29. November 2020

Hellmut Seiler: Die Freiheit, den Mund aufzumachen/ Reihe „Lebendige Worte“ (IV)

Hellmut Seiler wurde 1953 in Reps geboren, legte das Abitur 1972 am Honterus-Lyzeum Kronstadt ab und studierte von 1972 bis 1976 Germanistik und Anglistik an der Universität in Hermannstadt. 1985-88 Berufs- und Publikationsverbot in Rumänien, seither in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist Mitglied im Internationalen P.E.N., seit 2014 Generalsekretär dessen Zentrums der Schriftsteller im Exil deutschsprachiger Länder (kurz Exil- P.E.N.); Initiator (2019) des Rolf-Bossert-Gedächtnispreises. Sechs Gedicht-, zwei Kurzprosabände. Etliche literarische Preise und Auszeichnungen.
Hellmut Seiler am 1. Januar 2020 in Acireale, ...
Hellmut Seiler am 1. Januar 2020 in Acireale, Sizilien. Porträt von Éva Seiler-Iszlai

hilfeleistungen

kaum schlag ich die augen auf
muß ich mich schon zusammenreißen
nicht zuzuschlagen

trete ich etwas beiseite
um nicht überrannt zu werden
machen sie einen außenseiter
aus mir

mich immer wieder unter schlägen aufzurichten
was ist das doch auf die dauer
für ein mühseliger
aufrechtgang

ich will mich bloß ausdrücken
und werde schon ausgequetscht

andere reißen den mund auf
und mir reißt man meinen entzwei

äußere ich mich
sind sie außer sich

strecke ich die zunge raus
schnüren sie mir die kehle zu
daß es möglichst lange so bleibe

solange er noch nicht baumelt
lasse ich ihn jedenfalls
auch nicht hängen
(1986; erschienen 1994)

Oder leben

Bedenke: was du auch machst
Und tust: es ist endlich.
Wenn’s endlich vorbei ist,
Gibt es nicht nur nichts mehr zu tun,
Dann ist leider
Auch nichts mehr zu machen. (1999)

Flaschenpost

Nach dem von der ganzen Fernsehwelt bestaunten Sieg der Revolution wurde im Rahmen der Neuen Wirtschaftlichen Richtlinien in der Provinzstadt N. eine Sammelstelle für leere Flaschen und Einmachgläser in einer aufgelassenen Lagerhalle eingerichtet, genaugenommen ein Sammelpunkt, so stand jedenfalls auf dem Schild darüber in roten, ungelenken Lettern zu lesen.

Natürlich war die Begeisterung darüber groß, Aufböden und Abstellkammern wurden aufgeräumt, das teilweise schon jahrelang aufgehobene Leergut hervorgesucht und abgestaubt, kurz, ein Aufatmen ging durch die Bevölkerung, schließlich war dieses Vorhaben schon mehrmals angekündigt worden, doch erst die freigesetzten Kräfte der Revolution hatten seine Verwirklichung möglich gemacht, Schluss mit den hohlen Versprechungen des abgeschafften abscheulichen Systems, jetzt sollten Taten folgen.

Die Lokalzeitung hatte bereits Wochen zuvor auf die außerordentliche volkswirtschaftliche Bedeutung der Einrichtung hingewiesen, und als murrende Stimmen im Volk sich erhoben, wann es denn endlich soweit sei, wurde auf Versammlungen und in Schulen allgemein empfohlen, bis zu jenem Zeitpunkt den Ungeduldigen einfach die entsprechenden Artikel aus der Zeitung vorzulesen, damit sie die Problematik voll und ganz verinnerlichten und bewusstseinsmäßig auf alle Fälle vorbereitet seien.

Zum Eröffnungstag wurde der erste Mai erkoren, Fahnen säumten den Weg zur Sammelstelle, die städtische Fanfare spielte auf und wimpelschwingende Grundschüler, in Zellophan als Flaschen und Einmachgläser verkleidet, sangen klirrende patriotische Lieder. In seiner Ansprache wies der Bürgermeister auf die Perspektive hin, die Nachbarstaaten durch fleißiges Sammeln und Recyclen demnächst zu überflügeln, und er gab seiner Gewissheit Ausdruck, dass die Nation einen Spitzenplatz in der Welt einnehmen werde, sofern sie nur nicht lockerlasse in ihren wissenschaftlich fundierten und von politischer Reife zeugenden Wiederverwertungsbemühungen.

