7. Januar 2009

Zum großen Agnethler Urzelnbuch: „Wer bist du?“

„Laut und stumm; bedrohlich und freundlich-scherzhaft“, „verunsichernd und komisch“, „gleichzeitig bekannt und unkenntlich“ – wer kann das sein? Unter Agnethlern keine Frage: die Urzeln! Den Brauch, den sie von 1969 bis 1990 mit der Verlässlichkeit feierten, mit der im Harbachtal der Schnee fiel, haben sie in Orten mit weniger verlässlichen Schnee-, aber sichereren Rechtsverhältnissen wiederaufleben lassen: in Sachsenheim und Traunreut, in Fürth und Geretsried, in Herzogenaurach und Nürnberg...
Was einst ein Zunftbrauch war, ist heute eine Narrenzunft. Und wo früher nur männliche Erwachsene Peitschen schwingend durch den Ort zogen, machen heute alle mit – Schnullerbabys im schnuckligen Urzelkleidchen mit einbegriffen. Lässt sich die Freude am Fest noch steigern?

Durchaus. Pünktlich zur kommenden Faschingssaison haben sich die Agnethler mit einem „Bilder- und Lesebuch“ beschenkt, das ihren Brauch in einer Vielzahl von Texten, Fotos und Grafiken feiert und auch für Außenstehende lebendig werden lässt:

Wer bist du? Die Urzelmaske im siebenbürgischen Agnetheln, im württembergischen Sachsenheim und in Süddeutschland. Ein Bilder- und Lesebuch, herausgegeben von Horst Fabritius im Auftrag der Heimatortsgemeinschaft Agnetheln. Heilbronn 2008. Zum Preis von 29,00 Euro, zusätzlich Versandkosten, zu beziehen bei Gitte Henning, Heidelberger Straße 135, 74080 Heilbronn, Telefon: (0 71 31) 48 31 37; Gudrun Wagner, Aachener Straße 17, 74078 Heilbronn, Telefon: (0 70 66) 55 21, Fax: (0 70 66) 90 28 91, E-Mail: wagner-agnetheln [ät] t-online.de; Marianne Brenner, Bruchsaler Straße 23, 74080 Heilbronn, Telefon: (0 71 31) 48 47 50, E-Mail: manne-brenner [ät] gmx.de.

Herausgeber des in Hochglanz-Qualität sich präsentierenden Bandes und Autor der verbindenden Texte, kurzweilig-heiterer Kommentare, aber auch fundierter Analysen, Horst Fabritius, ist selbst Agnethler und erfahrener Urzel, dazu Ehemann der Volkskundlerin Ruth Fabritius, die eine wissenschaftliche Arbeit über den Maskenbrauch verfasst hat. Diese „privilegierte Situation“ habe er genutzt, schreibt er in der Einleitung, damit kokettierend, dass er selbst ein „volkskundlicher Laie“ sei. Aber Fabritius ist auch Germanist mit einiger Hochschul- und publizistischen Erfahrung und weiß, was er seiner Wissenschaft schuldig ist. Das Buch ist sauber strukturiert, die Beiträge wurden, wenn sie auch in ihrer Qualität sehr unterschiedlich sind, kenntnisreich und vorurteilsfrei ausgewählt, und – hätte es auch ein Quellenregister und Namensverzeichnis (ein Wunsch für eine verbesserte Nachauflage!) – das Bilder- und Lesebuch könnte durchaus auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, die der Herausgeber ihm leider versagt.

Denn diese umfassende Urzel-Anthologie enthält (fast) alles, was je über diesen Brauch geschrieben wurde, dazu zahlreiche Fotos, Rezepte, Beschreibungen der Urzeltracht und ihrer Herstellung, Erinnerungen von Beteiligten (darunter die der Chemielehrerin Erika Berger über die Hintergründe der Neuzulassung des Urzellaufs 1969), Sagen, wissenschaftliche Aufsätze, Zeitungspolemiken (unter dem Titel „Strukturalismus und Kerweih“ 1970 von der Zeitschrift Neue Literatur losgetreten), ausführliche Berichte über die Urzelläufe der ausgesiedelten Agnethler in Deutschland, Untersuchungen des Urzelmotivs in der Bildenden Kunst und Literatur und vieles andere mehr.

Das Buch ist zudem hoch aktuell. Die Wiederbelebung des Brauchs 2006 als Schulprojekt in Agnetheln und seine Wiederholung durch die Agnethler Rumänen 2007 und 2008 wurde erfasst und akribisch ausgeleuchtet (wobei der Herausgeber hier die meist heitere Distanz zu seinem Material aufgibt und sich auf die Seite der Bedenkenträger schlägt).

Was macht das Erfolgsgeheimnis der so derben wie streng organisierten und disziplinierten Zottelgestalten aus? Ist es die Tatsache, dass hier Eigenes, der Mehrheit Fremdes als Integrationsleistung von dieser Mehrheit anerkannt wird? Als Urzel kann man – wie zahlreiche Beispiele im Buch belegen – nach Herzenslust Goreschaner sein und wird doch vom Publikum bewundert und von den Politikern umarmt (was den meisten Agnethlern im bundesdeutschen Alltag eher selten passieren mag). Diese und viele andere Fragen lässt das Buch offen, das heißt, es wirft sie erst auf, macht – wie jedes gute Buch – neugierig. Wer bist du, Urzel? Das kann und will man jetzt genauer wissen.

Annemarie Weber

Schlagwörter: Rezension, Urzeln, Agnetheln

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