11. Juni 2021

Hans Blahm mit einem Auszug aus seinem Erstlingswerk in der Reihe „Lebendige Worte“ (XIV)

Geboren 1938 in Seiden/Siebenbürgen im Kokeltal. Kurz vor ihrer Deportation und meiner Einschulung brachte mir unsere Mutter das Lesen und Schreiben bei, sprachlich dann durch die harte Schule von Frau Breckner am Stephan-Ludwig-Roth-Gymnasium in Mediasch gegangen, Kunststudium relegiert, dann Studienabschluss in Maschinenbau. 1970 Heirat und Übersiedelung in die DDR. Nach Eberswalde, ins siebenbürgisch-sächsische Niemandsland.
Hier voll assimiliert und nun aus dem weithergekommenen Sachsen u.a. auch ein Schreiber, Karikaturist, Nachdenker und hier ein Solist im Wedeln mit dem Fähnchen der siebenbürgischen Aufrechten. Am 3. März 2021 erschien mein erstes Buch „Hin- und Herkunft: Biographische Episoden, Skizzen und Spitzen aus Siebenbürgen und Brandenburg“ bei BoD, ISBN 978-375267-273-2.

Was war der Anstoß für dieses Buch?
Ich bin seit 2002 Mitglied bei den „Eberswalder Geschichtenschreibern“, die halbjährig das Buch „Gestern und Heute für Morgen“ herausgeben. Bis 1970 war ich in Hunedoara im Literaturkreis („Cenaclu literar“) und habe schon aus Sicht meiner Herkunft aus dem Kokeltaler Weinland viel gelesen. So oder so. In Eberswalde wurden die Ohren für meine Geschichten immer größer und nun ist sogar ein Buch draus geworden. Es entstand aus dem großen Bedauern um den befürchteten Untergang der sächsischen Ethnie.

Hans Blahm ...
Hans Blahm
Welches sind die Themen?
Die Handlungsspanne des Buches bezieht sich von meiner Geburt bis in die Corona-Zeit, wälzt sich also sozialkritisch, historisch und kulturell über den rumänischen und DDR-Sozialismus und über die kaum noch erwartete Wende. Im Hintergrund scheint die Vergangenheit eher bescheiden zu schleichen, zwar zum Verdruss des Autors, der aber die Konsequenzen nicht vorgibt, die soll sich jeder selbst herausschälen. Die Präsenz der Siebenbürger Sachsen in dem Land, das Jahrhunderte ihre angestammte und nun fast gewesene Heimat war, hat sich gelichtet wie meine Haare. Die Ursachen dafür sind zwar bedauerlich, trotzdem habe ich die Haare nicht in der Suppe gesucht. Es war nicht alles schlecht, das DDR-Motto der Nachwendezeit gilt auch für Rumänien. Mehr gnädig als mit dem Hammer.

Welches sind die idealen Leser?
Es werden höchstwahrscheinlich die sein, die herkunftsmäßig zumindest gelegentlich mal Heimaterde unter den Fingernägeln hatten, und wie ich, den Geschehnissen unverbissen nachwinken. Allerdings ziele ich in besonderer Absicht auch auf die hiesigen Wurzelechten, denen ich in ihrer Meinungsbildung unter die Arme greifen und gleichnäsig begegnen möchte. Meist wechselseitig korrektiv, wenn nötig.

De Gummibis
Auszug aus dem Buch „Hin- und Herkunft“

Manchmal flattern einem längst erlebte Erinnerungen zu, über die man glaubte, der Nebel der Zeit hätte endgültig alle Türen der Wahrnehmung zugeschlagen. Und dann schält sich ein Detail nach dem anderen heraus, als sei man Archäologe, der im eigenen Gehirn herum gräbt, herumstochert und da doch noch was, oder überhaupt was entdeckt, was zwar für die Allgemeinheit nur eine weitläufige Bagatelle darstellt, aber für den Grübelnden, in diesem Fall für mich, ein wahrer Schatz sein kann. Allerdings sind die Wege dahin oft mehr als rätselhaft und schon gar nicht voraussehbar. So wie auch diese eher bizarre Geschichte noch beweisen wird.