Sodann trat der Verantwortliche des Sammelpunktes vor und verkündete, dass heute kein Altglas angenommen werde, da ja der Eröffnungs- und außerdem ein Feiertag sei. Zwar hatten einige Übereifrige schon vollgepackte Taschen und Rucksäcke herbeigeschleppt, die sie nun wieder nach Hause schleppen mussten, doch war allen so feierlich zumute an diesem neuerungsträchtigen und erfindungsreichen Tag und nach solch fulminantem Start in einer derart wichtigen Sache, dass sie diese Lappalie schnell vergaßen, die Wogen eines überwältigenden vaterländischen Stolzes schwappten unwiderstehlich darüber hinweg.

Am nächsten Morgen war der Andrang an der Sammelstelle unbeschreiblich. Seit dem Vortag war die Zahl der leeren Flaschen erheblich gestiegen, die jetzt alle der Wiederverwertung harrten. Ungefähr zwei Stunden nach der weithin sichtbar aufgemalten Öffnungszeit schob sich das Fenster mit der Aufschrift „ANNAHME“ in die Höhe und der Schnauzbart des Verantwortlichen hindurch. Er gab bekannt, dass durch einen bedauerlichen Engpass in der Belieferung der neueröffneten Sammelstellen mit Flaschenkisten heute geschlossen bleiben müsse. Um weiterhin den reibungslosen Ablauf der Aktion zu gewährleisten, sollten alle ab nächster Woche nur blitzblank gewaschenes Leergut mitbringen, innen wie außen, betonte er mit einer Schärfe, die an abgebrochene Flaschenhälse denken ließ. Die Etiketten sollten sorgsam abgekratzt und die Flaschen und Gläser der Größe nach geordnet abgegeben werden, fuhr er fort. Den Einwand, es gebe doch seit Wochen keinen Tropfen Wasser aus der Leitung, wies er als nicht zur Sache gehörig entrüstet zurück. „Wir sind gerade dabei, die Weltspitze zu erobern, und ein paar Defätisten unter euch sind einfach zu bequem, dafür die geringsten Anstrengungen zu unternehmen!“ donnerte er mit überschnappender Stimme die Kleinmütigen nieder.

Einige wenige Tonnen Altglas wurden wieder in Abstellkammern und Korridoren verstaut und in der darauffolgenden Woche beflissen und geduldig unter einigem wenigen Schwitzen und Ächzen zurückbefördert. Da stand nun knüppelschwingend und sardonisch lächelnd ein Polizist, der für Ordnung und Disziplin zu sorgen hatte.

Leider, tat der Verantwortliche achselzuckend kund, kämen die für den kolossalen und kostspieligen Umbau zuständigen Stellen mit der enormen Nachfrage nicht nach, es sei, man könne es angesichts dieses titanischen Projekts gut verstehen, kein Geld in der Kasse, im übrigen auch auf der Bank nicht, er könne zwar annehmen, aber nicht auszahlen, und das wolle doch keiner der Anwesenden, oder?

Sie mussten ihm recht geben.

Mit dem Hinweis, in der folgenden Woche in alphabetischer Reihenfolge zu erscheinen, um einem sonst unvermeidlichen Chaos zu begegnen, wurden sie entlassen. Als einige, deren Namen mit A anfing, ihre Taschen gleich stehen lassen wollten, gab ihnen der Polizist einen diskreten Wink mit dem Gummiknüppel, und sie verschwanden gleichfalls.

In den nächsten Tagen hielt sich hartnäckig das unerklärlicherweise zustandegekommene Gerücht, der Schwager des Verantwortlichen habe sechs Wagenladungen Altglas nach der Sperrstunde ausgekippt, die Annahmestelle mit dicken Geldbündeln verlassen und zwei Nächte hindurch in mehreren besseren Lokalen der Stadt fest gezecht. In der Lokalzeitung erschien ein Dementi: wie könne man einem so verdienst- und verantwortungsvollen Helden der Revolution wie dem Verantwortlichen solche Schandtaten in die Schuhe schieben wollen samt der verleumderischen Behauptung, er lebe auf einmal auf überraschend großem Fuß? Habe man denn seine flammende Rede vor dem Reiterdenkmal in jenen heißen Tagen völlig vergessen? Und seine drei Fernsehauftritte? Es handele sich hier um dunkle Machenschaften ausländischer Neider und deren Lakaien.

Im Anschluss an den Grundsatzartikel wurde eine Vorläufige Bilanz der Wiederverwertungsstellen veröffentlicht, aus der hervorging, dass diese im Vergleich zum Vorjahr eine eintausendprozentige Umsatzsteigerung zu verzeichnen hätten, die sich laut Expertenprognosen in Zukunft noch verdreifachen würde.

Die Woche darauf umstellte ein mittleres Polizeiaufgebot die Sammelstelle rund um die Uhr.

