4. November 2018

Erinnerung jenseits von Nostalgie und Schönfärberei

Wissenschaftler aus Rumänien, der Republik Moldau und Deutschland untersuchen in vier Kapiteln („Vom Trauma zum Text“, „Der Roman der Memoria“, „Zwischen Literatur und Film und „Über Denkmäler – und die Künste“) das „neue“ kulturelle Gedächtnis und ästhetische Erinnern in Rumänien nach dem Umbruch 1989.
Fragt sich, wie „neu“ eine alte Debatte geführt werden kann: Kulturell und ästhetisch durften Gedächtnis und Erinnern in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, zumal in Rumänien immer schon sein, wenn sie im Ergebnis bar jeder politischen Anspielung oder Äußerung waren. Flucht nach innen war nicht verboten, Entfleuchen in den mioritischen Raum erwünscht, Streifzüge in Romantik und Bukolik nicht unterbunden. All das konnte in der kommunistischen Diktatur vonstattengehen und machte das Leben im Hier und Jetzt, den deprimierenden Alltag und die bleierne Realität erträglicher. Demnach mag der Titel des vorliegenden Sammelbandes den Lesern mit einer Affinität zum oder gar Kenntnis der Stimmungslage im östlichen Europa vor 1989 etwas uninspiriert klingen, die einzelnen Beiträge hingegen sind es mitnichten.

Die zwanzig Aufsätze vermitteln Geschichtswissen, das auf individuellen Erfahrungen beruht und Erinnerungsorte begründet. Erst auf diese Weise „externalisiert“, kann das „kulturelle Gedächtnis“ lebendig wirken: „Das Zeugnis als Zwischenglied zwischen persönlicher Erfahrung und Geschichte ist nicht umsonst in letzter Zeit wieder aufgewertet worden“, betont Herausgeberin Michèle Mattusch in ihrer ausführlichen Einleitung. Die Professorin für rumänische, italienische und französische Literatur am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin versteht ihren Sammelband als „Erinnerungs-Projekt“: Den vielen abgehobenen Erinnerungskonzepten fügen die Autoren nicht weitere hinzu, sondern verfahren „geschichtskonkret“ – egal, ob ihr Sujet ein literarisches, filmisches oder künstlerisches ist.
Ersteres findet sich im Text von Dumitru Tucan, der sich dem Genre der Lagerliteratur widmet – große Schriftstellerpersönlichkeiten wie Solschenizyn, Wiesel und Ginsburg zählen dazu. Die Erfahrung des Lagers war auch für den Poeten Oskar Pastior bestimmend, wie Edith Ottschofski in ihrem Beitrag herausarbeitet, indem sie Pastiors Gedicht „abschrankung ißt wegweiser“ interpretiert und den Dichter selbst mit vielen Interviewaussagen zu Wort kommen lässt: „Die ganze Sache mit dem Ausgeliefertsein dort im Lager und dem freien Willen, diese Arena, […], dieser Lagerhof, denn das Lager war gleichzeitig eine Großfamilie und war auch ein Internat – also ohne diese fünf Jahre [gemeint ist die Deportation der deutschen Minderheit aus Rumänien im Januar 1945 in die Sowjetunion] hinge ich nicht so vital an dieser nur scheinbar philosophischen ständigen Aufgabe, den Spielraum zwischen determiniert und indeterminiert mit aller Neugier und mit aller Skepsis und Lust und Angst davor, was da an Text herauskommt, auszuloten.“

