19. August 2015

Eine Spielhölle in Uschhorod

Als schmaler Band voller Geschichten und Poesie präsentiert sich die Essaysammlung „Schäbiges Schmuckkästchen“ der ungarischen Autorin und Kritikerin Noémi Kiss. Immer wieder hat sie in den vergangenen zehn Jahren „Reisen in den Osten Europas“ – so der Untertitel des Bandes – unternommen, stets begleitet von historischen Reiseführern und literarischen Werken regionaler Schriftsteller. Herausgekommen sind lyrische Kurzberichte über alte Städte, verschwundene Völker und versunkene Landschaften „am Rand der Dinge“.
„In Osteuropa gibt es wohl nichts Aufregenderes als die verlassenen Orte. Löcher in den Straßen, Löcher auf den Feldern, den Wegen; dann plötzlich auf den Lumpen der Reichtum, die üppige Flora, Wälder, Bäche, Wasserfälle und Berge, lauter Schmuckstücke.“ Dieser Satz, der sich in einem Essay über Siebenbürgen findet, steht programmatisch für alle Reisen nach Osteuropa, die Kiss unternommen hat. Ob die Bukowina oder Galizien, Siebenbürgen oder die Vojvodina, ob Czernowitz oder Lemberg – überall entfaltet Kaputtes, Altes, Versehrtes seinen morbiden Charme oder findet sich unter einheitlichem sozialistischem Grau ein „Schmuckstück“ aus vergangener Zeit. Neben der Natur, über die Kiss poetisch zu schreiben weiß („Die Zweige gleichen in Milch getunkten Wurzeln“), sind das vor allem Friedhöfe, die unmissverständlich zeigen, was war und wer nicht mehr da ist, und Menschen. „Schon seit einem halben Jahr sammele ich auf meinen Reisen Gesichter alter Menschen. Ich stecke sie in Alben, ohne Beine, Brüste und möglichst ohne Arme, ich versuche, die Zeit an ihnen abzulesen.“

Konstruktion und Dekonstruktion von Zeit und Raum spielen eine wichtige Rolle in Kiss’ präzisen Beobachtungen der osteuropäischen Verhältnisse. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden sowohl am Ziel der Reise als auch auf dem Weg dorthin immer wieder auf Vorhandensein und Tauglichkeit abgeklopft. Zu Hilfe kommen der Autorin dabei skurrile Begebenheiten, zum Beispiel in einer Spielhölle in Uschhorod (heute Ukraine). „Dort, wo die Gegenwart unsicher ist und es sicher keine Zukunft gibt, spielt man am meisten, denn man hat nichts zu verlieren.“ Im Domino gibt es Pornoflipper, gekühlte Getränke und eine freundliche Bedienung, aber keine Toilette; dafür begegnet die Erzählerin, gleichsam als Entschädigung für das Fehlen der sanitären Einrichtungen, der „hässlichsten Frau der Welt, die ich je gesehen habe“; und wer kann das schon von sich behaupten?

Ein wenig aus dem Rahmen fällt der Essay Die englische Schule. Erinnerungen an Gödöllő, Geburtsort der Autorin und Lebensmittelpunkt der geliebten Großmutter. Natürlich gehört auch das ungarische Gödöllő zu Osteuropa, und auch dorthin ist Noémi Kiss, die in Budapest lebt, gereist. Der Ton aber ist hier melancholischer, zärtlicher, sehr viel persönlicher als in den anderen Texten, es fehlen die landeskundlichen, historischen und literarischen Informationen, die sie sonst so großzügig einstreut. Stattdessen unternimmt sie – und mit ihr der Leser – einen Ausflug in die eigene Vergangenheit und zeichnet ein ehrliches, dabei nicht immer schmeichelhaftes, aber sehr liebevolles Porträt ihrer Großmutter, die so vieles für die Enkelin gewesen ist: Lehrerin, Schaffnerin und Köchin ebenso wie Richterin, Metaphysikerin und Tyrannin. Den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit verlässt Kiss im Licht der aufgehenden Sonne mit der S-Bahn, vorbei „an den grünen Stationen, die in meinen Ohren so vertraut und schön klingen“.

Noémi Kiss Essaysammlung ist, was ihr Titel verspricht: ein „Schmuckkästchen“, aber ganz sicher kein schäbiges, sondern eine Schatulle voller Kleinode, von der Autorin sorgfältig poliert und in eine Sprache gekleidet, die vom Philosophischen übers Nüchterne bis ins Poetische changiert und im Leser viele verschiedene Saiten zum Klingen bringt. Ein kleines, feines Buch, das man nicht nur als Osteuropainteressierter und nicht nur zur Reisezeit gern zur Hand nehmen wird.

Doris Roth


Noémi Kiss: „Schäbiges Schmuckkästchen“. Reisen in den Osten Europas. Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöllő – Lemberg – Siebenbürgen – Vojvodina. Europa Verlag, Berlin, 2015, 176 Seiten, 17,99 Euro, ISBN 978-3-944305-97-4

Schlagwörter: Essayband, Besprechung, Reisen, Osteuropa

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Neueste Kommentare

  • 20.08.2015, 10:02 Uhr von bankban: Ungwar (für Uschhorod), Getterle (für Gödöllö)... Wenn nicht einmal die SbZ die deutschen Namen ... [weiter]

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