Nachdem in diesem Ring keine undichte Stelle gefunden werden konnte, zog die Menge mit ihren Taschen und Rucksäcken immer weiter werdende Kreise um den Punkt, bis eines Nachmittags ein junger Mann die Aufmerksamkeit der Beladenen mit schallendem Gelächter auf sich lenkte. Er winkte die Verschüchterten zu sich heran und unterhielt sich flüsternd mit ihnen. Daraufhin sahen die Polizisten zu ihrem Erstaunen die Flaschenträger auf den Fluss zugehen. Für diesen Fall hatten sie keine Befehle erhalten, also ließen sie sie ziehen.

Fieberhaft wurden Korken hervorgeholt, auch sah man den jungen Mann in aller Eile etwas auf Zettelchen schreiben, die er der Reihe nach seiner Brusttasche entnahm.

Dann warfen alle die Behälter mit allen Anzeichen der Erleichterung ins Wasser.

Und so schaukeln Tausende von Flaschen aller Farben und Größen, sauber geschrubbt und ohne Etiketten flussabwärts in Richtung des Stromes, der ins Meer führt, und künden mit wippenden Hälsen vom Umdenken und der Erneuerung dortzulande.

Auf den Zetteln, die jeder Flasche beigegeben sind, steht der Aufruf: „NEHMT UNS AUF! GEBT UNS AB!“
(aus: „Glück hat viele Namen“, Esslinger Reihe, 2003)

Mein Großvater und ich

Nachdem mein Großvater mit knapp 68
dem Foltergefängnis Jilava äußerst knapp
entkommen war, ging er vor seinem,
mittlerweile dessen Haus gegenüber
der Kirchenburg, einigermaßen
aufrecht auf den Tierarzt zu, der sich
nach den Enteignungen ebenda
fein eingerichtet hatte im Namen
der Gerechtigkeit; mit ausgestreckter
Hand, erzählt man sich, er hätte ihn
fast umarmt.

Dieses Haus, das achtunggebietendste
in der Gemeinde, habe ich, zweimal
zwanzig Jahre später, nach der Rückgabe
durch den zweiten Unrechtsstaat, leicht
fertig verscherbelt zum Preis eines Plumps
klos; ausgerechnet an dessen Tochter, und
wir besiegelten das saubere Geschäft,
den sanften Übergang materieller Werte
in die Wertlosigkeit,
mit einem Handschlag.

„Verstehen lässt sich das Leben nur
rückwärts gelesen; leben aber muss man es
vorwärts.“
(aus: „Dieser trotzigen Ruhe Weg“, 2017)

Beim Frisör

Schon als Kind waren Frisöre für mich Autoritäten, denen man sich nur in Ehrfurcht und mit einem gewissen Bangen näherte. „Ihr müsst euch mit der Nuller stutzen lassen!“ hieß es da, und das bedeutete: kahlscheren. Das war außerdem billiger und von dem Gesparten konnte man sich einen roten daumengroßen Hahn aus gebranntem Zucker zum Lutschen oder ein Speiseeis kaufen. Es brachte also Vorteile, auf den Frisör zu hören, das bekamen wir Kinder bald spitz. „Oder wollt ihr definitiv den totalen Scheitel?“ konnte er einen mit dröhnender Stimme anfahren. Der drohende Ton machte auf die verheerenden Folgen aufmerksam für den Fall, dass man eigene Irrwege beschritt, auf denen einen die Ratschläge nicht mehr erreichten, die er kostenlos erteilte. Man wäre also schlecht beraten, sich seinen wertvollen Empfehlungen und Hinweisen zu entziehen, das begriff ich damals auch.

Nun, da ich im Alter etwas vorgerückt bin und mein vielseitig entwickelter Scheitel unübersehbar fortschreitet und bereits bedenkliche Ausmaße angenommen hat, holte ich mir – der Warnung des Experten aus der Kindheit eingedenk – bei einem bekannten Frisör der Stadt, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kosmetologie, Rat, wie dem zu begegnen sei.

„Die wirksamsten therapeutischen Maßnahmen zielen ausnahmslos auf eine Förderung der Durchblutung der Kopfhaut“, dozierte dieser, „es ist daher zweckdienlich, in regelmäßigen Zeitabständen auf dem Kopf zu stehen – in dieser Stellung ist der Blutandrang in den oberen Regionen besonders groß.“ Derartig belehrt, bedankte und verabschiedete ich mich. Seither befolge ich unbeirrt diesen Rat; zumal ich schon beim ersten Mal hinter den enormen Vorteil, den diese Position bietet, gekommen bin, nämlich: die Umgebung aus dem einzig angemessenen Blickwinkel zu betrachten.
(1984, mehrfach veröffentlicht)

