22. Mai 2022

800 Jahre „Goldene Bulle“ in Ungarn

Am Sonntag, dem 24. April 2022 (dem Tag des Heiligen Königs Stephan), leitete eine Veranstaltung auf dem Csúcsos-Hügel bei Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) die Feierlichkeiten ein, mit denen in Ungarn in diesem Jahr des 800. Jahrestags der „Goldenen Bulle“ König Andreas‘ II. von 1222 gedacht wird. Weitere Veranstaltungen sollen folgen, etwa die „Stuhlweißenburger Königstage“, ein Krönungsspiel, die „Kunsttage der Goldenen Bulle“ sowie eine Fernsehserie über die Geschichte dieser Urkunde, die als „Meilenstein der ungarischen Geschichte“, als einer der wichtigsten Bezugspunkte in der Entwicklung des ungarischen Rechts und der ungarischen Gesellschaft bezeichnet und gern, wenngleich unzutreffend, mit der 1215 erlassenen englischen „Magna Charta Libertatum“ verglichen wird; nach der Charta sei die Bulle die zweitälteste Verfassung in Europa.
Standbild des ungarischen Königs Andreas II. mit ...
Standbild des ungarischen Königs Andreas II. mit der „Goldenen Bulle“ in der Hand auf dem Heldenplatz in Budapest, aufgestellt anlässlich der Milleniumsausstellung von 1896. Bildhauer: György Zala. aus: https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Andras-HosokTere-Budapešť_0066.jpg (Abruf: 28. April 2022)
Auf dem Hügel, auf dem die „Goldene Bulle“ der Überlieferung nach verkündet wurde und wo heute ein pompöses Denkmal steht, hielt die Denkrede am 24. April ausgerechnet Tamás Sulyok, der Vorsitzende des inzwischen weitgehend entmachteten ungarischen Verfassungsgerichts. Er nannte das Dokument „ein entscheidendes Relikt unserer Geschichte und unserer verfassungsmäßigen Identität“. Damit bezog er sich auf einen Absatz aus der umstrittenen Präambel der 2012 in Kraft getretenen „Orbán“-Verfassung, in der festgehalten wird: „Wir halten die Errungenschaften unserer historischen Verfassung und die Heilige Krone in Ehren, die die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation verkörpern.“ Nicht zufällig legen die ungarischen Verfassungsrichter ihren Amtseid im Dommuseum von Gran (Esztergom) auf einer Abschrift der „Goldenen Bulle“ ab (da das Original in den Kriegswirren der vielen Jahrhunderte nach seiner Ausstellung verloren gegangen ist), und nicht zufällig hängt um ihren Hals an einer Kette die Replik des goldenen Königssiegels.

Was ist eine Goldene Bulle?
Als Bullen werden im mittelalterlichen Urkundenwesen jene Siegel bezeichnet, die nicht in Wachs gedrückt, sondern in Metall geprägt worden sind, etwa die Bleibullen der Päpste, mit denen heute noch wichtige Dokumente der römischen Kurie beglaubigt werden. Eine Goldene Bulle ist ein in Gold gepresstes Siegel, das im Fall von besonders wichtigen Urkunden angebracht wurde, so jener von 1222, deren Erlass derzeit gefeiert wird. Eine wichtige Urkunde für die Geschichte Siebenbürgens wurde im gleichen Jahr mit einer Goldenen Bulle beglaubigt: die Bestätigung der 1211 erfolgten Verleihung des Burzenlandes an den Deutschen Orden. Wenn jedoch vom „Goldenen Freibrief der Siebenbürger Sachsen“ die Rede ist, den derselbe König Andreas II. zwei Jahre danach, 1224, erlassen hat, dann darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Urkunde „nur“ mit dem durchaus außerordentlichen „doppelten Siegel“ des Herrschers versehen wurde (praesentem paginam duplicis sigilli nostri munimine fecimus roborari – „Wir haben diese Urkunde mit dem Schutz unseres doppelten Siegels bekräftigt.“). Dass dieser Freibrief für die Siebenbürger Sachsen Goldes wert war und die Grundlage ihrer jahrhundertelangen ständischen Freiheiten, ihrer Selbstverwaltung, ihrer Eigenkirchlichkeit, letztlich der Wahrung ihrer Eigenständigkeit bildete, steht auf einem anderen Blatt.

