1. September 2006

Hans Mieskes: "Jede Generation steht am Neubeginn"

Am 20. Juli d.J. verstarb in Gießen nach längerem Leiden Prof. em. Dr. phil. und theol., Dr. med. Hans Mieskes (diese Zeitung berichtete). Die Lebens- und Wirkungsstationen des am 17. Februar 1915 in Zeiden im Burzenland, Siebenbürgen, geborenen Mieskes waren ausnahmslos an Universitäten, an Forschungs- und Lehrtätigkeit gebunden und bezeichnen einen in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen, ja einen außerordentlichen Berufsweg, der von Zeiten mühsamer Wanderlehrerschaft in deutschen Siedlungsgebieten Südosteuropas bis zur hoch geschätzten Forschungsarbeit im Bereich der Gerontologie und Geragokik - der Alternskunde und Altenbildung - an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und an der Justus-Liebig-Universität in Gießen reichte.
Wer Hans Mieskes näher kannte, wem der von Statur kleine, in Jugendjahren am Hochreck und am Barren als Turner glänzende Mann sein Vertrauen schenkte, wer gar in der einen oder anderen schwierigen Lage auf seine Hilfe angewiesen war, lernte jenseits aller Gelehrsamkeit einen gemüt- und humorvollen Gesprächspartner in ihm kennen, dessen Persönlichkeit von Charakter, Zuverlässigkeit und unbestechlichem Urteil geprägt war. Mir ist selten in meinem Leben ein Mensch von seiner Gediegenheit, Bedachtheit und Festigkeit der Gesinnung begegnet. Dass sich diese Eigenschaften mit einer stupenden Belesenheit in unterschiedlichsten Bereichen paarte, machte den Umgang mit ihm zum menschlichen Vergnügen und zum geistigen Genuss.

Prof. Dr. Dr. Hans Mieskes 1995 neben seiner Porträtbüste von Hans Wolfram Theil (1921-2003). Foto: H. W. Theil
Prof. Dr. Dr. Hans Mieskes 1995 neben seiner Porträtbüste von Hans Wolfram Theil (1921-2003). Foto: H. W. Theil

Der Erziehungswissenschaftler und -historiker Hans Mieskes, der nicht nur einer der Begründer und Vorantreiber systematischer Alternsforschung in Deutschland war, sondern gleichzeitig auch grundlegend über die Bedeutung der Pädotropika - Arbeits- und Spielmittel - für die Persönlichkeitsentwicklung forschte, wesentlich dazu beitrug, das Bewusstsein für die Notwendigkeit sportwissenschaftlicher Methodik zu wecken, und die Auffassung von der pädagogische Wirkung des Spielzeugs auf Kinder in ein neues Licht rückte, war durch die Arbeit in seinen Fachbereichen zum enzyklopädischen Einblick in verschiedenste Wissensgebiete gezwungen. Von den Naturwissenschaften bis zu den musischen Fächern, von soziologischen bis zu literarischen Fragen u.a.m. stand ihm eine breit gefächerte Informationspalette zu Verfügung, deren er sich souverän bediente.

Die Absolvierung des Lehrerseminars in Hermannstadt und das Studium der Philosophie und Theologie an der Karls-Universität in Prag bildeten die Grundlage, von der aus Hans Mieskes nach dem Krieg in Jena zum Mitarbeiter des durch den "Jenaplan" in Fachkreisen berühmt gewordenen Schulreformers und Erziehungswissenschaftlers Peter Petersen (1884-1952) werden konnte. Petersens Jenaplan sah den Entwurf eines den Ansprüchen des 20. Jahrhunderts gewachsenen Schulmodells vor, an dem Mieskes nach Petersens Tod leitend weiterarbeitete. Dem Jenaplan galten u.a. partnerschaftliche Haltung und Hilfsbereitschaft als entscheidende päagogische Ziele, Beteiligung der Eltern sowie älterer Schüler am Bildungs- und Erziehungsprozess. Als Hans Mieskes durch einen Mitarbeiter erfuhr, dass die Stasi seine Verhaftung erwäge, floh er 1956 in den Westen. Der Grund der Stasiverdächtigug war Mieskes' Weigerung, in das ideologiefreie Konzept des Jenaplans marxistische und sozialistische Erziehungsvorstellungen einzubauen. In einem zweibändigen Werk fasste er seine Erfahrungen über das Schulsystem der DDR später zusammen (1971).

Es entsprach einer schon um Jahre zurückliegenden Absicht, dass der 41-jährige DDR-Flüchtling an Münchens Maximilians-Universität Medizin zu studieren begann. Mit dem Dr. med. und der bundesdeutschen Bestallung zum Arzt, 1959, zudem legitimiert durch zwei Jahre Tätigkeit am Bonner Studienbüro für Jugendfragen, folgte er 1961 der Berufung nach Gießen. Als Ordinarius - das ist der Inhaber eines Lehrstuhls an einer wissenschaftlichen Hochschule - gründete er hier das Erziehungswissenschaftliche Seminar und Institut für Pädagogische Forschung, baute das Sportwissenschaftliche Institut auf - dessen Direktor er bis 1968 war - und leitete die Philosophische Abteilung der Naturwissenschaftlich-Philosophischen Fakultät. Parallel dazu entstanden in den Jahren bis zu seiner Emeritierung, 1981, mehrere hundert unterschiedlich umfangreiche Fachtexte wie z.B. "Geragogik, die Begriffe und ihre Aufgaben in der Gerontologie" (1971), "Pädagogik der Spielmittel" (1975) u.a. Den meisten von ihnen kommt wegweisende Bedeutung zu.

