18. Januar 2023

Helle Nächte in den Karpaten

2022 war das Jahr des Franz Hodjak, eigentlich. Die inzwischen 78 Jahre alte rumäniendeutsche Dichterlegende, die in Hermannstadt aufwuchs und nach einem Philologiestudium im Klausenburger Dacia Verlag als Lektor arbeitete, legte über das Jahr verteilt sage und schreibe vier neue Gedichtbände vor. Allein, es nahm kaum jemand Notiz davon. Die weitgehend ausbleibende Rezeption hat unter anderem mit Hodjaks Publikationsgeschichte in Deutschland zu tun.
Franz Hodjak bei einer Lesung in Dinkelsbühl ...
Franz Hodjak bei einer Lesung in Dinkelsbühl 2013. Foto: Konrad Klein
Dessen hiesiges literarisches Debüt, der Gedichtband „Sehnsucht nach Feigenschnaps“, kam 1988 im Aufbau Verlag heraus, siebzehn Jahre nach dem Debüt in Rumänien. Derjenige, der dafür die Auswahl aus dem Fundus der schon von Anfang der Siebzigerjahre an publizierten Texte traf und sie mit einem richtungsweisenden „Nachsatz“ versah, war niemand Geringeres als der erst kürzlich gestorbene einflussreiche ostdeutsche Lektor und Dichter Wulf Kirsten. Kurz danach begann schon Hodjaks Karriere im Suhrkamp Verlag. Dort veröffentlichte er bis 2003 acht Gedichtbände und Romane. Den Startschuss der Serie gab wiederum eine Auswahl aus seinem lyrischen Werk, nämlich „Siebenbürgische Sprechübung“. Das war 1990, als Hodjak noch in Rumänien lebte. Er sollte erst zwei Jahre später nach Deutschland auswandern. Er war einer der letzten rumäniendeutschen Schriftsteller von internationalem Format, welche die kleine Sprachinsel verließen. Sein jüngerer rumäniendeutscher Dichterkollege Werner Söllner, auch er inzwischen gestorben, schrieb das Nachwort zu „Siebenbürgische Sprechübung“. Was die Erschließung des geschichtlich-kulturellen Kontextes angeht, in dem das Hodjak’sche Werk im Rumänien der späten Sechzigerjahre seinen Anfang nahm, steht sein Nachwort dem „Nachsatz“ Kirstens in nichts nach.

Mit dem Ende der Unseld-Ära des Suhrkamp Verlages, der Verleger Siegfried Unseld starb 2002, änderte sich die Verlagsprogrammatik und erfolgte auch die Zäsur in Hodjaks Rezeptionsgeschichte. Er verlor im ungünstigen Schriftstelleralter von knapp sechzig Jahren seinen dortigen Publikationsplatz und wurde ein Nomade zwischen kleineren Verlagen, der er bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Das Schicksal teilt er mit vielen, deren Werke anfänglich zu einem nicht geringen Teil wegen ihrer historischen Relevanz (Zensur im Kommunismus) in die Programme publikumswirksamer Verlage aufgenommen wurden. Je weiter die Ereignisse in die Ferne rücken, die das jeweilige Werk einst historisch relevant machten, desto schwieriger wird bei gleichbleibender Qualität (oder gar Steigerung) des Werks die Findung publikumswirksamer Verlage dafür. Das ist tragisch.

Hodjaks vier Gedichtbände des Jahres 2022 erschienen in vier verschiedenen, kleineren Verlagen: „Gedenkminute für verschollene Sprachen“ im Leipziger Literaturverlag, „Was nie wieder kommt“ in der Stadtlichter Presse (Besprechung in der Siebenbürgischen Zeitung, Folge 9 vom 31. Mai 2022, Seite 8), „Hin und nicht zurück“ bei Vorwerk 8 und „Alles wurde privatisiert, selbst die Funklöcher und die Schatten in Platons Höhle“ bei SchumacherGebler.

Man muss an Hodjaks Rezeptionsgeschichte denken, wenn man in „Gedenkminute für verschollene Sprachen“ nun die nüchtern feststellenden Zeilen liest: „Ich habe meine Richtung gefunden./ Ich liege nicht im Trend.“ Hodjak rückt in diesem Gedichtband, wie dessen Titel es schon sagt, sein Kapital als Dichter in den Vordergrund: die Sprache. Mit philosophischer Entschlossenheit und in seinem typischen unfeierlichen Ton gelangt er immer wieder zu Einsichten über sie und zu Wesensmerkmalen der eigenen Poesie. Die ist nicht zielorientiert und lässt sich von Zufällen und Überraschungen leiten, die durch das lyrische Ich begünstigt werden: Es hält sich in Bewegung, geht dem Unerwarteten entgegen, indem es in seiner ausgeprägten Neugier in die Welt aufbricht, reist, spaziert, sich in das babylonische Stimmengewirr eines Wochenmarkts begibt – oder in die Lektüre von Büchern, von denen es sich bisweilen herschreibt: In der Betrachtung eines „uralten Webstuhls“ schwingt die uralte Metapher des Webens mit, die für die Entstehung von Text mit dessen Gesetzmäßigkeiten steht und schon in der „Odyssee“ auftaucht, wo Penelope in der Abwesenheit ihres Odysseus sich die Freier vom Leib hält, indem sie vorgibt, ein Totentuch für ihren Schwiegervater Laërtes weben zu müssen.