Unter welchen Umständen ist die „Goldene Bulle“ von 1222 entstanden?
König Béla III. (1172-1196), der Vater von Andreas II., hatte eine enge Verbindung zwischen Königtum und Kirche angestrebt, um seine Macht gegenüber dem ungarischen Hochadel (sie werden auch „Barone“ oder „Magnaten“ genannt) zu verteidigen und zu stärken. Die im Westen ausgebildete Geistlichkeit unterstützte ihn bei der Reorganisation der Finanzen, der Verwaltung und des Urkundenwesens, trug aber auch zu einer nachhaltigen kulturellen Entwicklung Ungarns bei. Die Verschiebung des innenpolitischen Gleichgewichts zugunsten des Hochadels, der auf Machtbeteiligung drängte und in Zeiten der Thronwirren auch einzufordern vermochte, konnte aber auch durch diese Allianz zwischen Kirche und Staat nicht aufgehalten werden. Außerdem stärkte die Umwandlung des Militärwesens mit der allmählichen Herausbildung eines Ritterheeres die Schicht der königlichen Dienst- und Gefolgsleute (der Burgjobagionen in den Komitaten und der servientes regis am Hof und im Heer), die einen adeligen Status anstrebten.

Andreas II. (1205-1235), der seinem Bruder Emmerich (1196-1204) mit Hilfe der Barone den Thron streitig gemacht hatte, musste sich schließlich den neuen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen beugen. Der Deutsche Orden, den er 1211 ins siebenbürgische Burzenland gerufen hatte, um Mission und Expansion jenseits der Karpaten voranzubringen, die östliche Grenze zu sichern und auch die königliche Macht zu stärken, erwies sich für Andreas als wenig hilfreich, vielmehr wegen seiner eigenstaatlichen Bestrebungen als gefährlich. Er wurde 1225 vertrieben und folgte dem Ruf Konrads von Masowien nach Ostpreußen, wo er den mächtigen Deutschordensstaat gründete.

Geschwächt durch die Günstlingswirtschaft seiner Frau Gertrud, die ihren Verwandten aus dem Geschlecht derer von Andechs-Meranien wichtige Ämter und Pfründen zuschanzte (ihr Bruder Berthold wurde Erzbischof von Kalócsa) und schließlich einem Komplott ungarischer Adliger zum Opfer fiel (1213) sowie durch außenpolitische Abenteuer (jahrelange Kämpfe um Galizien, mit längerer Abwesenheit verbundene Teilnahme am 5. Kreuzzug), musste sich Andreas die Unterstützung seiner Gefolgschaft durch weitgehende Konzessionen erkaufen. Zunächst verschleuderte er den königlichen Grundbesitz durch erbrechtliche Schenkungen und beraubte sich damit einer Grundlage seiner Macht, dann erhöhte er die Steuern, schließlich aber musste er mit der „Goldenen Bulle“ einem Herrschaftsvertrag zustimmen, der seine Macht einschränkte.
Eine Goldene Bulle des ungarischen Königs Andreas ...
Eine Goldene Bulle des ungarischen Königs Andreas II. aus: https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/7/71/II._András_aranybullája.jpg (Abruf: 28. April 2022)
Was besagt und welche Bedeutung hat die „Goldene Bulle“?
Diese von den königlichen Dienstleuten im Verein mit einigen Baronen und Kirchenführern erzwungene und mit dem Goldsiegel versehene Urkunde sicherte dem Adel das Widerstandsrecht zu, stärkte den Einfluss des königlichen Rates, verbot die Vergabe von Grundbesitz an Ausländer und gewährte den Dienstleuten sowie den zum Militärdienst verpflichteten Gemeinfreien Königsunmittelbarkeit, Immunität, Steuerfreiheit, Erbrecht, geregelte Dienstpflichten sowie die Teilnahme am jährlichen Gerichtstag in Stuhlweißenburg. Auf dieser Grundlage bildete sich im 13. Jahrhundert der mittlere und niedere Adel heraus, der über relativ geringen Grundbesitz verfügte, jedoch in Heer und Verwaltung eine wachsende Rolle spielte. Die Vorrechte der „Gastsiedler“ – der im 11.-12. Jahrhundert vorwiegend aus dem westlichen Europa ins Land gerufenen Wehrbauern, Bergleute, Handwerker und Kaufleute –, deren Steuern fast die Hälfte der königlichen Einkünfte erbrachten, wurden nicht angetastet, vielmehr in derselben „Goldenen Bulle“ versprochen, dass die „Gäste jedwelcher Herkunft in der ihnen von Anfang an [anlässlich ihrer Ansiedlung] gewährten Freiheiten zu erhalten sind“.

