16. Juli 2012

Tübinger Forschungszentrum feierlich eröffnet

Im Rahmen einer politisch und wissenschaftlich hochrangig besetzten Feierstunde am 6. Juli in der Alten Aula der Universität Tübingen wurde das neu gegründete „Zentrum zur Erforschung deutscher Geschichte und Kultur in Südosteuropa an der Universität Tübingen“ feierlich eröffnet. Der Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Reinhold Gall, äußerte in seinem Grußwort die Hoffnung, dass es der neuen Forschungseinrichtung gelingen möge, die einschlägige Forschung zu stärken und das Interesse an Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa noch stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Die musikalische Umrahmung der Veranstaltung gestaltete ein Ensemble des musikwissenschaftlichen Instituts der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Der Geschäftsführer des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL) und Sprecher des neuen Zentrums, Dr. Mathias Beer, begrüßte die zahlreichen Gäste aus dem In- und Ausland, allen voran die Prorektorin der Universität Tübingen, Prof. Dr. Stefanie Gropper, den Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Reinhold Gall, und die Ministerialdirektorin beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Dr. Ingeborg Berggreen-Merkel. Dr. Beer hob den Stellenwert des neu gegründeten Zentrums hervor, das außeruniversitäre und universitäre Forschung verbindet. Das Zentrum geht auf eine Initiative des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde sowie dem Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde und dem Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen zurück. Dieser Forschungsverbund hat letztes Jahr auch eine vom BKM ausgeschriebene Juniorprofessur „Kultur und Geschichte des östlichen Europa im 19. und 20. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt interethnische Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Minderheiten in Südosteuropa“ nach Tübingen geholt. Die universitäre und außeruniversitäre Forschung zur Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa in Tübingen, in der Bundesrepublik und darüber hinaus, ist, so Dr. Beer, nur eine von vier Säulen, auf denen das neue Zentrum ruht. Die beim Festakt hochrangig vertretene Universität, das Land Baden-Württemberg und der Bund sind die anderen drei Säulen. Diese Absicherung macht den Initiatoren des Zentrums Mut und gibt ihnen die Zuversicht, dass das „Tübinger Zentrum“ die vom ihm erwartete Gravitationskraft im Hinblick auf die Forschung zur Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa entfaltet.

Die Prorektorin der Eberhard Karls Universität Tübingen, Prof. Dr. Stefanie Gropper, stellte in ihrem Grußwort die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung heraus, die in Tübingen auf eine lange Tradition zurückblickt. Sie hob insbesondere die schon 25 Jahre währende fruchtbare Zusammenarbeit der Universität mit dem IdGL hervor. Darin und in den bestehenden wissenschaftlichen Beziehungen zu Südosteuropa sah sie eine gute Grundlage für innovative Forschung und die positive Entwicklung des „Tübinger Zentrums“. Gerade weil es den Forschungsstandort Tübingen stärke, habe die Universität das neue Zentrum in ihre strategischen Planungen einbezogen.
Eröffnungsfeier in der Alten Aula der Universität ...
Eröffnungsfeier in der Alten Aula der Universität Tübingen, von links nach rechts: Prof. Dr. Reinhard Johler, Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Prof. Dr. Stefanie Gropper, Innenminister Reinhold Gall, Regierungsdirektorin beim BKM Dr. Ingeborg Berggreen-Merkel, Dr. Mathias Beer.
In seinem Grußwort hob der Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Reinhold Gall, vor allem die Bedeutung des „Tübinger Zentrums“ für das Land Baden-Württemberg und die Donauraumstrategie der EU hervor. Die Errichtung des „Tübinger Zentrums“ sei Ausdruck der besonderen Verbundenheit des Landes Baden-Württemberg mit den Vertriebenen und der Kultur und Geschichte der Deutschen in Südosteuropa. Das Land schenke der Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge und der Förderung der wissenschaftlichen Forschung weiterhin große Aufmerksamkeit. Innenminister Gall begrüßte es, dass die neue Forschungseinrichtung bereits bestehende Kräfte bündele. Dadurch könne es gelingen, die einschlägige Forschung zu stärken und das Interesse an Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa noch stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Die Abteilungsleiterin des BKM, Dr. Ingeborg Berggreen-Merkel, unterstrich die Rolle des Bundes bei der Etablierung des „Tübinger Zentrums“. Die Einrichtung der BKM-Juniorprofessur in Tübingen stelle einen wichtigen Baustein für die Etablierung des „Tübinger Zentrums“ dar. Diese könne gerade bei der in der Vergangenheit oft stiefmütterlichen Behandlung des Themas zu einer produktiven Auseinandersetzung mit deutscher Kultur in Südosteuropa beitragen, erklärte Dr. Berggreen-Merkel. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sei es wichtig, das Thema einer transnationalen Betrachtung zu eröffnen, um die vielfach gebrochenen Erfahrungen in der multiethnischen Region des südöstlichen Europa aufzuarbeiten und mit in eine gesamteuropäische Erinnerung einzubauen.

