17. März 2021

Sieben Blumentöpfe, sieben Schwerter. Impressionen: Carmen Elisabeth Puchianu in der Reihe „Lebendige Worte“ (IX)

Carmen Elisabeth Puchianu wurde am 27. November 1956 in Kronstadt geboren, wo sie im Sinne ihrer evangelisch sächsischen Mutter die deutsche Schule besuchte, das Abitur am Honterus-Gymnasium 1975 machte und anschließend Anglistik und Germanistik in Bukarest studierte. Sie begann ihre Lehrerlaufbahn an einer Dorfschule in Filipești de Târg, Kreis Prahova, ab 1983 konnte sie in Kronstadt an der Honterusschule unterrichten. Seit 1995 hält sie Literaturvorlesungen und Seminare zum Kreativen Schreiben an der Transilvania Universität in Kronstadt. Sie promoviert 2004 über Thomas Mann und erlangt 2016 die Habilitation. Puchianu debütiert als Lyrikerin 1991 mit dem Band „Das Aufschieben der zwölften Stunde auf die dreizehnte“ (Klausenburg Dacia Verlag). 1995 erscheint ihr erster Prosaband, „Amsel – schwarzer Vogel“, bei Lagrev in München. Es folgen weitere Gedicht- und Prosabände sowie germanstische Arbeiten sowohl in Rumänien als auch in Deutschland. Letzterschienene Bücher sind der Roman „Patula lacht“ (Passau: Karl Stutz Verlag, 2012) und „Die Professoressa. Ein Erotikon in gebundener und ungebundener Rede“ (Ludwigsburg: Pop Verlag, 2019). Sie erhielt einige Preise des Rumänischen Schriftstellerverbandes, dessen Mitglied sie ist, auch ist sie als Theatermacherin der alternativen Szene mit eigenen, experimentellen Inszenierungen bekannt geworden.
Carmen Elisabeth Puchianu bei der „Hades“ ...
Carmen Elisabeth Puchianu bei der „Hades“-Inszenierung zu Joachim Wittstocks 80. Geburtstag im Oktober 2019 auf der Bühne des Gong Theaters in Hermannstadt. Foto: Beatrice Ungar

Aus: „Patula lacht“, Roman, Verlag Karl Stutz, Passau, 2012, S. 37-43

Alle Frauen ihrer Familie waren allein geblieben. [...] Anders als Männer, die vorzeitig verwitweten, kamen Frauen mit ihrer Einsamkeit zurecht. Sie respektierten sich selbst, indem sie so weiter lebten, wie sie es gewohnt waren, bevor sie allein zu leben genötigt wurden. Sie kochten weiterhin und führten ihren Haushalt, selbst wenn dieser etwas eingeschränkt war. Es fiel ihnen nicht immer leicht so zu tun, als gäbe es einen Sinn in all dem häuslichen Getue und Hantieren. Sie ärgerte sich auch jedes Mal, wenn man ihr sagte, sie hätte im Grunde nicht viel zu tun, da sie allein geblieben war. Aber alle vergaßen, dass man wesentlich mehr Zeit brauchte für die ganze Arbeit, die man früher mit jemandem hatte teilen können. Es bestand jedoch darin kein Grund, sich etwa gehen zu lassen oder sich gar dem Suff zu ergeben.

Patula hatte Tiere. Auch ihre Großtante hatte Tiere um sich gehabt. Meist waren es streunende Katzen, die sie aufnahm. Wenn Hil und Patula oder Erzsébet auf Besuch zu ihr fuhren, hatten sie ihre liebe Not mit den Katzen. Hil vor allem mochte die getigerten und gescheckten Tiere überhaupt nicht und versäumte es niemals, sie zu treten oder sonst wie fortzujagen. Sie meinte, Katzen wären falsch und nur darauf aus, sich bei ihrer Herrin einzuschmeicheln. Erst Jahre später, als der Zufall ihnen einen kleinen Kater zugespielt hatte, wandelten sich beide zu ausgesprochenen Katzennarren.

Die Großtante Hanna hatte einmal ein Hündchen von der Straße aufgelesen und danach überallhin mitgeschleppt. Es war ein kleiner Hund, der in ihre Einkaufstasche passte und im übrigen sehr brav war. Patulas Großmutter hingegen hatte keine Tiere, abgesehen von den paar Hühnern, die sie jahrelang im Hinterhof gehalten hatte und die beinahe alle an Altersschwäche und Überfütterung gestorben waren. Stattdessen zog die Großmutter viele Topfblumen.

