28. September 2021

„Ein Sechs-Wort-Leben ist auch ein Leben“: Karin Bruders Roman „Weiße Jahre“

Nach acht Kinder- und Jugendbüchern (u.a. „Katzenzauber für Kolumbus“, „Die Erben der Pharaonin“ und „Zusammen allein“, das 2011 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war) hat Karin Bruder in diesem Jahr ihren ersten Roman für Erwachsene vorgelegt. „Weiße Jahre. Roman einer verlorenen Zeit“ erzählt die Geschichte von Elena, die in der Zwischenkriegszeit als Tochter eines rumänischen Bauern und einer Siebenbürger Sächsin aus Kronstadt zur Welt kommt und in einem Dorf in der Bukowina aufwächst. Vom Vater „als billige Arbeitskraft verkauft“, wie sie bitter bemerkt, muss sich Elena ab ihrem 16. Lebensjahr bei der wohlhabenden Familie Gong in Czernowitz als Kindermädchen der kleinen Ava verdingen, die sie zunächst ablehnt, dann aber ins Herz schließt – nicht zuletzt wegen der Ereignisse rund um den Zweiten Weltkrieg, durch die sie beide Elternteile verliert. Avas Mutter ist Jüdin und flieht, als die mit den Deutschen verbündeten Russen das Buchenland besetzen, kurz darauf verlässt auch der Vater mit seiner hochschwangeren Geliebten das eigene Kind, das in Elenas Obhut zurückbleibt, um so bald wie möglich nachzukommen, doch die Zeitläufte haben anderes vor.
Die Erzählung setzt im Jahr 2007 in Chile ein, wo die nunmehr 86-jährige Elena lebt und mit ihrem Enkel sowie dessen Freundin eine nicht ganz freiwillige gedankliche Reise in die Vergangenheit unternimmt. „Die Erinnerung muss nicht wachgerüttelt werden. Sie nistet ganzjährig in ihren Träumen, zeigt sich in nächtlichem Angstschweiß oder erweckt innere Stimmen zum Leben, wenn ein bestimmtes Stichwort fällt.“ Das Erinnern geschieht einfach, erzählen aber möchte Elena nicht. „Schau, das war in einem anderen Leben. Es ist verschüttet. Unendlich viel Zeit liegt darauf. Und (…) du kannst dir denken, das ist gut so. Wenn einer zu viel erlebt hat, verstummt er.“ Schließlich berichtet sie aber doch aus ihrem Leben, und Karin Bruder tut gut daran, ihre Leserschaft in regelmäßigen Abständen in die Rahmenhandlung zurückkehren zu lassen. Wenn sich so viele Schicksale in so wenigen Menschen bündeln, wie es im vorliegenden Roman der Fall ist, muss man gelegentlich eine Pause einlegen.

Einem glücklichen Lebensbeginn in Czernowitz folgt nach dem frühen Tod der Mutter der Umzug ins väterliche Heimatdorf, wo kein Schulbesuch mehr möglich ist, aber schwere Arbeit auf dem Hof getan und die Brüder Radu, Florentin und Ilja versorgt werden müssen, und den vor Kummer verstummten, saufenden und prügelnden Vater muss Elena ebenfalls ertragen. Da ist es Fluch und Segen zugleich, als Kindermädchen in die Stadt zu gehen: Einerseits fühlt sie sich verraten und „verkauft“ und möchte die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister nicht in die Hände dieses Tyrannen legen, andererseits entkommt sie so ihm und seinen Launen und erhofft sich in Czernowitz trotz ihrer Anstellung Möglichkeiten zur Aus- und Fortbildung, die sich ihr tatsächlich in bescheidenem Rahmen bieten. Womit sie nicht gerechnet hat, ist die Liebe, aber sie tritt in Gestalt von Jascha Kupermann in ihr Leben und verweilt einige Zeit, doch seine jüdischen Wurzeln verhindern ein Happy End.

