15. Juni 2022

Individuelle und kulturelle Identität: Engagierte Podiumsdiskussion beim Heimattag in Dinkelsbühl

„Identität in neuer Umgebung“ – das Thema der Podiumsdiskussion in Dinkelsbühl knüpfte an das Heimattagsmotto „Wurzeln suchen – Wege finden“ an. Rund hundert Gäste hatten sich am Pfingstmontag um 10 Uhr im Schrannen-Festsaal eingefunden; sie brauchten es nicht zu bereuen.
Unter der Moderation von Dr. Iris Oberth, Leiterin des Kulturwerks der Siebenbürger Sachsen, diskutierten Dr. Heinke Fabritius, Kulturreferentin für Siebenbürgen, Bessarabien, Bukowina, Dobrudscha, Maramuresch, Moldau und Walachei am Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim, die Filmemacherin Brigitte Drodtloff, der Geschäftsführer des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien Benjamin Józsa, Filmproduzent Holger Gutt und Fabian Kloos, Bundesjugendleiter der Siebenbürgisch-Sächsischen Jugend in Deutschland (SJD).

Moderatorin Iris Oberth hieß das Saalpublikum herzlich willkommen, stellte die Podiumsteilnehmer vor und führte mit einer Begriffsdefinition in das Diskussionsthema ein. Wenn wir von Identität sprächen, seien zwei Ausprägungen gemeint, einerseits die persönliche, individuelle Identität und ihr gegenübergestellt die kulturelle Identität. Die individuelle Identität entwickle sich „im Spannungsfeld zwischen Individualität und Kollektivität“. Psychologisch betrachtet gehe es bei der Frage nach der Identität um die Einheit und die Kontinuität des Selbst, das Selbst sei wiederum „ein Individuum, das sich seiner Identität bewusst ist“, erläuterte Oberth. Soziologisch betrachtet sei es wichtig, dass sich der Mensch „in der Spiegelung seiner Mitmenschen“ erlebe, in sozialen Beziehungen in einem gemeinsamen Umfeld, im „Spannungsfeld von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung“. Demgegenüber forme sich kulturelle Identität durch eine Vielzahl an Faktoren, allen voran kollektives Gedächtnis, Sprache, Essenskultur, gemeinsame Geschichten bzw. Mythen, in der Wechselwirkung von kollektiver Selbst- und Fremdwahrnehmung. Daraus erwüchsen Fragestellungen an das Podium, etwa nach dem Verhältnis von individueller und kultureller Identität. Oberth unterschied zudem die Erlebnisgeneration der in Siebenbürgen Geborenen von der Bekenntnisgeneration, deren Angehörige außerhalb Siebenbürgens zur Welt gekommen sind.
Zum Thema „Identität in neuer Umgebung“ ...
Zum Thema „Identität in neuer Umgebung“ diskutierten im Schrannen-Festsaal, von links: Holger Gutt, Fabian Kloos, Dr. Heinke Fabritius, Moderatorin Dr. Iris Oberth, Benjamin Józsa und Brigitte Drodtloff. Foto: Christian Schoger
In ihren Eingangsstatements äußerten sich die Podiumsteilnehmer zu ihren siebenbürgischen Wurzeln, die Fabian Kloos als für ihn identitätsprägend beschrieb. Der in Landshut geborene Bundesjugendleiter der SJD, Sohn des Landesvorsitzenden in Bayern Werner Kloos, führte beispielhaft an, schon früh in die siebenbürgische Gemeinschaft einbezogen gewesen zu sein, als Mitglied der Kindertanzgruppe sowie der Jugendtanzgruppe. Später, nach der Konfirmation, habe er die bewusste Entscheidung getroffen, Heimattage zu besuchen, sich mehr mit der siebenbürgischen Identität auseinanderzusetzen, insbesondere vermittels der elterlichen und großelterlichen Erinnerungen und Geschichten. In diesem Bewusstsein sei er auch bereits nach Siebenbürgen gereist. Ihm sei wichtig, dass später, wenn er einmal Kinder habe, diese auch noch auf ein Kronenfest und zum Heimattag gehen könnten.

Mit Holger Gutt kam ein weiterer Vertreter der Bekenntnisgeneration zu Wort. Der 1990 nahe München geborene Produzent von Dokumentarfilmen schilderte seinen ursprünglichen Zugang zu Siebenbürgen, der auf den Erzählungen der Eltern und Großeltern gründe. Dabei sei das Leben in Siebenbürgen immer wieder thematisiert worden und dadurch zum leitenden Motiv seiner Spurensuche geworden für seinen Dokumentarfilm ,,Sehnsucht nach einer unbekannten Heimat“, der im vergangenen Jahr in deutschen Kinos zu sehen war (siehe Folge 11 vom 5. Juli 2021, Seite 9). Er habe zuallererst die Menschen kennenlernen wollen, erst danach den Ort. Gutt gab an, sich als Teil einer aussterbenden Kultur begriffen zu haben. Das Zusammenleben der Siebenbürger Sachsen habe er hier in Deutschland erfahren, in Rumänien hingegen sei es ihm in besonderem Maße um „das Erkennen und Wiederfinden der Ortschaften und der Bilder“ gegangen, das Abgleichen von Erzähltem und vor Ort wahrnehmbarer Realität: „Kirchenmauern, die ich anfassen konnte“, seien für ihn „extrem berührend“ gewesen.