Der Aufbruch in die Welt ist darüber hinaus Voraussetzung von Hodjaks umweltkritischer Landschafts- beziehungsweise Geländedichtung. Einmal heißt es: „Der Horizont ist die Linie, wo ein/ Gewerbegebiet endet und ein nächstes/ in Sicht ist.“ Ein andermal: „Wenn zehn gesunde Bäume/ nebeneinander stehen,/ kann man schon/ von einem Märchenwald sprechen.“ Im Gedicht „Märchen von der Invasion“ geht die Natur zum Angriff über und besetzt das Menschengemachte, eignet sich ihren Raum wieder an, bis das lyrische Ich „mitten in einem dichten Urwald“ steht.

Hodjaks Dichtung ist auch Rückschau, vor allem auf die Zeit in Rumänien, also Erinnerungsarbeit. Kindheitsszenen aus der Besatzungszeit werden eingestreut. Der Übergang aus dem einen Elend (Besatzung) in das andere (die Eroberung des Landes durch den eigenen Geheimdienst) wird markiert. Und das lyrische Ich vergegenwärtigt sich an „bequemen Schuhen“, dass wer einer Minderheit angehöre, schnell sein müsse. Hodjak, der zum Teil slowakischer Herkunft ist, gehörte in Rumänien zur Minderheit der Siebenbürger Sachsen – ein polyglotter Mensch, dessen Muttersprache Deutsch ist und der in der DDR lange vor „Sehnsucht nach Feigenschnaps“ als Übersetzer aus dem Rumänischen und Ungarischen von sich reden machte.
Schon längst (Literatur-)Geschichte: Franz Hodjak ...
Schon längst (Literatur-)Geschichte: Franz Hodjak (r.) mit der Redakteurin Dr. Edith Konrad und Dr. Stefan Sienerth, damals Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS), aufgenommen 2006. Foto: Konrad Klein
Hodjak rückt das Schicksal des Individuums während der „Blütezeit/ roter Gespenster“ in den Mittelpunkt, als es in ständiger Angst lebte, als es „Licht“, aber nicht „Schatten“ sagen durfte, als ihm „die Zukunft greifbar nahe lag“ und doch „unerreichbar“ blieb, als seine Träume „durchleuchtet“ wurden. Doch er belässt es nicht bei der Performance von Erinnerungsarbeit, sondern fragt auch nach deren Folgen: „die Dinge,/ an die man sich am meisten erinnert, verändern/ auch die Erinnerung am meisten“. Analog dazu heißt es: „Die Wirklichkeit/ verändert die Sprache, nur die Dichter/ verändern mit der Sprache die Wirklichkeit.“ Die starken Zeilensprünge, von denen Hodjak in seiner Dichtung häufig Gebrauch macht, führen hier dazu, dass auch die Dichter in den Prozess der Veränderung miteinbegriffen werden. Als Beweger sind sie keine Unbewegten, sondern Sprachbewegte. Durch die starken Zeilensprünge liest man nämlich auch, dass die Sprache nur die Dichter verändert. Nicht etwa auch die Politiker oder andere Berufsgruppen, kann man daraus schließen.

Zum Selbstverständnis des Dichters gehört dessen Empfänglichkeit für „verschollene“ und „tote“ Sprachen, die es in die eigene poetische Sprache zu übersetzen gilt. Er ist ein Universalgelehrter: Botaniker, Dendrolge, Entomologe, Ornithologe … Er fragt sich: „lässt sich die komplizierte Sprache// der Rohrdommel ins Deutsche/ übersetzen?“ Und er trauert: „Man hat das Verständnis/ verloren, auf ein Zeichen zu warten// aus dem Raum toter Sprachen. Man weiß, was/ die Hupe meint. Kommuniziert mit dem/ verbrannten Grün. Lauscht dem Blaskonzert// der Kraniche. Man ist sogar bereit, Gedichte/ in der Sprache der Wasserfälle zu lesen,/ der Raucherstäbchen, der Borkenkäfer.“

