18. März 2021

Musik für alle: Ein Streifzug durch den Nachlass von Paul Richter (1875-1950)

„Unterfertigter Bürgermeister der Stadt Kronstadt bestätige hiermit amtlich, dass Herr Richter Pavel, Leiter des städtischen Orchesters, wohnhaft in Kronstadt, Schwarzgasse No. 27, lesen und schreiben kann. Kronstadt, am 12. Februar 1925.“ Vermutlich benötigte Paul Richter diese seltsame Bestätigung – auf Rumänisch ausgestellt – für ein Visum im Hinblick auf seine Reise nach Amerika von April bis Juli 1925.
Paul Richter. Porträt von Hans Eder ...
Paul Richter. Porträt von Hans Eder
Paul Richter aber konnte noch viel mehr als das, was Bürgermeister Karl Ernst Schnell ihm damals bestätigte: Er konnte aufschreiben, was ein inneres Ohr ihm diktierte. Und die Musik sprudelte bei Richter wie eine nie versiegende Quelle. Komponieren gehörte zu seinem Leben wie Essen, Trinken und Schlafen. Es ist, als hätte er mit der Umwelt über seine Kompositionen kommuniziert.

1875 in Kronstadt geboren, erhielt Paul Richter den ersten Musikunterricht bei Rudolf Lassel, dem Kantor der Schwarzen Kirche. Nach einem dreijährigen Studium am Königlichen Conservatorium der Musik zu Leipzig kehrte er 1900 in seine Heimatstadt zurück und wirkte dort als Pianist, Dirigent und Komponist bis zu seinem Tod im Jahr 1950.

Als Leiter der wichtigsten Musikvereine der Stadt – des Kronstädter Männergesangvereins, der Kronstädter Philharmonischen Gesellschaft und der Stadtkapelle – hat er mit diesen neben den Standardwerken der europäischen Musikliteratur laufend auch eigene Musik aufgeführt.

Im Bewusstsein der Nachwelt lebt Paul Richter heute durch gelegentliche Aufführungen seiner Lieder für eine Singstimme und Klavier, seiner symphonischen Werke (Karpatische Suite, Dritte und Fünfte Symphonie, Klavierkonzert), seiner Orgelsonate und einiger seiner Kammermusikwerke. Richter hat aber nicht nur für den Konzertsaal komponiert, sondern auch für die verschiedensten Ereignisse und Anlässe des öffentlichen Lebens. Er hat damit tief in die Kronstädter Gesellschaft hineingewirkt. Bei Paul Richter fällt auf, dass die Bandbreite der Musikstücke besonders groß ist. Sie reicht vom Marsch für eine Blaskapelle bis zur sensiblen und hochromantischen Kammermusik für Kenner. Es ist belegt, dass die meisten der Werke tatsächlich erklangen, manchmal wohl nur zum gegebenen Anlass, manchmal aber haben sie die Zeiten überdauert. Angesichts der überbordenden musikalischen Begabung dieses Komponisten wünscht man ihm heute noch viel mehr Aufmerksamkeit!

Widmungen sind nichts Ungewöhnliches. Komponisten aller Zeiten haben Gönner und Freunde mit Musik beschenkt und das auf dem Titelblatt vermerkt. Schon sehr früh, 1897, als Student in Leipzig, schrieb Paul Richter eine Sonate für Klavier zu zwei Händen und widmete sie „seinem lieben Lehrer und Freund Rudolf Lassel“. Vier weitere frühe Klavierstücke sind „seiner lieben Schwester Elise gewidmet“.

1923 komponierte er eine Polonaise für Orchester anlässlich eines Balls des „Fortschrittvereins junger Kaufleute“. Dem „Freundeskreis der Stürmer“ und der „Sektion Kronstadt des Siebenbürgischen Karpaten Vereins“ widmete er je einen Tanz-Walzer für Orchester. 1924 komponierte er zwei Märsche für Orchester: Einig macht stark, „Dem Beamten-Verein des Magistrats Kronstadt gewidmet“, und Auf dem Sportplatz, „Zur Eröffnung des neuen Sportplatzes, dem sächsischen Sportverein gewidmet.“ Ein Marsch für Orchester ist „Der Kronstädter Freiwilligen Feuerwehr und ihrem Obmann Paul Tittes zum 50-jährigen Jubiläum gewidmet“, ein anderer „Dem Sportklub Olympia“. Zum 100-jährigen Jubiläum der bekannten Kronstädter Textil-Firmen Scherg & Co. sowie Kamner & Jekelius entsteht je eine Festmusik für großes Blasorchester.