Heute ist der 10. August 2015. Ein Alltagstag, der eigentlich nichts Ungewöhnliches andeuten lassen dürfte. Der hartnäckig anhaltende, beißende Jahrhundertsommer mit seiner tropischen Hitze, lässt sowieso Sinne, Verstand und sogar die Phantasie eher erlahmen, als überhaupt etwas zu beflügeln. Aber mein Sohn Jürgen hat in Mecklenburg auch keine kühleren, dafür aber drei arbeitsfreie Tage. Diese will er nutzen, um uns mal wieder zu besuchen.

Ich schalte ARD ein. Im Morgenmagazin kann mir der Eberswalder Wettermoderator Benjamin Stoewe, auch keine Hoffnung auf Abkühlung machen. Für einen selbsternannten Lokalpatrioten, wie mich, könnte er doch ein wenig an Petrus seiner Stellschraube drehen. Das würde der liebe Gott doch gar nicht bemerken. Oder, soll ich mich etwa bei seiner Mutter, bei Frau Stoewe, beschweren? Es klingelt. Und da ist ja Jürgen schon, pünktlich zum Kaffee. Als Kind in einer halben Lehrerfamilie neupreußisch erzogen und nun in der heutigen rauen und schnellen Zeit auf der Autobahn fast beheimatet. Sein Interesse an raffiniertem Gebäck, wie Schwarzwälder Kirsch- oder Donauwellentorte ist wegen seines anfänglichen Diabetes eher mäßig. Also bleibt mehr Zeit für verbale Betätigung der Sprachorgane. Neuigkeiten austauschen oder altes und uraltes Geschehene wiederkauend aufleben zu lassen. Wir sitzen alle drei am Tisch, also Jürgen, eigentlich der Stiefsohn, meine Frau Sabine und ich. Da kommt schon ein themenübergreifendes und auch familiäres Geplauder heraus. Jürgen wohnt mit Familie im nicht so sehr prosperierenden Mecklenburg bei Bützow, ist seit vielen Jahren LKW-Fahrer für Gefahrengüter-Transporte. Tagtäglich, ob bei Schnee, Hitze oder Regen, kreuz- und quer durch ganz Deutschland. Fast als Exot, denn sonst fahren auf den hiesigen Autobahnen ja meist nur ausländische LKWs. Ein anstrengender, aber sicherer Job und erlebnisreich dazu, denn schon autobahnmäßig ist kein Tag wie der andere. „Äktschen-Garantie“ pur im Arbeitsvertrag quasi inklusive. Und viel Risiko ist auch dabei, da die Hemmschwellen auch im Straßenverkehr immer niedriger werden. Auf den Rastplätzen der Autobahnen ist das Verbrechen längst Alltag, bzw. Allnacht geworden. Da hat man schon was zu erzählen in dieser, immer aufregender und extremer werdenden Zeit. Und wir ja auch, über unsere Rentner- Zeitnot, Wehleiden, politische Merkeleien und Krakeelereien und ich eben darüber, dass ich meine Freizeit mit Geschichtenschreiben, Karikaturen und Garten, vielleicht sogar sinnvoll und immerhin ruhiger verbringe.

Aber ich merke auch, dass Jürgen diesmal, mehr als sonst und immer wieder weit zurückschweift, sogar bis in die Zeiten der 70er Jahre, als wir in den Ferien, als ich noch mit seiner Mutter verheiratet war, sehr oft nach Rumänien gefahren sind. Hin in dieses ­anders geartete und anders wahrnehmbare Land, für uns die weltunerfahrenen DDR-Bürger, ein mit Ungeduld erwarteter Event. Das Ziel war hauptsächlich mein Geburtsort Seiden bei meinen Großeltern, aber auch die Karpaten und auch die Gegenden der echten rumänischen Urwüchsigkeit, wo man vielleicht den Dracula suchen könnte, ihn aber nirgends finden wird. Ahne aber noch nicht, warum er immer wieder, passend oder nicht, einen Schwenk zu diesen Erlebnissen von damals macht. Er erzählt noch sehr begeistert und erstaunlich detailbezogen von dieser eigenartigen, sehr dörflich rustikalen, freundlichen und eigentlich damals noch heil anmutenden Welt. Dort konnte man als Kind auf den exotischen Wasserbüffeln reiten und sogar frisch gemolkene Büffelmilch trinken, das Trinkwasser mit dem Ziehbrunnen hochholen, in ganz große Weinfässer hineinkriechen, den Ziegenbock ärgern, in der großen Scheune zu Hans-Onkels Ärger auf dem Heu herumspringen usw., und noch viel, viel mehr. Und Spielkameraden gab es dort genug, sogar mit eigenartig komisch klingenden Deutschkenntnissen, wie er sagt. Mit seinem Bruder Michael und dem Gerry und Hans-Werner, den altersmäßig passenden Söhnen meiner Cousine Susi, waren sie ein eingespieltes Quartett, versanken oft ganz in der neuen Spaßwelt und noch mehr im Unfug. Jürgen meinte, dass Gerry und Hans-Werner sich von ihm sogar einige Berliner Ausdrücke angeeignet hätten. Leider umgekehrt nicht, oder doch, denn noapte bună – das ist aber rumänisch, also Gute Nacht, das kennt er auch heute noch. Jetzt trifft er an den Autobahn-Parkplätzen oft auf rumänische LKW-Fahrer, die nur Rumänisch oder Englisch sprechen und für Hungerlöhne zu unserem hiesigen Wohlstand beitragen. Eine gesellschaftliche Schieflage, wie vieles unverständliche auf dieser Welt.

