28. Mai 2025

„Unlehrbar ist das Leben“: Dokumenten-Sammlung zu Gusto Gräsers „bewegtem Leben“ erschienen

Über sich selbst sinnierend, fragte er einst: „Ich wär ein Sonderling? / Nicht schlecht / Wohl, weil ich weder Herr noch Knecht“. An der Antwort erkennt man die Herkunft des „Sonderlings“, den Landstrich, wo „keiner Herr und keiner Knecht“ (Georg Scherg) ist: Siebenbürgen. Auf vielen Wegen – verschlungenen und verwunschenen, realen und irrealen – wandelt das siebenbürgische Straßenoriginal: Arthur Gustav Gräser, 1879 in Kronstadt/ Brașov geboren. Hundert Jahre und einige Jahrzehnte später begeistert sich der Schriftsteller Ulrich Holbein für jenen, über den einst Thomas Mann gesagt haben soll: „Dieser Mann ist reinen Herzens“, für Arthur Siebenbürger (wie sich Gusto u.a. selbst nannte). In Holbeins „Narratorium“ (Amann Verlag 2008) mit „255 Lebensbildern“ findet sich auch der „Wanderapostel, Versschmied, Knüttelknecht, Stabreimer, TAO-Dichter, Notwendwortführer, Trostbündler, Volkwart, Waldbold“.
Ende des letzten Jahres gab Holbein in enger Zusammenarbeit mit dem Gusto-Gräser-Kenner Hermann Müller und dem Verleger des Osnabrücker Packpapierverlags Herrmann Cropp eine Sammlung mit chronologisch geordneten (Selbst-)Zeugnissen heraus. Die „recht umfassende Kompilation“ bietet – ohne Kommentare und Fußnoten – einen Einblick in Leben und Wirken des siebenbürgischen Aussteigers, der sein „Naturmenschentum“ zu leben und zu zelebrieren wusste. Die Natur war sein Evangelium, der technische Fortschritt – die Hölle. Den Krieg lehnte Gusto, lebensgeschichtlich zwischen zwei verheerende Weltkriege eingekeilt, entschieden ab und wurde zum überzeugten Pazifisten. Auch von der Industrialisierung hielt er nichts, sah er doch in ihr die Zerstörung all jener Werte, die er auf seinen „Flatterblättern“ festhielt und in die Welt posaunte – oft hatte er für seine losen Schriften nur den Wind als Vertriebschef: „Sinnsprüche und Mittelachsengedichte schrieb er weniger für die Schublabe als – in den Wind“ und wandelte „als lebendes Ausrufezeichen“ durch die Landschaft, bis er als „verarmtes Fossilium“ in einem Münchner Dachstübchen 1958 still verstarb. Zehn Jahre später „liefen plötzlich weltweit 300000 oft recht unberedte Gusto Gräsers weltweit überall herum, Flowerpowerleute, die vergleichbare Ideale und gleichfalls indianische Stirnbänder trugen“, jedoch „ohne den Namen ihres Stammvaters zu kennen, der auch schon dieses Stirnband trug“, so Holbeins Auskunft im „Narratorium“.

Von den Zeitgenossen wurde Gusto Gräser oft verspottet und „als arbeitsscheuer Stadtstreicher, Ruhestörer, Schnorrer, Schmarotzer, Redenschwinger“ abgetan, doch einige verehrten ihn „als weisen Dichter, Sprachkünstler, Philosophen, Mystiker und TAO-Propheten, als Vorläufer der Hippies“, heißt es im Vorwort der Dokumenten-Sammlung. Gräsers Leben ist von Hermann Müller in verschiedenen Publikationen (auch in der Siebenbürgische Zeitung, Folge 20 vom 15. Dezember 2018, S. 9, siehe auch www.siebenbuerger.de/go/19488A) oft erzählt worden. Deshalb beschränkt sich das neu erschienene Buch auf die chronologische Aneinanderreihung von Dokumenten (Briefe, Texte, Fotos, Zeitungsartikel, Zeichnungen, „bildnerische und literarische Hauptwerke Gustav Gräsers“), die für die Leserschaft ein „unterhaltsames Stimmenkonzert“ abgeben mögen. Auf einem der vielen Fotos sieht man Gräser als 17-jährigen Kunstschlosserlehrling vor seinem Gesellenstück, einem rosenumkränztes Rauchtischlein, stehend; auf einem anderen entdeckt man ihn bereits in Karl Wilhelm Diefenbachs Landkommune „Himmelhof“ in der Nähe von Wien. Von dort schreibt Gusto seiner Mutter Charlotte Gräser, sie möge zuversichtlich sein: „Vertrau deinem Sohn, vom Weg des Guten, Rechten und Schönen werde ich niemals weichen.“ Letztere drückt in einer Tagebuchnotiz vom November 1901 ihr Bangen aus, denn „Gust hat den militärischen Eid verweigert“. In einem Brief mahnt Karl Gräser seinen Bruder Gust: „Dein Streben scheint mir nicht schlecht, im Gegentheil, aber himmelschreiend maßlos und darum eitel, unwahr, unwirklich.“ Das Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt nimmt 1899 Stellung zu dem „Bild unseres Landsmannes Gustav Gräser ‚Der Liebe Macht‘“, das in der Hermannstädter evangelischen Knaben-Elementarschule ausgestellt war: „Der Gedankenreichtum, den der junge Künstler in diese seine Schöpfung gelegt hat, wird gewiß nicht verfehlen, das Interesse weiterer Kreise zu erwecken.“ Dass „weitere Kreise“ auf ihn aufmerksam werden, bezeugt u.a. ein Artikel aus der Münchner Illustrierten von 1956 – unter dem Titel Weiser Verzicht wird Gusto Gräsers entschleunigtes Dasein gepriesen: „Er malt, weil es ihn dazu treibt, er dichtet, weil ‚wortwerkend‘ neue Ausdrucksformen wachsen, er geht sehr viel spazieren, weil kein Ding in seinen Augen Eile hat. (…) Mit grüner Tinte bringt er seine Werke zu Papier: ‚Notwendworte‘ für seine Bewunderer.“ Dass viele seiner Worte auch heute nottun und einigen wehtun, liegt auf der Hand: Die Welt bewegt sich noch immer von der „Heimlichkeit des Lebendigen“ weg – und vergisst vor lauter Wissensdrang Gustos Einsicht: „Starrheit, Verstockung ist Krankheit, Tod und Verderben. (…) Unlehrbar ist das Leben.“ Daran und an vieles mehr erinnert uns diese im Packpapierverlag erschienene Sammlung.

Ingeborg Szöllösi



Gusto Gräser: „Drum Tauwind ins Winterland“. Hg. von Ulrich Holbein zs. mit Hermann Müller und Herrmann Cropp, Packpapierverlag, Osnabrück, 2024, 252 Seiten, 20 Euro, zu bestellen beim Verlag, E-Mail: packpapierverlag[ät]web.de, Telefon: (0 54 02) 73 73.

Schlagwörter: Gusto Gräser, Buchvorstellung, Natur

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