Auch für Begräbnisse hat Richter komponiert. Allein am 13. März 1926 schrieb er zwei Trauermärsche für Blasmusik: Am Scheidewege und Abschied, am Tag darauf gleich noch einen: Erinnerung. Seine bedeutendste Begräbnismusik ist die Trauer-Kantate für Soli, Chor und Orchester op. 105. Richter schrieb sie „Meinem lieben Freund Dir. Jul. Lang zum Gedenken“. Julius Lang, ein guter Freund des Komponisten, war am 22. Dezember 1931 plötzlich einem Herzschlag erlegen. Richter komponierte das hochemotionale Werk in einer Nacht, so dass es schon nach wenigen Tagen bei der Trauerfeier aufgeführt werden konnte. Die Erschütterung ist dem Werk anzuhören. Es ergreift auch heute jeden Zuhörer.

Selbstverständlich widmete Richter mehrere seiner Werke verschiedenen Musikerkollegen. So ist seine Serenade für großes Orchester von 1910 „Der Kronstädter Philharmonischen Gesellschaft und ihrem Dirigenten Max Krause gewidmet“, die zwei Balladen für gemischten Chor (Die Brück´ am Tay und Der Rappe des Komturs) „Seinem lieben Freunde Alfred Nowak zugeeignet“, das Konzert für Cello und Orchester op. 109 „Seinem verehrten Freunde Herrn Kammervirtuosen Adolf Steiner zugeeignet“ und das Konzert für Orgel und Orchester von 1939 „Seinem lieben Freunde Herrn Prof. Franz Xaver Dressler, Stadtkantor u. Organist in der Hauptkirche in Hermannstadt herzlichst zugeeignet“. Den Zyklus Aus großer Zeit für Männerchor und Orchester hat Richter „Dem Kronstädter Männergesangverein und seinem Dirigenten Prof. Emil Honigberger“ im Dezember 1942 gewidmet.

Nicht zu vergessen sind die Widmungen an Familienmitglieder sowie an Freundinnen und Freunde. Daraus kann man heute ablesen, wie intensiv damals Musik im häuslichen Rahmen gepflegt wurde. Schon 1892 schrieb er ein Duett für Violine und Klavier und widmete es „Seinem lieben Onkel, Herrn Pfarrer J. Hubbes“. 1915 entstand das Klavierstück Wiegenlied für meine Tochter Hedwig. Diese Liste kann beliebig weitergeführt werden. Für die eigenen und für die Kinder der erweiterten Familie hat Richter Kammermusik in verschiedenen Besetzungen geschrieben. Sie waren und sind dazu angetan, die Freude am Musizieren zu fördern.

Richter verbrachte seinen Lebensabend in Neustadt bei Kronstadt. Es waren die Jahre der Russlanddeportation, der auch zwei seiner Kinder zum Opfer fielen. Geprägt waren sie durch Krankheit und materielle Not, die sich in erschütternden Briefen offenbart. In dieser Zeit schrieb er eine Kammer-Musik für Klavier, 2 Klarinetten, 2 Pistons und Streicher und widmete sie „Herrn Piringer und seinen Musikgenossen in Rosenau“. Es ist eine ungewöhnliche Besetzung: keine Blasmusik und auch kein Kammerorchester – eben das, was 1948 in Rosenau noch zur Verfügung stand. Trotz allem, die Quelle war nicht versiegt! Paul Richter bediente zeit seines Lebens alle, die Musik machen wollten.
Grabmal von Paul Richter, aufgenommen am 1. ...
Grabmal von Paul Richter, aufgenommen am 1. November 2016.
Angesichts so zahlreicher Kompositionen fragt man sich heute, wie Richter es geschafft hat, dieses Arbeitspensum zu bewältigen. Er war sehr fleißig und äußerst gewandt im Komponieren. Dazu hatte er bestimmt gute Mitarbeiter, sprich Notenschreiber. Auf der Partitur eines Trauermarsches lesen wir folgenden Brief: „Lieber Herr Zinke! Wären Sie so freundlich, diesen Marsch bis morgen heraus zu schreiben (auf Marschbüchel-Papier)? Ich möchte ihn morgen nach der Theaterprobe versuchen. Er ist für die Leiche um 4 Uhr morgen nachmittags bestimmt. Ihr Richter.“ Da hatte Herr Zinke aber Arbeit! Ähnliches wissen wir über das Präludium zur Hundertjahrfeier der Firma Scherg & Co., welche am 10. November 1923 stattfand. Er komponierte das Werk am 5. und 6. November. Vermutlich ging die Partitur tags darauf ebenfalls an Herrn Zinke mit der Bitte, aus der 17-stimmigen Partitur die einzelnen Instrumentalstimmen sofort herauszuschreiben. Das war ein schwieriges Unterfangen bei einer Partitur, die sicher unter Zeitdruck, mit Bleistift geschrieben, eher einer Skizze ähnelt. Zum Proben blieben im besten Fall zwei Tage. Dass sich bei diesem Tempo ab und zu auch Fehler einschlichen, wird nicht verwundern. Wer nur eine einzige Partitur von Richter jemals abgeschrieben hat, muss voller Hochachtung auch heute noch Herrn Zinke bewundern!