Kein Zufall, dass diese Vorrechte den Siebenbürger Sachsen 1224 im „Andreanischen Freibrief“ urkundlich bestätigt wurden. Sie dankten es dem Königtum, indem sie es in der Regel aus ureigenstem Interesse unterstützten (ad retindendam coronam – „zum Schutz der Krone“ schrieben sie auf ihre Fahnen), gewährleistete es doch jahrhundertelang den Schutz und die Garantie ihrer Rechte und Freiheiten. Allerdings gab es dabei auch Grenzen. Zwar wurde hier das Widerstandsrecht gegen Eingriffe in diese Privilegien nicht dokumentiert, die siebenbürgischen „Gastsiedler“ nahmen es aber durchaus, aufgrund der Goldenen Bulle von 1222, für sich als Legitimation in Anspruch, etwa als sie sich 1324-1331 gegen Karl I. Robert von Anjou erhoben, weil er ihnen, entgegen den Vorgaben des „Andreanums“, mit Thomas Széchényi einen Komitatsgrafen vorgesetzt hatte, der nicht aus ihren Reihen stammte.

Die 1351 von König Ludwig I. dem Großen bestätigte „Goldene Bulle“ gilt als Grundlage der adligen Freiheiten (der una eademque nobilitas) im Königreich Ungarn. Die Komitate wandelten sich nun allmählich zu Selbstverwaltungskörperschaften des Adels und der „Gäste“. Diese privilegierten Gruppen entwickelten sich zu den als nationes oder universitates bezeichneten Ständen, denen in der Folgezeit immer mehr Einfluss zuwuchs, nicht zuletzt aufgrund ihrer Kriegsdienstpflicht, die sie zu einem gewichtigen innen- wie außenpolitischen Faktor machte, sowie auf den Reichstagen, auf denen seit Mitte des 13. Jahrhunderts über Gesetze und Steuern befunden wurde.

Insoweit ist der Vergleich der „Goldenen Bulle“ mit der englischen „Magna Charta Libertatum“ zulässig? Der Versuch, die „Goldene Bulle“ von 1222 mit einer Entwicklung zur konstitutionellen Monarchie und zum Parlamentarismus in Verbindung zu bringen, die am Ende des 13. Jahrhunderts mit Andreas III., dem „ersten konstitutionellen Monarchen“ Ungarns abgeschlossen worden sei, verklärt die historische Realität, um aktualitätsbezogene Wirkung zu erzielen und Ungarn sozusagen als eine Wiege der Demokratie ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Ungarn hatte bis 1919 keinen einheitlichen Verfassungstext, der eine herausragende, die anderen Gesetzen überragende Position gehabt hätte, wie auch Großbritannien bis heute keinen besitzt. Es gab seit dem 18. Jahrhundert den Begriff der so genannten fundamentalen Gesetze, die den Rahmen einer historisch gewachsenen Überlieferung absteckten, an der sich die obersten Richter orientierten. Die „Goldene Bulle“ galt dabei als „Urgesetz“, allerdings in der von den Habsburgern anlässlich einer Urkundenbestätigung von 1687 abgeschwächten Fassung, aus der das Widerstandsrecht getilgt wurde. Eine „historische Verfassung“, die gemäß der eingangs zitierten Präambel die Grundlage des ungarischen Verfassungsverständnisses bildet, gab es nicht, bestenfalls historische Dokumente wie „die Goldene Bulle“, wenn man sie denn als Vorläufer des Parlamentarismus bezeichnen will. Doch war darin keineswegs eine „Volksvertretung“ vorgesehen, bestenfalls die Teilhabe einer sehr geringen Zahl von privilegierten Personen oder Gruppen an der Macht.

Der „Goldenen Bulle“ von 1222 achtungsvoll zu gedenken, ist richtig, sie zur Vorläuferin eines ungarischen, gar europäischen Parlamentarismus vor nicht weniger als 800 Jahren zu überhöhen, ist jedoch falsch.

Konrad Gündisch

Schlagwörter: Geschichte, Ungarn, Siebenbürgen, Goldene Bulle, Jubiläum

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