Mitten in der Kaffeerunde greife ich zum Bücherregal, das direkt über dem Tisch hängt und verpasse ihm ein chinesisches Wörterbuch. Aber er meint, noch keinen chinesischen Lkw in Deutschland gesehen zu haben. Noch nicht, sage ich. Die Schlitzaugen werden immer schlitzohriger, sage ich! Haha! Also kein Bedarf! Aber chinesisch Essen, das mag er sehr. Dann weise ich noch auf die rätselhafte Tatsache hin, dass Mecklenburg und Rumänien, außer uns beiden, noch eine weitere Gemeinsamkeit haben – die gleichen Landesfarben, also die Fahne mit rot-gelb-blau, den Regenbogen. Und als sei das nicht genug, im Wappen sogar einen Stierkopf, den Ur-Ochsen. Na sowas! Übrigens erwähnte ich, dass ich mir bei der Grünen Woche von einer Tierfarm aus Mecklenburg echte Büffelsalami gekauft hatte. Super! Erinnere aber auch an diesen vertrauten Blick der großen Büffelaugen. Als Kind glaubte ich immer, mich über die Augen mit den Büffeln verständigen zu können. Ja, eine gemeinsame Deutung zu haben: büffel- bzw. menschmäßig.

Nach einigen weiteren Floskeln und Alltäglichkeiten, ist die Zeit schon um. Er will ja noch für seine Mutter, die Ex-Lehrerin, einkaufen, die das nicht mehr so gut kann. Aber es war eine aufmunternde Kaffeerunde, rückblickend und mit einem belebenden Auftischen, dessen was mal war – den vielen gemeinsamen Erlebnissen. Dann verabschieden wir uns. Sabine bleibt noch am Küchenfenster winkend und Jürgen lädt mich mit einem verschmitzten Augenzucken regelrecht ein, bis zum Auto auf den Parkplatz mitzukommen. Nanu, dachte ich, hat er etwa doch noch ein Geschenk für uns? Dann sagte er noch auf halber Treppe und mit einer lässigen, hintergründigen Mine: „Ich will dir noch was zeigen! Ich habe eine Waffe im Kofferraum!“ Blitzartig durchquerten und durchkreuzten sich alle möglichen Strähnen in meinem Gehirn, glaube aber, spontan und entrüstet, gesagt zu haben: „Was soll denn der Blödsinn!“ Aber irgendwie kam mir unwillkürlich die Sache mit seinen Gefahrengüter-Transporten, aber auch unsere immer hemmungsloser und brutaler werdende Welt in den Sinn. Vielleicht ein Selbstschutz, Sicherheitsvorkehrung bei nicht so seltenen nächtlichen Überfällen auf den Rastplätzen? Dann fing er wieder an, verschmitzt zu lächeln und schon standen wir vor dem Kofferraum seines Autos.

Spannung pur bei mir! Klick und der Kofferraum öffnete sich wie das Maul eines Walrosses, schien aber auf meinen ersten Blick eigentlich ganz leer zu sein. Jürgen zeigte beidhändig hin, wie ein Museumsführer, der auf ein frühhistorisches Exponat hinweisen will. Mittendrin stand nicht die vermutete prophezeite Waffe, sondern „de Gummibis“! Also eine Katapultschleuder, hier Katschi genannt und die heißt auf Siebenbürgisch-Sächsisch eben „de Gummibis“.