Die historische Region Bukowina mit ihrer wechselvollen Geschichte als Handlungsort für einen Roman zu wählen, ist eine Herausforderung. Teil der Habsburgermonarchie von 1775 bis 1918 und deren Kronland seit 1849, war sie von jeher multiethnisch geprägt, was im 20. Jahrhundert besonders deutlich zu Tage trat. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ging die Region an das Königreich Rumänien über, wurde aber nur gut zwei Jahrzehnte später in Folge des 1939 geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts in einen nördlichen sowjetischen und einen südlichen rumänischen Teil aufgespalten. Ab September 1940 folgten die Zwangsumsiedlung der deutschen Bevölkerung in das damalige Deutsche Reich, Enteignung der Juden und Entzug der Staatsbürgerschaft, Flucht der Rumänen in den Süden, die ansonsten von den Russen zur Zwangsarbeit nach Zentralasien verbracht wurden, sowie die Deportation der Juden nach Transnistrien ab Herbst 1941. Rumänische Truppen eroberten das Gebiet kurzzeitig komplett zurück, bevor es 1944 erneut von den Sowjets besetzt wurde; die endgültige Trennung in einen russischen (heute ukrainischen) Norden und einen rumänischen Süden erfolgte Anfang 1947.

All diese Geschehnisse flicht Karin Bruder in ihren Roman ein, sie bestimmen das Leben ihrer Hauptfigur Elena und das ihres unmittelbaren Umfelds, denn es ändern sich nicht nur ihre Lebensumstände in Czernowitz, sondern vor allem die ihres Mündels Ava. Von den Eltern verlassen, versteckt Elena sie auf dem Hof ihres Vaters, bis der Advokat Gong alle nötigen Papiere für seine (jüdische) Tochter beisammen hat, doch bevor die rettende Ausreise gelingen kann, wird die Familie auseinandergerissen und die gesamte Dorfbevölkerung nach Sibirien deportiert. Bereits während der wochenlangen Fahrt in die Verbannung zeichnet sich das Schicksal der Menschen ab: „Wie ein Schatten fährt der Tod mit, selten schläft er, regelmäßig schlägt er zu. Mit geübtem Griff holt er die Schwachen, Greise und Babys zuerst, dann die größeren Kinder und die jungen Mütter. Nach oben und unten mäht er mit seiner Sense das Leben ab, er tut seine Arbeit, er tut sie gewissenhaft. Dicke Schweißperlen stehen dem Sensenmann auf der Stirn. Er macht weiter, unermüdlich.“ Ein mehrjähriges Martyrium beginnt, das sich im Lauf der Zeit zu einer Art geordnetem Dasein formiert: „Aufstehen, arbeiten, essen (vielleicht), schlafen (vielleicht). Ein Sechs-Wort-Leben ist auch ein Leben, irgendwie.“

An ihrem neuen Buch hat die gebürtige Kronstädterin Karin Bruder mehr als vier Jahre gearbeitet, und die über 400 Seiten zeugen von gründlicher Recherche der historischen Hintergründe, großer Zuneigung zu ihren Figuren und Freude am Ausgestalten von Dialogen und Atmosphäre. Zum Ende hin, das plötzlicher als erwartet kommt, geht der Geschichte ein wenig die Luft aus, aber die Schicksale von Elena, Ava und ihren Nächsten nehmen die Leser gefangen und sorgen dafür, dass der dicke Roman schnell ausgelesen ist. Umso mehr Zeit bleibt danach für weiterführende Lektüre über die Bukowina und auch von Schriftstellern aus dieser Region, die ein reiches literarisches Erbe vorzuweisen hat.

Doris Roth


Karin Bruder: „Weiße Jahre. Roman einer verlorenen Zeit.“ J. S. Klotz Verlagshaus, Neulingen, 2021, 416 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-948968-27-4

Schlagwörter: Roman, Besprechung, Bukowina, Geschichte, Karin Bruder, Literatur

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