Erzsébet hatte immer schon einen grünen Daumen gehabt. Sämtliche Nachbarinnen neideten ihr die bunte Sommerpracht vor den Fenstern zum gemeinsamen Innenhof, darin sich sommers das gemeinschaftliche Leben abzuspielen pflegte. Manchen Setzling hatte Erzsébet von ihren Nachbarinnen heimlich entwendet, denn sie meinte, Blumen sollte man weder kaufen noch geschenkt bekommen, sondern sie einfach mitgehen lassen, dann erst entfalteten sie ihre ganze Pracht, deren jedes Pflänzchen fähig war. Sie wusste genau, wann die Grünpflanzen in ihren Töpfen zu gießen, zu kappen oder zu düngen waren und ebenso genau wusste sie, wann man die Geranien aus dem Keller holen musste und wann die Kakteen, damit sie dann den ganzen Sommer über in voller Blüte standen. Und sie wusste noch wesentlich mehr. Sie wusste, dass man mit den Pflanzen sprechen musste, denn auch sie besaßen eine Seele und eben diese war es, die es zu hegen und zu pflegen galt. Aus eben dieser Seele kamen die Blüten und der Duft und die herrlichen Farben. Das alles wusste Erzsébet. Ihre Mutter hatte es ihr einmal vor langer Zeit anvertraut, als sie selbst noch ein sehr kleines Mädchen gewesen war. Es musste im steinigen Garten hinter dem Haus unterhalb des steilen Bergrückens gewesen sein. Ihre junge, aber schon sehr verhärmt aussehende Mutter hackte die harte Erde rings um die Tulpenknollen auf und die kleine Erzsébet mit den blonden Ringellocken, die ihr stets in die Stirn fielen und ihre hellblonden Brauen kitzelten, hüpfte zwischen den schmalen Beeten umher und ließ sich die Geschichte von dem Mann mit den sieben Blumentöpfen und jenem mit den sieben Schwertern erzählen.

„Sieben Blumentöpfe, weißt du, das bedeutet sieben Mädchen und sieben Schwerter …“ „Sage nicht, sage nicht, ich weiß“, schrie die kleine Erzsébet, „das sind sieben Erdklötze, haha, sieben Jungen, was denn sonst, die haben nur Unsinn im Kopf und denken nur an ihre Messer in den Taschen, sagt Lina.“

„Ja, Lina ist groß und weiß Bescheid“, erwiderte die Mutter. Sie fühlte sich plötzlich etwas benommen und schwindelig, weil sie so lange gebückt gearbeitet hatte. Sie setzte sich auf eine kleine Grasnarbe neben dem Tulpenbeet und zog ihre kleine Tochter auf ihre Knie. Die Kleine fühlte sich zugleich fest und weich an, da sie sich ganz eng an ihre Mutter lehnte und mit ihren leuchtenden Augen zu ihr hinauf sah. „Du hast recht, meine Kleine, es waren sieben Mädchen und sieben Jungen. Und natürlich waren die Mädchen alle fleißig und die Jungen alle tapfer. Die Mädchen waren aber auch klug und vor allem das jüngste Mädchen war sehr, sehr klug, während die Jungen, na du weißt schon, Jungen sind eher einfältig …“ „… und dumm“, schrie Erzsébet, und das Lachen beutelte sie, denn sie musste an ihre Brüder denken und daran, wie leicht es ihr fiel, diese zum Narren zu halten. „Und die Väter, die da Nachbarn waren, lebten im Wettstreit, wer von beiden besser dran sei: der mit den Blumentöpfen oder der mit den Schwertern. Da fiel ihnen ein sich zu messen und ihre Jüngsten auszuschicken, die Krone des Königs zu entwenden.“ „Die Krone? Hat Vater nicht auch eine Krone?“, fragte Erzsébet, denn sie hatte einmal ihre Eltern belauscht und gehört, dass der Vater ganz dringend eine neue Krone brauchte. Für eine aus Gold würde es nicht reichen, hatte er gesagt, aber für eine gewöhnliche schon. Und einige Tage später kam er aus der Stadt und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, dass es blechern blitzte in seinem Mund.

