10. Februar 2021

Ausgesiedelt oder ausgesiedelt worden?

Der Aufruf in der Siebenbürgischen Zeitung an Zeitzeugen zur Schilderung ihrer Erinnerungen an den Exodus und der Artikel „Das Ende der Geschichte?“ von Prof. Dr. Maner haben mich nachdenklich gestimmt und dazu bewogen, einige Gedanken zum Exodus meiner Familie niederzuschreiben. Damit mich Leserinnen und Leser einordnen können: Ich bin Jahrgang 1953, habe meine Schulbildung inklusive Hochschulstudium in Rumänien absolviert, war fünfeinhalb Jahre in führender Position in Rumänien tätig und durfte legal mit Frau und Tochter im März 1983 nach Deutschland aussiedeln.
Reinhardt Schuster: „Die Sachen packen“. Öl auf ...
Reinhardt Schuster: „Die Sachen packen“. Öl auf Leinwand, 95 cm x 120 cm, 90er Jahre. Mit der Vielzahl „übereinander gestapelter Koffer, Taschen, Bündel und Rucksäcke mit Schnallen, Klebestreifen, Handgriffen und Riemchen“ bringt der Künstler den „Koffer-Zustand“ zum Ausdruck, der vielen Siebenbürger Sachsen ebenso vertraut ist wie die Redensart „auf dem Koffer sitzen“ (Franz Heinz). Foto: Roland Rossner
Über die Aussiedlung der Siebenbürger Sachsen ist insbesondere nach 1989 viel geschrieben worden. Eine sehr klare Analyse des Aussiedlungsprozesses stellt aus meiner Sicht der oben genannte Artikel von Prof. Maner dar. Die grundsätzliche Frage, die mich schon immer beschäftigt hat, ist die nach dem Hauptgrund bzw. den Hauptgründen für die Aussiedlung der Mehrheit der Siebenbürger Sachsen. Meine Auffassung hierzu fußt auf eigenen Erfahrungen und vielfachem Gedankenaustausch mit anderen Landsleuten.

Nach meiner Einschätzung umfasst die Migration der Siebenbürger Sachsen aus Rumänien nach Deutschland drei Abschnitte. Der erste Abschnitt ist als unmittelbare Folge des Zweiten Weltkrieges einzustufen, der zweite deckt die Zeit des Sozialismus ab und der dritte die Periode nach dem Fall des Eisernen Vorhanges. Da ich nun selber das Glück oder das Pech hatte, je nachdem wie man es sieht, in der sozialistischen Ära geboren zu werden und aufzuwachsen, werde ich auch nur diese Zeit als Rahmen für meine Betrachtungen heranziehen. Es war die Zeit, in der die deutsche Minderheit in Rumänien ihre bürgerlichen Rechte wieder zurückbekommen hatte. Die kommunistischen Herrscher führten neue wirtschaftliche Strukturen ein, die sowohl die Minderheiten wie auch die mehrheitliche rumänische Bevölkerung betrafen. Die deutschen Schulen und kulturellen Einrichtungen durften sich weitgehend ungestört entfalten, die Kirche verstärkte wieder ihre Wirkung in der sächsischen Gemeinschaft, es gab deutsche Zeitungen wie auch Radio- und TV-Sendungen in deutscher Sprache. Selbstverständlich geschah dies alles unter dem strengen ideologischen Auge der kommunistischen Führung. Ab Mitte der sechziger Jahre setzte eine, wenn auch nach heutigen Maßstäben bescheidene, wirtschaftliche Entwicklung ein, die bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre anhalten sollte. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ging auch eine bestimmte Liberalisierung in der Gesellschaft einher. Von diesen positiven Entwicklungen profitierten selbstverständlich auch die Mitglieder unserer siebenbürgischen Gemeinschaft: durch bessere Verdienstmöglichkeiten und ein differenzierteres Materialangebot setzte für damalige Verhältnisse eine rege private Bautätigkeit ein, der Wohnkomfort nahm durch neue Gestaltungs- und Ausstattungsmöglichkeiten zu, die Berufsausbildungs- und Studiermöglichkeiten standen jedem, unabhängig von seiner sozialen und ethnischen Herkunft offen. Sofern man sich regelkonform verhielt, was für die Siebenbürger Sachsen naturgemäß weitgehend galt und gilt, brauchte man auch keine Repressalien zu fürchten. Diskriminierungen am Arbeitsplatz aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit waren so gut wie nicht gegeben.