Eine literarische Erinnerungsaufgabe löst auch Valeriu Stancu, wenn er der integrativen Kraft des Gedächtnisses anhand von Cărtarescus Romantrilogie „Orbitor“ nachgeht, während sich Florin Oprescus Beitrag dem rumänischen postkommunistischen Roman im Allgemeinen widmet und Sorin Alexandrescu die „hermeneutische Sinnkrise der Gegenwart“, die sich in den Inszenierungen von Gavriil Pintes Theaterstücken auftut, umkreist. Dass Geschichtsvermittlung erst in und durch die individuelle Erfahrung Früchte trägt, zeigt sich aber auch in den Texten, die filmische und künstlerische Themen aufgreifen. In den Beiträgen von Iulia Dondorici, Anke Pfeifer und Heide Flagner steht unter anderem die „Neue Welle“ des rumänischen Films im Mittelpunkt. Filme wie „4 luni, 3 săptămâni și 2 zile“ (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) von Cristian Mungiu, „Medalia de onoare“ (Die Ehrenmedaille) von Călin Peter Netzer oder „Sunt o babă comunistă“ (Ich bin ein Kommunistenweib) von Stere Gulea zeigen, wie man sich im Alltag der Ceaușescu-Ära durchschlug oder arrangierte. Die filmisch eingefangenen Momente eröffnen jungen Erwachsenen der posttotalitären Gesellschaft die Möglichkeit eines differenzierten Umgangs mit der Vergangenheit der Eltern- und Großelterngeneration. Das Erinnern bekommt die Dimension eines Eingedenkwerdens und wird dadurch auch für Nicht-Zeitzeugen erfahrbar.

Der Aufruf zum „Denk mal!“ kulminiert in den Texten über die Denkmäler. Claudia-Florentina Dobre analysiert die politische Denkmalskultur in Rumänien von 1945 bis in die Gegenwart. Nationale Geschichtsmythen, die in der kommunistischen Zeit verbreitet waren und in Denkmälern ihren versteinerten Ausdruck fanden, treiben heute schon wieder seltsame Blüten – darin zeigt sich, dass Europa nicht „in Vielfalt geeint“, sondern im nationalen Konsens verheddert ist. Kritisch betrachtet auch Nicoleta Șerban die Denkmäler für Persönlichkeiten, die in Bukarest nach dem Bankrott des kommunistischen Regimes entstanden sind. Dabei untersucht sie den politischen Anlass und die Einweihungsfeiern der Denkmäler sorgfältig, schließlich verraten diese nicht wenig über die momentane Verfasstheit und Stimmung der Hauptstadtbevölkerung.

Wenn ein Denkmal zur Stimmungsmache missbraucht wird, kann es seine Funktion des „Denk mal nach und blicke mit der Vergangenheit in die Zukunft“ nicht erfüllen. Dann hat es seinen Sinn verfehlt und kann nicht zur Sinnstiftung beitragen. Ein Beispiel, in dem das gemeinsame Gedenken einen positiven Effekt zeitigte, gibt Bernhard Böttcher in seinem Beitrag über Kriegerdenkmäler der deutschen Minderheit im Banat und Siebenbürgen. Für Böttcher sind Denkmäler als „gespeicherte Gedächtnisorte“ genauso wichtig wie Museen und Bibliotheken. Deshalb erkennt er ihr Potenzial, Erinnerungskonflikte zu befrieden, und zeigt, wie das Banater und siebenbürgische Weltkriegserinnern einen wesentlichen Beitrag zur Pazifizierung leisten konnte. Die Formel „Trauern und trauern lassen“ bewirkt, dass die Überwindung alter, nationaler Geschichtsinterpretationen möglich und der Wettbewerb um den Helden- und Opferstatus überflüssig ist. Wenn uns schon die bunte Vielfalt nicht immer eint, kann uns die Erkenntnis zuversichtlich stimmen, dass wir im Trauern existenziell gewiss auf alle Zeiten verschwistert sind.

Ingeborg Szöllösi




Michèle Mattusch (Hg.): Kulturelles Gedächtnis – Ästhetisches Erinnern. Literatur, Film und Kunst in Rumänien. Frank & Timme Verlag, Berlin, 2018, 606 Seiten, 79,80 Euro, ISBN 978-3-7329-0418-1.

Schlagwörter: Buchbesprechung, Literatur, Film, Rumänien, Moldau, Deutschland

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