste, oder lässt sich darin ein Sinn finden – und wenn ja, welcher und wie?“ Der Referent stellte seine Ausführungen unter das Nietzsche-Zitat „Wenn man ein Wozu im Leben hat, erträgt man jedes Wie.“

Der Direktor des HDO, Dr. Ortfried Kotzian, betonte bei seiner Begrüßung einer großen Runde von Interessenten den therapeutischen bzw. heilenden Ansatz, der in dieser neuen Form erprobt werden soll. Bei jedem schrecklichen Geschehen gebe es heute psychologische Betreuung für Opfer und Zeugen. Damals, 1945/46, stellte niemand Hilfen für traumatisierte Flüchtlinge, Vertriebene oder Deportierte zur Verfügung. Diese mussten ihre schrecklichen Erlebnisse alleine bewältigen. Lediglich Kirchen und Hilfsorganisationen versuchten die offensichtliche physische Not zu lindern.

Designer und Heilpraktiker für Psychotherapie Ulrich Sachweh meinte, es fände ein für die Betroffenen schmerzlicher gesellschaftlicher Verdrängungsprozess statt, mit dem die Vertriebenen zusätzlich fertig zu werden hätten. Dabei gehe es individuell darum zu analysieren, wie die eigene Situation angenommen wurde, welche „offenen Stellen“ verblieben sind oder ob die eigene Leistung jene Anerkennung erfahre, die ihr gebührt.

In der offenen und emotional geführten Diskussion über den Wert eines solchen Gesprächskreises, die von der stellvertretenden Direktorin des HDO, Brigitte Steinert, moderiert wurde, betonten Teilnehmer: „Das Thema kommt einfach zu spät.“ Die dauerhafte Unterdrückung des Wissens um das Elend der Eltern und Großeltern führe zu einem Schwelbrand, der immer wieder aufflackert. Ulrich Sachweh betonte, für die eigene Traumabewältigung komme ein Thema nie zu spät. Vielleicht ergibt sich mit größerem zeitlichen Abstand die Möglichkeit, das Thema „lockerer“ anzugehen, mit Leid, Schuld und Opferrolle sachlicher und vor allem „entideologisiert“ zu verfahren. Provokativ fragte eine Teilnehmerin, ob es überhaupt einen „Sinn“ im Vertreibungsgeschehen gebe. Bestimmte Erfahrungen sind nicht kommunizierbar.

Generalisierend könne man zwar behaupten, meinte Ulrich Sachweh, alles historische Geschehen um Krieg, Vernichtung, Vertreibung sei gekennzeichnet durch eine allgemeine Sinnlosigkeit. Aber um mit den Verletzungen besser umgehen zu können, sei es hilfreich, einige Fragen zu beantworten: „Was hat das Schicksal für meine Persönlichkeitsentwicklung bewirkt?“ „Was kann ich davon Kindern und Enkeln weitergeben?“ „Wie reagieren die Generationen auf meine eigene Trauerarbeit?“ „Wie lässt sich meine Identität wiederfinden?“ „Kann man Leiderfahrung konservieren?“ Zwei Stunden wurden unter den Teilnehmern Meinungen ausgetauscht, bevor sich eine beachtliche Zahl für eine Mitwirkung am neuen Programmangebot des HDO, dem Gesprächskreis „Flucht – Vertreibung – Neuanfang?“, entschied.

ok

Schlagwörter: Vertriebene und Aussiedler, HDO, Vergangenheitsbewältigung

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