Das Wort „Bis“ stammt aus der Zeit des Alt-Niederdeutschen, als die Siebenbürger im 12. Jahrhundert eingewandert waren, und bezeichnete damals eine Büchse, also Gewehr oder Waffe. Jürgen krümmte sich fast vor Lachen, ergötzt vom Gelingen seines Späßchens, aber auch fast um Anerkennung für diese Überraschung heischend. Von oben hinter der Küchengardine schüttelte Sabine unwissend den Kopf und auch die Schultern, nicht ahnend worum es überhaupt gehen könnte und wieso ein völlig leerer Kofferraum so ein Lachen verursachen kann. Natürlich ging Jürgen davon aus, dass ich die „Gummibis“ wieder erkennen müsste. Ich konnte mich aber nur an die damit verursachten Schandtaten erinnern, war noch immer benommen von dieser völlig ausgefallenen Überraschung, sprachlos und irgendwie noch nach mir suchend. Aber dann halfen wir uns gegenseitig unsere gemeinsamen Erinnerungen auf die Beine zu bekommen und meine zu Ochsenaugen erstarrte Sicht war wieder da. Ich betastete „de Gummibis“ fast unglaublich. Ja, das war damals die etwas aristokratischere Machart. Kein Schlüpfergummi, sondern zugeschnittene Vollgummi-Streifen, die unser Ditz-Onkel aus der Stadt Mediasch besorgt hatte und wahrscheinlich, das Leder auch. Der Griff war sehr gekonnt bearbeitet und sogar mit stabilen Metallringen umfasst. „Weißt du, von wo ich die habe? Die hatte mir Geri damals 1971 in Seiden geschenkt!“ Geri, eigentlich Gerhardt, ist der Sohn meiner Cousine, und hatte schon damals ein auffälliges Basteltalent. „Ist das etwa die gleiche Gummibis, mit der ihr unserer Nachbarin, nur die dicke Hebamme genannt, das Gurkenglas zerschossen hattet und es dann zaunübergreifenden Ärger gab?“ Ja, genau so sei es gewesen, ergänzte Jürgen, fast mit historisierendem Pathos. Aber er sei ja Gast und dazu noch aus dem Ausland gewesen und so hätte Geri den ganzen Ärger allein abbekommen.

Die Hebamme hatte es auch nicht so einfach gehabt. Sie war 1945, wie viele, und auch meine Mutter, nach Russland zur Zwangsarbeit deportiert worden, kam aber nach einigen Jahren heil nach Hause, sogar mit einer Balalaika. Auf der durften wir manchmal zusammen mit dem Deibel Fritz, ihrem Neffen, herumklimpern, aber sie konnte es ja auch nicht besser. Die Frau hatte dort sogar einen Beruf gelernt, in einer Entbindungsstation, also helfend bei der Geburt neuer Russen. Eine Art Wiedergutmachung der besonderen Art, oder? Im Zuge der kommunistischen Umgestaltung wurden auch in Seiden neue kommunale Einrichtungen geschaffen, somit auch eine „maternitate“-Entbindungsstation, die unsere Nachbarin leiten sollte. Auserkoren dazu wurde das große Haus des ehemals reichen Herrn Spiri. Also, enteignet und basta! Als sich später die Hebamme ein neues Haus bauen wollte, kursierte im Dorf sogar das Gerücht, sie hätte das nur tun können, weil sie im Keller dieses Hauses einen Schatz gefunden hätte. Ganz so abwegig war das allerdings nicht, denn in diesem großen Weinkeller des Spiri-Hauses, das nun von der Staatsfarm bewirtschaftet wurde, hatte es einen echten und seltsamen Fund gegeben. Arbeiter des staatlichen Weingutes hatten wertvolle Goldmünzen gefunden, die sie dann über einen deutschen Landtagsabgeordneten, der aus Seiden stammte, konspirativ in den Westen geschmuggelt hatten. Wahrscheinlich waren sie sich mit der gerechten Aufteilung des gefundenen Schatzes nicht einig und so flog alles auf. Die rumänische Justiz erwies sich aber gnädig, Münzen zurück, also heim aus dem Reich, und Schwamm drüber. Also, alles wie im Krimi, aber echt wahr. Ja, an solch dunkel-mysteriöse, fast kriminelle Geschehnisse konnte sich Jürgen nicht mehr so erinnern, dafür aber an viele bizarre Erlebnisse, wie die mit der Gummibis und an die dicke Nachbarin. Vielleicht wurde mit dieser Gummibis auch über den Seidener Bach drüber weggeschossen und ein Dachziegelstein der Barth-Scheune musste daran glauben oder ein Huhn. Das war schon ein Wunderding, so ein Spielzeug aus der längst vergessenen und hinter den Bergen versteckten siebenbürgischen Welt. Aber immerhin hat es das Prinzip der Gummibis schon zu Großvaters Zeiten gegeben. Oder noch viel früher, denn schon Leonardo da Vinci hatte sich ja eine große Schleuder ausgedacht. Aber zu Großvaters Zeiten weiß ich nicht, von wo sie damals den Gummi genommen hatten. Von den Damenschlüpfern wahrscheinlich nicht, denn die tauchten in Seiden erst in den 30er Jahren auf. Bis dann galt unten ohne, meinte mein Onkel, der Komma-Fritz, und der wusste, als ober- und untergründiger Kulturgeist des Dorfes und bekannter Charmeur, sicher Bescheid, was über und unter den Röcken verborgen war!