Er hatte seine neue Krone verpasst bekommen. „Ja, eine Krone eben, eine für den Kopf. Und das Mädchen machte sich geschwind auf den Weg und holte bald darauf den Jungen ein, der sich mit einer Nussschale abmühte, das Wasser aus einem Bach auszuschöpfen, sonst sah er keine Möglichkeit, seinen Weg fortzusetzen. Das Mädchen hingegen hüpfte ganz einfach auf das andere Ufer und kam bald darauf an den Hof des Königs, wo es sich als Page ausgab. Man hielt das Mädchen tatsächlich für einen Jungen und der König, der selber noch ein junger Mann war, fand großen Gefallen an dem Jüngling, der den König überall hin begleiten durfte, sogar hinunter an den See, wo der König nach der Jagd zu schwimmen pflegte. Als er alle seine Sachen am Ufer niedergelegt hatte und die Krone obenauf, stürzte der junge König in den See und als er ganz weit draußen war, bemächtigte sich der Page der königlichen Krone und machte sich aus dem Staub. Auf dem Heimweg traf er auf den jüngsten Sohn des Nachbarn, der immer noch Wasser aus dem Bach schöpfte und seine Aufgabe vollkommen vergessen hatte.“ „Und der König? Was hatte der ohne seine Krone gemacht?“ „Er ließ den Pagen suchen, aber ehe man ihn finden konnte, fand sich das junge Mädchen am Königshof mitsamt der Krone ein und erzählte dem König die ganze Wahrheit. Da sah er wie schön sie war und verliebte sich sofort in sie und nahm sie zur Frau.“

Erzsébets Mutter hielt am Ende inne und schaute den steilen Berghang hinauf, als sähe sie in eine andere Welt. „Lass uns in die Küche gehen, wir müssen das Essen kochen, die Männer kommen bald nach Hause.“ Sie hob Erzsébet hoch und küsste sie auf beide Augen, danach gingen sie in die Küche. Es roch in der Küche nach Rosmarin und Thymian und nach Kümmel und nach feuchter Erde von der Fensterbank, wo die Geranien standen. „Wenn ich nicht mehr bin, möchte ich unter den Geranien liegen“, sagte die Mutter und lachte.

An einem sonnigen Sommervormittag hörte die kleine Erzsébet ihre Mutter aus der Küche rufen: „Hamar, hamar! Meghalok, meghalok! Schnell, schnell, ich sterbe, ich sterbe!“

Erzsébet wusste nicht, was ihre Mutter damit sagen wollte. Sie hatte öfters gehört, wie Nachbarinnen oder andere Kinder aus lauter Lust und Jux zu brüllen pflegten, dass sie dies oder das zum Totlachen fänden, dass sie vor Lachen sterben würden, deswegen meinte sie, ihre Mutter machte Spaß, oder sie fände etwas zum Totlachen. Dann aber hörte sie ein merkwürdiges Glucksen und Röcheln, die Stimme der Mutter klang verzerrt und fremd, sie wurde leiser und war kaum noch als menschlich erkennbar. Da erschrak das kleine Mädchen und rannte in die Küche. Dort fand es seine Mutter auf dem Fußboden, ihr Körper zuckte fürchterlich und Blut schoss aus ihrem Unterarm Sie musste sich mit dem scharfen Küchenmesser verletzt haben, als dies am harten Knochen einer Kalbshaxe abgerutscht war und die Pulsader getroffen hatte. Erzsébet starrte auf den zuckenden Körper ihrer Mutter und wartete darauf, dass die Mutter etwas sagte. Als der Körper der Mutter plötzlich aufhörte zu zucken, erstarrte und sich gleichzeitig etwas auszudehnen schien, lief die Kleine schreiend aus der Küche. Nachbarinnen kamen und schlugen entsetzt die Hände vor ihre Gesichter, dann huben sie ein mehrstimmiges Wehgeschrei an, dass es bis hinauf zur Forellenzucht am Bach unterhalb der schroffen Berge zu hören war und der Vater und die Brüder alle gerannt kamen.

Der Mutter war nicht mehr zu helfen gewesen. Sie war an der Schnittwunde verblutet.

Danach dachte Erzsébet immer nur daran, wie sie die Mutter unter die Geranien in die Blumenkästen betten würde und dass das ziemlich schwierig werden würde. Damit die Mutter richtig Platz darunter gefunden hätte, wäre eine Riesengeranie nötig gewesen, eine, die es wohl nur im Märchen gab. Die kleine Erzsébet musste zusehen, wie ihre geliebte Mutter in einen vom Vater eigens gezimmerten Holzkasten gelegt wurde. Bevor dieser geschlossen und in die Grube am Friedhof neben der Kirche in der Dorfmitte versenkt wurde, gelang es ihr, eine blonde Strähne ihrer Mutter abzuschneiden. Diese legte sie später vorsichtig in eine Zündholzschachtel und vergrub sie unter der schönsten aller Geranien. Den Blumenkasten nahm sie als Fünfzehn- oder Sechzehnjährige mit in die Stadt und nachdem sie geheiratet hatte, begleitete sie die Geranie in die kleine Wohnung in der Mittelgasse in der Stadt, die sie ungarisch Brassó nannte.