Hamruden, einen Spaltbreit offen (2017)

Horst Frieder Lang zugeeignet

Schwergängig, das hohe Haustor, die Fensterläden aber
wie frisch gestrichen – grell lila, die Fassade apfelgrün.
Ein kalter Hauch aus dem Brunnenschacht, der Eimer an der Kette
fehlt. Die Tür zur Sommerküche steht einen Spaltbreit offen,
der Plastikvorhang weht davor. Auf dem Spaltklotz räkelt sich
eine Katze. Hinter dem Gatter wankt der Batull-Apfelbaum,
die Wunde unter dem Knie vor sechzig Jahren ist zu spüren.
Keiner stolpert mehr übers dicke L, die Krücke über den Morast.

Im Pfarrhaus gegenüber trage ich mich ein ins Gästebuch.

Der Zigeunerjunge

Ein Gedicht in Prosa

Wenn Voki, wie wir Volkmar nannten, „von oben“
auf Besuch kam einmal im Jahr, waren das Festtage:
er brachte Jaffa-Orangen in kleinen Kistchen mit und –
vor allem – Kaugummi, in Siebener-Packungen,

die rochen so frisch! Ich zerteilte den Streifen, der grad
dran war, mit einem Messer in 8, später 16 Rechtecke,
hatte so Vorrat bis zum nächsten Besuch, oder jedenfalls:
fast! Atem raubend: die neuen Autos, ein FIAT 1300

diesmal. Damit fuhren wir tags darauf nach Kronstadt!
Im Wageninnern roch es nach der großen weiten Welt,
nach Kaugummi. Wir hörten – ich war elf, und saß
vorne! – die Schlager der frühen Sechziger:

„Mexico Guitar“, „Marmor, Stein und Eisen bricht“,
„Zwei Augen voll Sonnenschein“, „Es gibt kein Bier
auf Hawaii“, „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“.
Volkmar sang, Elfriede, seine Verlobte im Fond,

sang mit. Am ärmlich besiedelten Dorfrand von Rotbach
tat es einen Schlag. Ein dunkler Körper prallte gegen
die Windschutzscheibe und verschmierte sie hellrot.

Als der Wagen zum Stehen kam, rollte der Körper
wie ein Bündel über die Motorhaube nach vorn und
verschwand. Wir stiegen aus, eine Schar Saatkrähen

erhob sich krächzend über die Dächer. Irgendwann kam die Miliz, nahm Personalien auf, der Oberste
von denen sagte mit Blick auf die junge Mutter, die

auf der anderen Straßenseite, umringt von Frauen
in langen bunten Röcken, laut wehklagend sich
die Haare raufte und die Hände vors Gesicht schlug:

„Las‘ că face altu‘!“ („Lasst nur, sie macht schon
einen anderen!“) – und spuckte aus. Aus der Ferne
pfiff eine Dampflok. Der Sommer war vorüber,

der Schlager-Sommer war vorbei.

Dobring/Dobârca, Kreis Hermannstadt/Sibiu

A. s. D. (Anno sine Domine) 2020

2. oder 3. Fassung, bevor ich sie endgültig verliere –
Motto: „Frisch geweiht ist die Kirche/dem Untergang“
(H.S.: „Siebenbürgische Endzeitlose“)

I.

„Dieses dem dreieinigen Gott geheiligte Haus
ist im Jahre unseres Heylandes Jesu Christi
1481 anfänglich aus dem Grunde angelegt,
1515 In einen vollkommenen Tempel erbaut,
1599 In den wojwodischen Unruhen verbrannt,
1631 Am verfallenen Gewölbe verbessert,
1741 Zur Verherrlichung der Ehre Gottes erneuert worden.“

Darunter durch ein Loch in der Mauer: noch mehr Vegetation, ungerührt wie die Blicke der drei sich weidenden Kühe
im Kirchenschiff auf den Chor. Das spätgotische Gestühl –
unlängst verfeuert, der Rauch der Bücher beißt auch nicht mehr.
Ohrenbetäubend klaffen die Lücken der herausgerissenen Orgelpfeifen.

II.

Westlich von der Apsis, am schmalsten Stein des „Gottesackers“,
in dem die Schädel dauerhaft bleckend lächeln,
kurz angebunden eine Grabpflegerin. Ebenfalls gehörnt.

III.

Von allen Tierblicken ist er der sanfteste; wie auch, laut HME*,
die Scheiße die friedlichste ist von allen menschlichen Werken.
* Hans Magnus Enzensberger

Schlagwörter: Schriftsteller, Lyriker, Literatur, Gedicht, Siebenbürgen, Lebendige Worte, Hellmut Seiler

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