Ja, und nun, wie weiter mit der Gummibis? Für Jürgen ist das der Inbegriff der unvergesslich schönen Ferientage in Seiden. Jürgen ist schon sieben Mal umgezogen, das heißt sieben Mal den Haushalt aussortiert und reduziert, vieles flog in den Müll, aber nicht diese einmalige, einzige, wunderbare, ja zeithistorische Gummibis, ein Relikt aus herrlichen und erlebnisreichen Kindeszeiten und Zeitdokument zugleich. Dann erzählte ich, weiter vor der weit offenen Kofferraumklappe stehend und mit der Gummibis hantierend, dass die Siebenbürger Sachsen in Sachen Geschosse und sogar Raketen eigentlich vorbelastet sind. Mitte des 16. Jahrhunderts erfand der Conrad Haas in Hermannstadt, das Prinzip der Mehrstufenrakete. Und nicht nur das, er erfand dafür sogar das Wort „Rakete“. Da staunte Jürgen und meinte, ich sei zwar ein schlauer Mensch, offensichtlich hätte es aber noch viel schlauere Sachsen gegeben als mich! Haha! Ja, die sind aber alle tot, grinste ich selbstironisch und mich selbst auf die Schippe nehmend. Aber alles hat sein Ende, auch dieser seltsame Tag.

Dann verabschiedete ich mich von Jürgen, er stieg ins Auto, fuhr los, sogar hupend und fuchtelte lachend mit der Gummibis durch das offene Fahrerfenster. So eine ungezogene Verwandtschaft hat der Herr Blahm, werden unsere Nachbarn vielleicht gedacht haben, ich werde nachher bei Geri, der jetzt in Kaufbeuren wohnt, anrufen, der wahrscheinlich die ganze Geschichte für einen längst verblassten, lahm gewordenen Aprilscherz halten könnte. Aber Jürgen kann ihm ja ein Foto mit dem Smartphone schicken, als ultimativen Nachweis, der nun 45-jährigen Gummibis! 45 Jahre, fast ein halbes Jahrhundert, zu Urgroßvaters Zeiten kaum wahrnehmbar.

Inzwischen hat die rasante technische Revolution fast jedes urtümliche Spielzeug weggefegt. Man spielt nicht mehr, sondern wird bespielt. Alles digital, unpersönlich und im medialen Selbstlauf. Weltnah, aber immer weiter weg, von sich selbst, von uns allen! Meine Enkeltochter Lisa würde sich beim Lesen dieses Satzes wieder mahnend einschalten: Opa, sage jetzt bitte, bitte nicht wieder: „Armes Deutschland!“ Ich tue ihr den Gefallen, ich sage es ja nicht, ich schreibe es lieber. Oder ist das noch viel schlimmer?!

Hans Blahm


Hans Blahm: „Hin- und Herkunft: Biographische Episoden, Skizzen und Spitzen aus Siebenbürgen und Brandenburg“, BoD, 424 Seiten, 16,80 Euro, ISBN 978-375267-273-2, zu beziehen im deutschen Buchhandel

Schlagwörter: Literatur, Blahm, Lebendige Worte, Kokeltal, Eberswalde

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