Nach den Grußworten stellte der Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts an der Universität Tübingen und wissenschaftliche Leiter des IdGL, Prof. Dr. Reinhard Johler, die Voraussetzungen, die Ziele und die Struktur des „Tübinger Zentrums“ vor. Das neue Zentrum sei eine gut durchdachte, interdisziplinäre Verbindung von universitärer und außeruniversitärer Forschung. Es habe einen klaren, auf die deutsche Kultur und Geschichte in Südosteuropa gerichteten Focus, verstehe und erforsche diese in ihrem interkulturellen Zusammenhang. Das Zentrum ist sei hochgradig international ausgerichtet und wie nur wenige andere Forschungseinrichtungen sonst dicht in diese europäische Groß-Region hinein vernetzt. Sein Ziel sei es, durch institutionelle Bündelung – in der Forschungslandschaft, aber auch in der größeren Öffentlichkeit – eine erhöhte Sichtbarkeit für diese Themen zu erreichen. Mit der Zentrumsgründung solle zudem auch eine mit klaren Zielvorstellungen verbundene nachhaltige Strukturentwicklung eingeleitet, also eine auf die Zukunft ausgerichtete Konzentration von Forschung, Lehre und Vermittlung angegangen werden. Dies bedürfe der intensiven Zusammenarbeit, der dichten Vernetzung, betonte Johler. So könne es gelingen, kulturelle Vielfalt und Erinnerungskultur, Kulturtransfer und Migration, die Schlüsselbegriffe des neuen Zentrums, für die Erforschung aller deutscher Minderheiten in Südosteuropa fruchtbar zu machen, ob Jugoslawien- und Ungarndeutsche, Banater und Sathmarer Schwaben, Siebenbürger Sachsen, Dobrudscha-Deutschen, Bessarabien-Deutschen, Karpaten-Deutschen, Gottscheer und andere mehr.

Im Festvortrag der Eröffnungsfeier nahm Prof. Dr. Joachim von Puttkamer von der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter dem Titel „Südosteuropa und seine Deutschen. Grundlagen und Perspektiven der kulturhistorischen Forschung“ eine kritische Bestandsaufnahme der einschlägigen Forschung vor. Er warnte vor zwei Tendenzen: den gesamten südosteuropäischen Raum und seine Geschichte bloß auf innerethnische Probleme zu reduzieren, oder aber die Erfahrungen und Handlungen der Habsburgermonarchie in Südosteuropa zu verklären. Von der Gegenwart ausgehend, skizzierte er drei zentrale Forschungsfelder, die für die Arbeit des neuen Zentrums richtungweisend sein könnten: Die Erforschung der Zeit des Kommunismus, der Diktaturen und Vertreibungsprozesse und die der Nationalitätenfragen des 19. Jahrhunderts. Ziel sollte es nach Prof. von Puttkamer bei der Erforschung der jüngsten Vergangenheit sein, die Situation der deutschen Minderheiten in Südosteuropa nicht nur auf die interethnische Problematik zu reduzieren, sondern auch ihr Handeln als Teil gesamtstaatlicher Interaktionen zu sehen. Als Beispiel führte er den siebenbürgischen Lyriker Oskar Pastior an, dessen Leben geprägt war von den Erfahrungen mit den kommunistischen Diktaturen in Rumänien und der Sowjetunion. Sein von Herta Müller in ihrem Werk „Atemschaukel“ festgehaltenes Schicksal als Zwangsarbeiter in einem sowjetischen Arbeitslager und seine Erfahrungen mit der rumänischen „Securitate“ stehen hierbei exemplarisch für die Doppelrolle vieler Angehöriger der deutschen Minderheiten.

Beim Forschungsfeld „Diktaturen und Vertreibungen“ verwies Prof. von Puttkamer auf die Vielzahl interethnischer Auseinandersetzungen in Südosteuropa, die zum Teil bis in die Gegenwart nachwirken und heute noch zwischenstaatliche Beziehungen beeinflussen. Gerade die hieraus resultierenden Vertreibungen großer Teile der Deutschen, aber auch anderer ethnischer Minderheiten, sollten Puttkamer zufolge als kultureller Verlust für die Heimatregionen gesehen werden. So könnte einer Ethnisierung der Vertreibungen entgegengewirkt werden.

Bei den Nationalitätenfragen des 19. Jahrhunderts legte von Puttkamer den Fokus auf die Frage, wie nationale Kulturen entstanden sowie ob und wann ein deutsches Nationalbewusstsein in den Ländern Südosteuropas entstand. Er ging hier explizit auf die unterschiedliche Wahrnehmung deutscher Identität in den Regionen Südosteuropas ein. Letztlich machte der Festredner anhand der drei Bereiche des Vortrags deutlich, dass die Geschichte Südosteuropas nur bedingt als Geschichte einzelner Völker gesehen werden kann. Vielmehr sieht er das Ziel kulturhistorischen Forschung zu Südosteuropa und seinen Deutschen in der historisch-kritischen Befragung ganzer Gesellschaften. Hierfür biete das neue „Tübinger Zentrum“ beste Voraussetzungen, indem es fächerübergreifend und international historische und kulturwissenschaftliche verknüpft.

Mit dem Festakt wurde, wie Dr. Mathias Beer abschließend betonte, der Grundstein für das „Zentrum für die Erforschung deutscher Geschichte und Kultur in Südosteuropa an der Universität Tübingen“ gelegt. Es liegt nun an allen Forschungseinrichtungen des In- und Auslandes, ob universitär oder außeruniversitär, die neue Plattform so auszubauen und zu nutzen, damit die Sichtbarkeit deutscher Geschichte und Kultur in Südosteuropa erhöht wird.

Nicolas Zeidler




Kontakt: Dr. Mathias Beer, Sprecher des Tübinger Zentrums zur Erforschung deutscher Geschichte und Kultur in Südosteuropa, Mohlstraße 18, 72074 Tübingen, Telefon: (0 70 71) 9 99 25 00, E-Mail: poststelle[ät]idgl.bwl.de.

Schlagwörter: Forschung, Geschichte, Tübingen

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