An diesen Grundmomenten unterscheidet sich der Gedichtband „Gedenkminute für verschollene Sprachen“ von den übrigen drei. Zusammen ergeben die Bücher ein alltags- und erfahrungsgesättigtes Spät- und Alterswerk mit Tendenz zu atmosphärischen Jahreszeit- und Liebesgedichten, von klassischer Musik inspiriert und von den großen metaphysischen Themen unserer Zeit umgetrieben, die aus den Erfahrungen im Kommunismus und der Demokratie, in Rumänien und in Deutschland perspektiviert werden: Was ist Freiheit, was Frieden? Wie arrangiert man sich mit der eigenen Endlichkeit und der Vergänglichkeit alles irdischen Seins? Wie verabschiedet man sich von anderen und von sich selber? Was ist Zeit, was Dauer, was Ewigkeit, was Unendlichkeit? Welche Schlüsse zieht man für sich aus verlorenen Illusionen und unrealisierten Träumen? Warum ist man weiterhin voller Sehnsucht, Hoffnung und Zuversicht? Warum bleibt die Zukunft trotz allem ein Faszinosum? Was ist Glück, und wie findet man einen Ausweg aus Sackgassen, wie Trost? Hodjak ist ein skeptischer Dialektiker, und die Antworten, die er seine lyrischen Ichs darauf geben lässt, sind dementsprechend nie resolut. Deren Haltung zu den großen Lebenskonzepten ist stets ambivalent. Sie wissen, es gibt eine Kehrseite von Liebe und Hoffnung, es gibt ein „kaputtgeliebt und kaputtgehofft“. Eines von ihnen ist sich sicher, „dass die Sprache/ mir mehr gab, als ich jemals/ jemandem geben könnte“.

Der Gedichtband „Hin und nicht zurück“ fällt nicht so sehr durch besondere Themenschwerpunkte auf, sondern mehr durch aphoristische Passagen, um die herum sich die Gedichte ballen, durch lakonische Feststellungen: „Das Leben ist eine Folge/ von Pannen“, lautet eine, und eine andere: „der Glaube an sich selbst ist ein Schwächeanfall/ des Bewusstseins“. Augenfällig ist vor allem die Machart der Texte. Sie fokussieren nur in Ausnahmefällen eine einzige Sache und bevorzugen das Nebeneinander von ortsgebundenen Gleichzeitigkeiten. Das Hodjak’sche Gedicht ist hier wie eine 360-Grad-Kamera, die in der Lage ist, Bilder aus allen Richtungen in einem Bereich von 360 Grad sowohl horizontal als auch vertikal aufzunehmen, und reicht doch über die Summe des Einverleibten hinaus: „zählte man/ alles zusammen, was gleichzeitig// Platz hat in einem Augenblick, reichte/ das weit über die Ewigkeit hinaus“. Und es wird einem erneut deutlich, dass der im Verlust seiner rumänischen Herkunftslandschaft Beheimatete, ein Liebhaber von Transitzonen und Durchreisen, immer die richtigen Fragen stellt: „ob die Störche/ vor Heimweh oder Fernweh wiederkommen“, will er einmal wissen.

Der aufregendste, der berührendste Gedichtband von allen ist „Alles wurde privatisiert, selbst die Funklöcher und die Schatten in Platons Höhle“. Hier breitet sich Hodjak eindrucksvoll über seine verlorene rumänische Herkunfts- und Erinnerungslandschaft aus. In einschlägigen Gedichten wie „So als ob“, „Apfelbaum“, „Lichtflecken“, „Abschiede“, „Schulweg“, „Vorbei“, „Barfuß“, „Nachtrag“, die man biografisch, die man persönlich nennen kann, bleibt der typische Hodjak’sche Sarkasmus, der ihn vom Gegenstand der Betrachtung distanziert und zur Kritik befähigt, weitgehend aus. Man merkt: Das Thema „Landverlust“, das ihn seit 1993 beschäftigt, beschäftigt ihn auch heute noch und vielleicht mehr denn je. In den einen Texten das im kommunistischen Unterdrückungssystem eingeschlossene Fernweh, in anderen ein Nachtrauern der unwiederbringlich verlorenen kindlichen Unvoreingenommenheit. An einer Stelle heißt es: „der Heuduft erinnert/ an helle Nächte in den Karpaten. Immer/ erinnert etwas// an etwas. Vielleicht ist das eine endlose/ Folge, die man aus Verlegenheit/ Ewigkeit nennt.“ Und an anderer Stelle: „Mit mir hätte ich weniger zu tun gehabt,/ hätte es diese anderen nicht gegeben, die gewaltsam/ versuchten, die Sprache zu besetzen, die Erinnerung// zu enteignen, mich aus den Träumen zu werfen.“

Man darf es als Glücksfall begreifen, dass die Erinnerung des Franz Hodjak nicht enteignet werden konnte. Sie schenkt uns ein Stück Ewigkeit.

Alexandru Bulucz


Hodjak, Franz: „Alles wurde privatisiert, selbst die Funklöcher und die Schatten in Platons Höhle“. Gedichte. Typostudio SchumacherGebler, Dresden, 2022, 120 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-941209-76-3
Hodjak, Franz: „Hin und nicht zurück“. Gedichte. Vorwerk 8, Berlin, 2022, 120 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-947238-39-2
Hodjak, Franz: „Gedenkminute für verschollene Sprachen“. Gedichte. Leipziger Literaturverlag, Leipzig, 2022, 126 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-86660-292-2

Schlagwörter: Hodjak, Lyrik, Besprechung, Bulucz

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