Und dennoch nahm der Drang zur Aussiedlung nach Deutschland mit Ablauf der Zeit immens zu. Warum war das so? Nun, dafür gibt es sicherlich vielfältige Gründe. Als wesentliche Motivation für die Aussiedlung habe ich jedoch drei Hauptfaktoren empfunden.

Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Rumänien und der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1967 nahmen die Besuche von Siebenbürger Sachsen aus der Bundesrepublik in Siebenbürgen zu. Bei diesen Gelegenheiten vermittelten die Besucher den etwas weniger weltgewandten Sachsen in ihrer Heimat das Wohlstandsbild Deutschlands und die damit verbundenen Verwirklichungschancen jedes Einzelnen. Parallel dazu verlief der wirtschaftliche Niedergang im sozialistischen Paradies ab etwa Ende der siebziger Jahre, der zu Perspektivlosigkeit führte und gleichzeitig die Schaffungsmotivation des Einzelnen hemmte. Als Drittes möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die Bestrebungen vieler Siebenbürger Sachsen zur Familienzusammenführung durch die Aussiedlungen ab den fünfziger Jahren stetig zunahmen, zumal sie auch außerhalb des ersten Verwandtschaftsgrades ausgeweitet wurden. Allerdings dürfte das Motiv der Familienzusammenführung vielfach ein vorgeschobener Grund gewesen sein. Zu den genannten, aus meiner Sicht wichtigsten Gründen gesellten sich die ordnenden politischen Rahmenbedingungen für die Aussiedlung, die aus den Verhandlungen der beiden betroffenen Staaten resultierten, der von der Landsmannschaft ausgeübte Druck pro Aussiedlung, wie auch vereinzelte Repressalien durch den rumänischen Staatsapparat. In diesem Kontext fand die Aussiedlung meiner Familie statt, die im Rückblick ziemlich unspektakulär verlief. Nach dem frühen Tod meines Vaters 1975 konnte meine Mutter 1977 nach mehreren Anläufen zu ihrer Schwester und ihrem Bruder zu Besuch in die Bundesrepublik reisen. Endgültig abgesprochen war ihr Verbleib in der Bundesrepublik nicht, was aber nahe lag. Meine Mutter war in Deutschland angekommen, hatte aber ihre Entlassung aus der rumänischen Staatsangehörigkeit noch nicht beantragt, ich steckte im Staatsexamen, meine Frau arbeitete als Erzieherin in Kronstadt und unsere kleine Tochter Birgit befand sich in der Obhut ihrer Großeltern auf dem Lande. In Kronstadt durften meine Frau und ich uns ein Dreizimmerappartement mit weiteren zwei Familien teilen. Alles in allem eine verzwickte Situation. Wie mir ein Studienkollege nach der Wende mitteilte, hat er mich nach der Ausreise meiner Mutter im Auftrag des Geheimdienstes beobachtet und über mich berichtet. Ich gehe davon aus, dass seine Berichte zu meinen Gunsten ausgefallen sind, weil mir keine Nachteile auf dieser Basis entstanden sind.