Angesichts der vielen Gelegenheits-Kompositionen kann man sich in unseren Tagen fragen: Wäre Paul Richter unser Zeitgenosse und bestellte jemand bei ihm ein Quartett für Blockflöte, Melodika, Altsaxophon und Elektro-Piano, wie würde er darauf reagieren? Wahrscheinlich hätte er auch für diese seltsame Besetzung eine gültige Musik komponiert, zur Freude der Auftraggeber. Es war ihm geschenkt, Musik für alle Ansprüche und Schwierigkeitsgrade zu schreiben.

Zum Schluss noch ein Wort zu Richters Nachlass. In den frühen 1970er Jahren wurde dieser von Hans Peter Türk gesichtet und geordnet. Als Vorarbeit für seine Monographie („Paul Richter“, Bukarest, 1975) stellte Türk ein Verzeichnis aller Kompositionen zusammen, in dem wichtige Daten zu den einzelnen Werken (Titel, Besetzung, Entstehungszeit, Widmungen, Uraufführung, erhaltene Originale und Kopien u. a.) sowie die Anfänge (incipits) der Werke und der einzelnen Sätze als Noten angegeben sind. Dieser Katalog („Catalogul creației lui Paul Richter“, Cluj, 1974) ist heute ein unverzichtbares Werkzeug für alle, die sich über Richters Œuvre kundig machen wollen.

1974 wurde der so geordnete Nachlass von Türk im Beisein von Paul Richters Sohn Wilhelm dem Muzeul Muzicii Brașovene (heute Muzeul Casa Mureșenilor) übergeben. Dann kam die Zeit, als im Zuge des immer rigideren Kommunismus der Zugang zu staatlichen und kirchlichen Archiven der Allgemeinheit, ja sogar ausgewiesenen Historikern, verwehrt wurde. Aus diesem Grund bedauerte man damals in sächsischen Kreisen, dass der Nachlass von Paul Richter an den rumänischen Staat übergeben worden war.

Doch nach dem Ende der roten Diktatur wurde Richters Nachlass in mehreren Schüben von Mitarbeitern des Museums archiviert. Da dies nicht nur durch Fachleute geschah, wurden Stücke verschiedener Komponisten hier vermischt eingeordnet, was das Auffinden einzelner Werke Richters bisher immer erschwerte. Nun ist eine Konkordanz zwischen dem Werkverzeichnis von Hans Peter Türk und den Signaturen in der Casa Mureșenilor hergestellt. Auf diesem Streifzug durfte ich alle Manuskripte und einige Briefe Richters in Händen halten.

Heute sind wir froh, dass Paul Richters Nachlass an öffentlicher Stelle für jedermann zugänglich ist. Man wird von den MitarbeiterInnen des Hauses freundlich empfangen und kann auf Wunsch jedes Werk des Komponisten einsehen und kopieren lassen. Es liegt aber an den ausübenden Musikern, die dort aufbewahrten Schätze auch zu verwerten.

In Türks Werkverzeichnis sind alle bekannten Kompositionen Paul Richters aufgelistet, nicht alle aber befinden sich im Nachlass. Immer wieder ist vermerkt, dass etliche verloren seien. Es besteht die begründete Hoffnung, dass sich einige der als verloren geführten Werke dennoch hier und dort im Privatbesitz erhalten haben. Es wäre im Sinne der Allgemeinheit, wenn diese Werke den Weg zurück in den Nachlass Paul Richters fänden. Dort wären sie für jedermann zugänglich.

Kurt Philippi

Schlagwörter: Musik, Komponist, Paul Richter, Kronstadt

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