Dr. Heinke Fabritius, im Grundschulalter ausgewandert mit ihrer Familie, machte geltend, dass für die Ausreiseentscheidung verschiedene Faktoren bestimmend gewesen seien, neben sachlich begründeten Argumenten freilich auch Vorstellungen, Hoffnungen, Versprechen und Erwartungen. Im Alter von knapp zehn Jahren habe sie diese Entscheidung nicht bewusst und eigenverantwortlich treffen können. Es mache zudem einen großen Unterschied, in den 1970er Jahren ausgewandert zu sein, verglichen mit den 1990er Jahren angesichts der aufnehmenden Gesellschaft, die sich inzwischen verändert habe, „andere Möglichkeiten der Integration, andere Hilfestellungen“ biete. In den Siebzigerjahren sei es „sehr viel stärker wichtig gewesen, sich auf eine eigene geleistete, aktive Integration zu konzentrieren“. In ihrer heutigen Tätigkeit als Kulturreferentin sei es ihr vordringliches Anliegen, mittels Projektarbeit „in die Gesamtgesellschaft zu wirken“, breitenwirksam zu informieren und Interesse zu wecken.

Brigitte Drodtloff ist im Erwachsenenalter ausgereist und also Angehörige der Erlebnisgeneration. Die Filmemacherin engagiert sich in vielfältiger Weise als interkulturelle Vermittlerin zwischen Rumänien und Deutschland. Zurückdenkend an die komplexe Lebenslage, als sie das Land verließ (sie hatte gerade die Hochschule abgeschlossen, war im Fernsehen präsent, wollte in Hermannstadt zu arbeiten anfangen), beklagte Drodtloff, dass man sie mit einem Auftritts- und Arbeitsverbot drangsaliert und „mehr oder weniger herausgejagt“ habe, „und da bleibt so eine Narbe“. Sie sei „halb-halb“, ihre Mutter Rumänin, ihr Vater ein Deutscher aus Hermannstadt; daher hätte sie in sich auch immer diese zwei Identitäten. Als sie in den 1980er Jahren nach Deutschland gekommen sei, habe man sie, von Vorurteilen geleitet, als „die Rumänin“, teilweise als „Zigeunerin“ angesehen. Umso faszinierender empfinde sie es, wenn sich Jugendliche und junge Erwachsene heute unbelastet von Geschichte und Vorurteilen positionieren könnten. Sie selbst habe ihren Weg als Geschichtenerzählerin gewählt und alles Erlebte in ihren Filmen und Kulturaktivitäten verarbeitet in dem Bestreben, die Diskussion offen zu halten.

Auf die Frage der Moderatorin, ob sich die kulturelle Identität der Siebenbürger Sachsen in den letzten drei Jahrzehnten gewandelt habe, schickte Benjamin Józsa voraus, dass er selbst sich nie mit dem Gedanken der Auswanderung getragen habe. Die in Siebenbürgen Gebliebenen seien von der Auswanderung ebenso geprägt wie die Landsleute, die ihre alte Heimat verlassen hätten, stellte der Geschäftsführer des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien fest. In seinem persönlichen Erleben habe sich das Abschiednehmen bisweilen in einer „Weltuntergangsstimmung“ vollzogen. Nach und nach habe man die Freunde verloren, aus seiner Grundschulklasse sei er mittlerweile als einziger in Rumänien verblieben. Allerdings habe man sich entschlossen, die bald 900-jährige Kultur der Siebenbürger Sachsen zu bewahren, „jetzt erst recht“. Bezugnehmend auf das Heimattagsmotto meinte Józsa, die Wurzeln müsse eigentlich niemand mehr suchen, man habe sie in sich; es sei jedoch wichtig, sich auf diese einzulassen in dem Sinne: „Ja, das bin ich, ob ich es will oder nicht.“ Zu den Wurzeln der heimatverbliebenen Siebenbürger Sachsen gehörten die rumänischen wie auch die ungarischen Nachbarn. Das Miteinander habe sich immer prägend ausgewirkt. Anerkennend führte Józsa das rumänische Improvisationstalent an, das sich aktuell bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge wieder bewähre. Einen Mentalitätswandel mache er auch daran fest, dass die Mehrheitsgesellschaft das Siebenbürgisch-Sächsische für sich entdeckt habe; Wandlung sei grundsätzlich positiv.

Im weiteren Diskussionsverlauf wurden noch diverse Aspekte der Identitätsfrage beleuchtet, wie etwa der Umgang mit Stereotypen, das Bewahren des kulturellen Erbes in Siebenbürgen, Gemeinschaftspflege u. a. m., ehe die Diskussion für das Saalpublikum geöffnet wurde, das vielfältige, bereichernde Beiträge in die Debatte einbrachte. Mit ihrem Dank an das Podium und das Publikum schloss Dr. Iris Oberth die anregende, gut 90-minütige Diskussion. Ein Videomitschnitt ist auf dem YouTube-Videokanal von Siebenbuerger.de abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=e8CSo6rlKQE.

Christian Schoger

Schlagwörter: Heimattag 2022, Dinkelsbühl, Diskussion, Identität, Gesellschaft, Podiumsdiskussion

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