Hans Mieskes' Erziehungsvision ging von Kants vielzitiertem Satz aus: "Der Mensch wird durch Erziehung." Zwei Forschungs- und Arbeitsziele schwebten ihm vor. Das eine war die Erhebung der Erziehungswissenschaft in den Rang einer exakten Wissenschaft, was er durch beharrliche Arbeit an deren Systematisierung und durch ihre klare Strukturierung erreichte. Das andere war die Ausweitung der Erziehungsidee über die Schule hinaus ins gesellschaftliche Leben, ja, er sprach von der Schule als dem "Kern der Gesellschaft neben der Familie". Ein "gesundes Schulwesen, das die Weckung des Lernhungers, die methodische Ausweitung des geistigen Horizontes und die Akzeptanz der Unerlässlichkeit von Disziplin als Prinzipien der Persönlichkeitsbildung für unverzichtbar hält, wird sich in den Positiva des Zustands einer Gesellschaft reflektieren - das Fehlen dieser Prinzipien in den Negativa", sagte er 1983 in einem Vortrag vor Lehrern.

Mieskes bezog in sein Konzept der Erziehung über die Schule hinaus die Gesellschaft ein. So forderte er z.B. die Gewerkschaften auf, an der Gestaltung des Bildungsgangs der Jugend teilzuhaben; das gleiche Ansinnen richtete er an die Kirchen, an Vereine und gemeinnützige Einrichtungen. Er entwarf nicht nur das entsprechende theoretische Bild seiner Vorstellungen, er setzte sich persönlich mit Vertretern aller Gesellschaftsbereiche zum Gespräch hierüber zusammen. Seine Fähigkeit, zuzuhören und jeden Gesprächspartner ernst zu nehmen, die Gabe, sein Wissen an Menschen herantragen zu können, ohne den fatalen Eindruck akademischer Arroganz zu erwecken, schuf Vertrauen, wohin er kam. Erst recht, weil er zu einem Zeitpunkt, als noch kaum ein Politiker das Problem erkannt hatte, auf die mit der Gesellschaftsalterung zusammenhängenden Fragen aufmerksam machte und von der dringend erforderlichen Altenbildung - Geragogik - sprach, wenn nicht immer größere Gesellschaftsteile zur Belastung werden sollen. Den Weg aus dem Dilemma sah er allein in Weiterbildungsprogrammen. Nicht zuletzt die Vorschläge, die er in diesem Sinne ausarbeitete, brachten ihm den Ruf ein, "der realistische Erziehungswissenschaftler" zu sein, dem die Theorie der Schule und Schulbildung nicht genügte, der allein in der Wechselwirkung von Erkenntnis und Anwendung die Gewähr für das Überdauern im permanenten Wandel sah. Sein Motto "Tradition und Fortschritt" - wie er die Zeitschrift der 1965 von ihm neben den Pensa seiner universitären Forschungsarbeit gegründeten Stephan-Ludwig-Roth-Gesellschaft nannte - weist in die gleiche Richtung; auch die Stephan-Ludwig-Roth-Gesellschaft diente dem Ziel, aus der Praxis gewachsene, von ihr angeregte und an ihr bewährte Erkenntnis als berufliche Orientierungshilfe an neu aus dem Osten zugewanderte Lehrer zu vermitteln.

Ein Mann vom Forschungsmut des Hans Mieskes - und das ist allemal auch der Mut zum Unkonventionellen - hatte neben Bewunderern seine Neider und Feinde. Im Rückblick betrachtet, erwuchsen ihm diese fast ausnahmslos aus den Kreisen der Ideologen. Wie überlegen er mit deren Existenz umging, beweisen nicht wenige seiner im Manuskript erhaltenen Aphorismen, die freilich in der Hauptsache seinem Lebensinhalt Schule, Pädagogik, Erziehung galten. So war er sich auch der Relativität der eigenen Erkenntnisse bewusst und der Ansicht, dass jede Generation von neuem sich zu erarbeiten aufgefordert ist, was ihr als Lebensgrundlage dient: "Ich glaube nicht an eine kontinuierliche moralische Höherentwicklung der Menschheit. Jede Generation, ja sogar jeder Einzelne steht am Beginn aller guten wie bösen Möglichkeiten. Erziehung muss den Weg zur Menschwerdung weisen und frei halten."

Hans Mieskes war einer der herausragenden Siebenbürger unserer Epochen; unter den Persönlichkeiten, die sich in Deutschland der Forschung im Erziehungs- und Schulwesen widmeten, gilt er als eine der markantesten Erscheinungen dieses Landes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Hans Bergel


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Schlagwörter: Wissenschaft, Nachruf, Zeiden, Pädagogik

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