21. Mai 2009

Illegale Grenzübertritte aus kommunistischen Staaten

Auch heute noch wird das Thema „Flucht“ vielfach verdrängt und dem öffentlichen Diskurs entzogen. Eine von der Akademie Mitteleuropa auf dem Heiligenhof in Bad Kissingen veranstaltete Tagung mit dem Thema „Illegale Grenzübertritte aus der DDR und anderen Ostblockstaaten“ kann als ein Versuch gewertet werden, das Thema auf die Tageordnung zu setzen.
Nach Ansicht von Professor Dr. Julius Schoenemann aus Köln betrifft Verdrängung sowohl „die Staatsfunktionäre, für die Republikflucht ein kriminelles Delikt und die Motive sozusagen konterrevolutionär waren“, als auch die Geflohenen selbst, die sich vielfach ihres Scheiterns in der DDR schämten. Aber auch im Westen sei das Thema Flucht gern verdrängt worden, da es lediglich die Ostdeutschen betroffen habe. Die gesamtdeutsche Dimension des Themas sei nicht wahrgenommen worden, so Schoenemann, der seine Wurzeln in Ostpreußen hat, in Rostock mit der Familie nach der Flucht sesshaft geworden und 1972 mit Frau und drei Töchtern, in einem Wohnwagen eines Schweden versteckt, von Ungarn über Jugoslawien in den Westen geflüchtet ist. Die Schoenemanns gehören zu den etwa drei Millionen Menschen, die die DDR und vorher die Sowjetische Besatzungszone verlassen haben. Im Westen sei die Meinung verbreitet gewesen, die Flüchtlinge müssten sich sofort wohl fühlen und am Ziel ihrer Wünsche sein. Dass die Geflohenen Freunde, Verwandte, das vertraute Lebensumfeld, die Heimat, zurückgelassen haben, das sei im Westen meist nicht wahrgenommen worden. Die heutige Diskussion um „die Mauer in den Köpfen“ habe etwas mit dieser Verdrängung in Ost und West zu tun.
Podiumsdiskussion mit (von links) Alfred ...
Podiumsdiskussion mit (von links) Alfred Waldenmayer, Reinhold Mager, Johann Steiner, Hans Otto Klare und Siegfried Britt.
Über „Fluchterfahrungen, Motive, Geschehnisse, Folgen“ hat der aus Großsanktnikolaus stammende Soziologe Professor Dr. Anton Sterbling, heute in Görlitz zu Hause, berichtet. Sterbling, will seinen Fluchtversuch von Anfang der 1970er Jahre, den er als 17-Jähriger unternommen hat, eigentlich eher als einen Spaziergang zur Grenze, als Provokation verstanden wissen. Er wollte damit Aufsehen erregen, was ihm anscheinend auch gelang. Nach drei Monaten Haft wollten die Behörden ihn loswerden und ließen ihn ausreisen. Anfang Mai 1995 war Sterbling zum ersten Mal nach mehr als 15 Jahren wieder in Rumänien, Eine Vortragsreise führte ihn in die Moldau. Er entschied sich ganz bewusst für Jassy und nicht für die ,,alte Heimat“, „um die emotional stark besetzten Erinnerungen möglichst wenig ins Spiel kommen zu lassen“. In Jassy kam er mit dem Hausmeister des Gästehauses der Universität ins Gespräch, der ihm erzählte, dass er seinen Militärdienst im Banat, bei der Grenztruppe, abgeleistet habe. Sterbling fragte wann? „Als die Antwort 1986/87 kam, war das Gespräch alsbald zu Ende”, so Sterbling.

