24. Oktober 2011

Lilly Krauss-Kalmár entführt mit neuen Stücken in die Welt der Märchen

Das Zauberpferd, das ein Inder dem persischen König Sabur vorführt, kann seinen Reiter in Windeseile an jeden beliebigen Ort tragen. Prinz Firus, der Sohn des Königs, wird von dem Wunderwesen geradewegs in das Schlafzimmer der bildschönen Prinzessin von Bengalien befördert, in die er sich – wie könnte es anders sein – natürlich augenblicklich verliebt. Doch bevor er sie endlich heiraten kann, muss er sie aus den Fängen des hinterhältigen Inders und des Sultans von Kaschmir befreien, der das schöne Mädchen für sich beansprucht.
Das geschieht mit der tatkräftigen Hilfe der Kinder, die sich das Puppenspiel „Das Zauberpferd“ ansehen. Genau wie der Prinz, der von dem besagten Zauberpferd in ferne Länder und andere Welten gebracht wird, werden auch die Kinder für die Zeit der Vorstellung von dem Zauberpferd in die Welt der Märchen getragen. Sie sehen nicht mehr die Fäden der Marionettenfiguren oder die Hände der Puppenspieler, sondern erleben die Welt aus 1001 Nacht. Kein Wunder also, dass Lilly Krauss-Kalmár ihre neu erschienenen Puppenspiel- und Theaterstücke unter dem Titel „Das Zauberpferd“ zusammengefasst hat.

Der Band enthält jeweils etwa zur Hälfte deutsch- und rumänischsprachige Stücke, allesamt Märchen aus der ganzen Welt. Neben dem „Zauberpferd“ („Calul fermecat“), einem Märchen aus dem arabischen Kulturkreis, hat Lilly Krauss-Kalmár auch die japanische Legende „Seide aus Kranichfedern“ („Mătase din pene de cocor“) und Oscar Wildes Kunstmärchen „Der glückliche Prinz“ („Prințul fericit“) sowohl auf Deutsch als auch auf Rumänisch in ihr Werk aufgenommen. Im rumänischen Teil finden sich außerdem das sächsische Volksmärchen „Am Medwischer Magretimarkt“ in der Übersetzung „Peripeții în târg“, eine Dramatisierung der Ballade „Răzbunarea lui Marcu“, die Bubengeschichte „Marea descoperire“ (die große Entdeckung) und eine Übersetzung des Märchens „Die Bremer Stadtmusikanten“. Für den deutschen Teil hat die Autorin zudem die beiden Grimms-Märchen „Der Froschkönig“ und „Hans im Glück“ ausgewählt.
Noch immer ganz aktiv im Hier und Jetzt: Lilly ...
Noch immer ganz aktiv im Hier und Jetzt: Lilly Krauss-Kalmár, aufgenommen im November vergangenen Jahres vor ihrem Haus in Hermannstadt. Foto: Konrad Klein
Die Dramatisierung von „Hans im Glück“ durchbricht dabei die Grenzen des traditionellen Theaters. Als Straßentheater im Sinne der Commedia dell’arte konzipiert, führt das Stück die Zuschauer durch Hermannstadt. Neben der Handlung des Märchens wird auch etwas über die Stadt selbst erzählt, das Publikum wird eingebunden und eine Singgruppe, die bekannte Volkslieder zum Besten gibt, begleitet die Schauspieler. Für eben diese stellt das Stück eine Herausforderung dar, denn sie müssen in hohem Maße mit dem Publikum interagieren, es durch improvisierte Dialoge in das Schauspiel miteinbeziehen. Da die Antworten des Publikums von einer Aufführung zur anderen nie dieselben sein werden, wird auch der Verlauf des Stücks bei jeder Aufführung ein wenig variiert, was den Schauspielern viel Spontaneität und Schlagfertigkeit abverlangt.

Ihr Buch widmet Lilly Krauss-Kalmár, wie sie im Vorwort schreibt, den vielen Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen, die sie oft um Puppenspiele gebeten hatten, welche sie mit ihren Schülern einstudieren können. Aber warum enthält dieser Sammelband dann das Straßentheater „Hans im Glück“? Grundschulkinder können wohl kaum ein Stegreifspiel aufführen, in dem sie als Spielmänner verkleidet allein durch die Straßen Hermannstadts ziehen und mit einem ihnen unbekannten Publikum interagieren müssen. Offensichtlich ist dieses Stück für eine andere Zielgruppe gedacht als die übrigen Stücke.

Durch die Auswahl der Requisiten und Bühnenbilder wird den Grundschullehrerinnen auch bei den restlichen Theaterstücken das Leben nicht gerade leicht gemacht. Um das Märchen „Der glückliche Prinz“ aufzuführen, benötigen sie beispielsweise als zentralen Teil der Bühne eine Prinzenstatue mit abnehmbaren (Edel)steinen und Goldplättchen, die zu allem Übel auch noch während des Stücks weinen muss. Auch die erste Regieanweisung aus dem Stück „Seide aus Kranichfedern“ könnte einen schnell entmutigen: „Ein von typisch japanischen Wandschirmen gebildeter Wohnraum eines einfachen Bauernhauses. Die Rahmen dieses dreiteiligen Paravents sind mit einem durchscheinenden Material bespannt. Bei entsprechender Beleuchtung kann man im Hintergrund eine Landschaft mit leichtgewellten Hügeln und klarblauem Himmel erkennen. Eine V-förmige Gruppe von Kranichen sieht man vorbeifliegen.“ Hier muss der Schauspieler auch gleich zum Heimwerker werden.

Alles in allem handelt es sich bei den Stücken um eine Sammlung kindgerechter, leicht zu verstehender Theaterstücke mit lebhaften Dialogen, die im Theatersaal – unabhängig davon, ob sie nun als Puppentheater oder mit menschlichen Schauspielern aufgeführt werden – das Publikum begeistern können. Die Kinder wird es besonders freuen, dass der Kasper sie wieder durch einige der Stücke führt, wenn auch nicht unbedingt als lustiger Schelm, sondern vor allem als Freund und Ratgeber der Protagonisten. Aber auch die Älteren, die nichts mehr mit der romantisierenden Welt der Märchen anfangen können, in der das glückliche Ende fast schon obligatorisch ist, werden an einigen Stücken Gefallen finden, denn nicht alle der Theaterstücke haben ein glückliches Ende. So ist die Grundstimmung in dem Stück „Der glückliche Prinz“ nachdenklich, wenn nicht sogar traurig. Die Statue des glücklichen Prinzen gibt mit Hilfe einer Schwalbe all ihren Schmuck an arme Menschen ab, so lange, bis die Statue selbst ganz grau, kahl und arm ist und schließlich vom Bürgermeister und seinen Stadträten abgerissen wird. Auch die Schwalbe überlebt nicht. Sie ist nicht in den Süden geflogen, um dort zu überwintern, weil sie stattdessen lieber dem glücklichen Prinzen helfen wollte und erfriert deshalb zu Füßen der Statue. Ein Märchen? Ja, aber ein trauriges.

Das Zauberpferd entführt in eine bunte Märchenwelt – eine bemerkenswerte Leistung für die fast 90-jährige Autorin.

Angelika Stefan


Lilly Krauss-Kalmár, „Das Zauberpferd – Calul fermecat“, erschienen 2010 im Honterus Verlag Hermannstadt, ISBN 978-973-1725-62-8.
Das Zauberpferd/Calul fermecat
Krayss Kalmar
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Honterus,
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Schlagwörter: Rezension, Märchen, Theater

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