Nach Abschluss des Studiums und einem kurzen Exkurs im Forstamt Talmesch konnte ich zu Beginn des Jahres 1978 die von mir ersehnte Stelle beim Forstamt Mediasch antreten. Gleichzeitig bekam meine Frau durch Tausch eine Stelle als Kindergärtnerin ebenfalls in Mediasch. Eine kleine Wohnung wurde uns durch meinen Arbeitgeber zur Verfügung gestellt. Für den Anfang war zunächst alles in Ordnung. Es war aber auch die Zeit, in der immer mehr Siebenbürger Sachsen die Ausreise nach Deutschland beantragten. Die Lebensverhältnisse verschlimmerten sich zusehends, Lebensmittel wurden teilweise rationiert, Benzin und Diesel waren an der Tankstelle kaum noch erhältlich. Nach einer zugegebenermaßen nicht zu tiefgehenden Analyse unserer Zukunftsperspektiven in Rumänien und der beruflichen Chancen in Deutschland, wozu eine weitreichende Faktenbasis fehlte, haben wir uns letztendlich für die Aussiedlung entschlossen. Es begann nun die zermürbende Zeit zwischen der Antragstellung und Aussiedlung, mit den wirkungslosen Audienzen beim Passamt und den Versuchen, über bestimmte Personen Einfluss auf die Entscheidung über unseren Aussiedlungsantrag zu nehmen. Zu allem Überfluss musste ich 1980 auch noch meinen sechsmonatigen Wehrdienst in einer Einheit für „Spezialfälle“ ableisten. Nach meinen bis dahin ergebnislosen Bemühungen bot mir eines Tages ein Kollege, der über die Jagd gute Beziehungen zum Geheimdienst und der Kreisparteiführung hatte, seine Hilfe an. Auf meine Frage, was sein Einsatz denn kosten werde, sagte er: sollte Deine Ausreise gelingen, kannst Du mir ja eine Gefriertruhe aus Deutschland schicken. Ob nun der Einsatz des Kollegen geholfen hat oder nicht, kann ich bis heute nicht zweifelsfrei beurteilen. Tatsache ist, dass wir irgendwann die Nachricht bekamen, die „großen Formulare“ abzuholen und ausgefüllt einzureichen. Alleine die telefonische Nachricht des Postboten, dass er einen Brief vom Passamt vorbeibringen würde, war für uns und einige unserer Freunde Anlass genug, eine Feier zu starten. Im März 1983 durften wir dann endlich ausreisen. Die Gefriertruhe habe ich dem Kollegen selbstverständlich kurz nach unserer Ankunft in Deutschland geschickt. Er hat mich später auch mehrmals in der neuen Heimat besucht.

Nach unserem Entschluss, nach Deutschland auszusiedeln, und bis zu unserer Ausreise habe ich selbst keine dienstlichen oder sonstige Nachteile erdulden müssen. Kollegen, Mitarbeiter und Vorgesetzte haben sich jederzeit fair mir gegenüber verhalten. Mit vielen habe ich lange Zeit einen engen Kontakt gepflegt, mit wenigen tue ich es auch heute noch. Im Gegensatz zu mir wurde meine Frau ein Jahr vor unserer Ausreise aufgrund ihrer Untauglichkeit für erzieherische Tätigkeiten im Sozialismus entlassen. Dieses Schicksal hat wohl viele Lehrer, Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen ereilt. Zum Schluss die Antwort auf die Frage, ob ich und meine Familie aus freien Stücken ausgesiedelt sind oder durch Fremdeinwirkung aussiedelten. Ich denke, beides gilt. Wir haben uns zwar freiwillig zur Aussiedlung entschlossen, doch ohne den Druck der geschilderten Rahmenbedingungen, zum einen die prekäre Situation in Siebenbürgen und zum anderen die von Ausgesiedelten geschilderten rosigen Aussichten in Deutschland, wäre dieser Entschluss aus heutiger Sicht nicht zustande gekommen. Insofern gilt ausgesiedelt, aber auch ausgesiedelt worden.

Nach unserer Ankunft in Deutschland begann nun die spannendste Odyssee in unserem Leben. Ähnlich dürfte es vielen unserer Landsleute ergangen sein. Deshalb halte ich Integrationserlebnisse zumindest genauso interessant, wenn nicht sogar viel spannender als Exodusgeschichten. Der Eigliederungsprozess der Siebenbürger Sachsen in Deutschland hat viele Facetten. Dazu zählen neben der kulturellen und wirtschaftlichen ebenso die soziale, politische und strukturelle Integration. Je nach Betrachtungsweise kann die Integration unserer Landsleute als abgeschlossen oder noch im Gange betrachtet werden. Vielleicht gibt es demnächst in dieser Zeitung einen Aufruf auch zu diesem Thema.

Horst Karl Dengel, Düsseldorf

Schlagwörter: Geschichte, Exodus, Maner, Auswanderung, Aussiedler, Spätaussiedler, Rumänien, Ceausescu, Siebenbürgen, Deutschland, Rumäniendeutsche

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