Die Begegnung mit den „Schatten der Vergangenheit“ war doch unvermeidbar. „Natürlich war ich in meinen Vorträgen, Begegnungen und Gesprächen auch weiterhin um Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit bemüht, doch merkte ich gleichsam, dass es mir sehr schwer fiel, gelassen zu bleiben. Seit dieser flüchtigen Begebenheit, bis zu meiner Abreise, musste ich nahezu ununterbrochen mit einer inneren Spannung und Unruhe, einer unterschwelligen Niedergeschlagenheit, einer immer wieder aufflackernden Gereiztheit und diffusen Empörung ringen. Immer wieder fragte ich mich, wie weit ist dies unvermeidlicher Ausdruck tiefer innerer Verletztheit, wie weit Ressentiment?“

Die Führung der DDR und die Stasi haben die Grenzen der Ostblockstaaten als eine Verlängerung der Berliner Mauer betrachtet, so der Historiker Georg Herbstritt, Mitarbeiter der Bundesbehörde für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. Deshalb hat die Stasi auch in der Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien Operationsgruppen eingerichtet, denen zehn bis 15 Offiziere und bis zu 40 inoffizielle Mitarbeiter angehörten. Eine solche Gruppe hat Rumänien allerdings nicht geduldet, trotzdem haben Stasi-Offiziere verdeckt in Rumänien ermittelt, um eventuelle Flüchtlinge unter den DDR-Urlaubern zu enttarnen. Von 1962 (nach dem Mauerbau) bis 1988 sind nach bisherigen Erkenntnissen 15 000 DDR-Bürger an Grenzen anderer Ostblockstaaten verhaftet und 27 erschossen worden, davon 14 in Bulgarien, zwölf an der tschechischen und slowakischen Grenze, einer oder zwei in Ungarn und einer an der rumänischen. 500 DDR-Bürger wurden an der rumänischen Grenze festgenommen und ausgeliefert.
Die Teilnehmer der Tagung "Illegale ...
Die Teilnehmer der Tagung "Illegale Grenzübertritte" in der Akademie Mitteleuropa in Bad Kissingen.
Mit den Strafen, die gegen Flüchtlinge verhängt wurden, hat sich der Münchner Historiker Dr. Cornelius Radu Zach befasst. Bis 1942 wurde der illegale Grenzüberschritt in Rumänien mit einer Höchststrafe von drei Jahren bestraft. In der folgenden Zeit bis 1966 wurde die Höchststrafe auf zwölf Jahre erhöht. Danach wurde dieselbe Straftat weniger scharf geahndet. Nach Mitteilung von Zach gab es in Rumänien eine unbekannte Zahl von Opfern unter den Grenzflüchtlingen. Allein in der Donau sind während 40 Jahren mehr als 1000 Grenzflüchtlinge ertrunken, außerdem ist eine unbekannte Zahl erschossen worden. Es waren rumänische, tschechische, DDR-Bürger u.a.

Wie viel Glück und welche Zufälle zum Gelingen einer Flucht notwendig waren, hat eine Podiumsdiskussion gezeigt, die der aus Billed im Banat stammende Journalist Johann Steiner moderiert hat. Unter den 40 Zuhörern, darunter ein Dutzend Jugendliche aus der Tschechei, ist keine Langweile aufgekommen, als die vier aufs Podium gebetenen, über das auf der Flucht Erlebte berichteten: Reinhold Mager über seine gescheiterte Flucht zusammen mit zwei Freunden in einem Autozug in Richtung Türkei, Hans Otto Klare über die Zugfahrt seiner aus Siebenbürgen stammenden Frau mit einem gefälschten Pass in den Westen nach einem gescheiterten Fluchtversuch, Siegfried Britt über den Weg über die grüne Grenze bis zur Adria und Alfred Waldenmayer über die Donauüberquerung in der Badehose zusammen mit zwei weiteren Personen. Drei dieser Fluchtgeschichten sind zu finden in der Anthologie „Die Gräber schweigen. Berichte von der blutigsten Grenze Europas“, die Johann Steiner herausgegeben hat. Waldenmayers Geschichte soll in einem zweiten Band erscheinen.

Die dreitägige Tagung ging mit einer Lesung des siebenbürgischen Schriftstellers Hans Bergel aus dem Manuskript zu einem neuen Buch zu Ende.

Link:

Rezension der Neuerscheinung von Johann Steiner und Doina Magheti (Herausgeber): "Die Gräber schweigen. Berichte von der blutigsten Grenze Europas"

Schlagwörter: Kommunismus, Vergangenheitsbewältigung

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