Frühjahr 2000

lyrische Impression nach einem Kurzaufenthalt in Bukarest
für Hildegard

1.
Von dem neuen Frühjahr
ist nur Müdigkeit übrig geblieben.
Alles andere liegt in Frischhaltefolie
verpackt und auf Eis gelegt.
Für später. Sozusagen als eiserne Reserve.
Obwohl:
Eiserne Reserve klingt nicht mehr comme il faut,
aber was kann das Frühjahr schon dafür,
dass Sprache ihr kümmerlich' Bewenden hat?
Im Tontopf keimen faule Vorstellungen
vom besseren Leben
und irgendwann
geht auch er zu Bruche.
Fest steht: Die Blumensamen
verweigern sich dem Gärtner.
Seine Kunst beschränkt sich auf
das Hantieren mit Balkonkästen und Kunstdünger.
Sie wurde ihm geschrumpft.[...]

2.
Und dann weiß man nie,
wann man doch noch Urlaub machen kann:
von der Arbeit, von der Arbeitslosigkeit –
in diesem Frühjahr oder später oder,
ob man wenigstens die Erlaubnis erwirkt,
in den leidigen vier Wänden sein eigener Herr zu sein,
um die Liebesbriefe aus dem Panzerschrank zu lesen,
dass schließlich die Stimmung aufkommt,
deren Name von der Jahreszeit abgeleitet wurde – [...]

3. Mitten im Frühjahr,
aus heiterem Himmel,
will ich es wissen:
Wer aber fühlt den Zahnfühlern auf den Zahn?
Wer rührt an den Stumpf im wunden Fleisch,
dass er prüft, ob Leben darin trumpft oder Todesranken faulen?
Irgendwo in der Stadt wühlen Menschen im Müll:
Er ist zu stattlichen Haufen gediehen,
und sie tun, als läge darunter etwas Unabkömmliches.[...]
Und wieder ist die Frage da:
Wer fühlt den Zahnfühlern auf den Zahn?
Sind das die Menschen ohne Fehl und Tadel,
deren Kunstprothesen klappern und kläffen,
sobald sie die Zähne zeigen?

4.
Das Frühjahr knirscht wie Schnee unter den Sohlen,
wie harter Kies.

Freitagskonzert oder Genese eines Gedichtes
Das neue Programmheft der Philharmonie
ist so kompakt, dass nichts zwischen die Zeilen passt,
kein Atemzug, kein Gedanke, kein Gedicht.
In meiner Reihe sitzen wir zu zweit:
ich und mein Selbst aus den Achtzigern als es noch
keine Dreißig war,
und wie damals will es wieder
Gedichte schreiben über
Instrumentenkakophonien und
Phobien, wie damals eben,
als es keine Funktelefone gab, die alles auf hätten zeichnen können,
außer man verließ sich auf das geschulte Gedächtnis des Spitzels von nebenan.
Nun sitze ich da mit meinem alten und dem neuen Ich:
Das junge sitzt meinem alten Ich
auf der Pelle und zusammen
treiben beide im Wirbel verwirrender Synkopen
und es wird mal dem einen, mal dem andern
zum Kotzen schlecht.
Der Konzertsaal ist überheizt,
Sibelius verheddert sich im Takt und
reißt eine Geigerin vom Stuhl: Sie ruckt und zuckt,
sie röchelt, reckt den Hals, die Zunge lang.
Es ist nicht weiter schlimm, befindet der Dirigent, man setzt erneut
zum Walzer an und wir beide, mein altes und mein junges Ich
auf unsern Plätzen zollen Beifall brav, rufen Bravo, Bravo, Bravo!
Am Ende begibt sich flott das junge Ich
vor mir die Treppen hinab,
ich aber stürze mich zwischen die kompakten Zeilen des Programmheftes,
das ich zusammengerollt mit meiner Rechten fest umklammere.
Zuhause halte ich es wie ein Fernrohr vor das rechte Auge,
um den zweiten oder dritten Horizont nach einem
neuen Gedicht abzusuchen.
Und während später sich der Winter krampfartig über die Stadt erbricht und
Februarschnee zu hohen Haufen zusammenstummen lässt,
liege ich in den Wehen und gebäre unter Kämpfen, unter Krämpfen
dies Gedicht:
entleere so mein altgewordenes Ich
nach langer literarischer Verstopfung.
Der leidige Stopfen – mein junges Selbst,
etwas gebrochen, etwas geknickt, etwas verwirrt:
kein verhutzelter Embryo, kein kan­tiger Nierenstein, ein ekler Auswurf.

Arschtreter Tod

Er verpasst dir den lebensnotwendigen
Tritt in den Arsch
jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Abend,
und wenn du glaubst,
nun kommst du weiter,
bricht die Nacht herein
über dir.

Schlagwörter: Lebendige Worte, Puchianu, Literatur, Lyrik, Prosa, Kronstadt

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