2. Dezember 2009

Du sollst dir viele Bilder machen: Gert Fabritius in der Leonhardskirche Stuttgart

Gert Fabritius schlägt in der Leonhardskirche ein Porträtalbum auf, das uns in wandfüllendem Format Einblicke in das Antlitz als Abbild, Vorbild und Ebenbild gibt. Dass er dabei mit den her­kömmlichen Vorstellungen des Spiegelbilds spielt, ist auf den ersten Augenblick ungewöhnlich, im Chorbereich einer Kirche. Tatsächlich greift Fabritius hier jedoch auf eine Episode in der Entwicklung der Bildnisgattung zurück, die gerade im sakralen Raum ihre eindrücklichste Aus­prägung fand. Die Arbeiten sind denn auch eigens für diesen Ort geschaffen worden. Vierzig verschiedene Köpfe, in der Technik des Holzschnitts ausgeführt, sind über die zwei Chorwände verteilt, begleitet von Druckstöcken, nichtfigurativen Blättern und – auf der einen Seite – die Darstellung eines Schiffs sowie – auf der anderen Seite – eine lange Leiter aus Kirschholz. Die Stuttgarter Köpfegalerie für die Leonhardskirche ist Fabritius’ dritte große, im sakralen Raum gebundene Arbeit.
Der Definition nach ist das Porträt an eine konkrete, in der Regel benannte Person gebunden, die zweifelsfrei erkennbar sein sollte, ohne dass die Naturtreue eine entscheidende Rolle spielt. Dass Fabritius dieses Merkmal bewusst unterläuft, führt zu Irritationen: Da die Köpfe keine Titel tragen, bleiben sie anonym, nur zwischendurch wird dem Betrachter das eine oder andere Gesicht vertraut vorkommen: Durch die mediale Präsenz animiert, kann man Christoph Schlingensief oder Herta Müller ausmachen, aus der Erinnerung heraus mag man das Konterfei aus dem Pop-Geschäft oder aus der Politik-Bran­che mutmaßen, ein Selbstporträt mischt sich „unter die Leute“, deren Gesichter Zufallser­scheinungen bleiben, deren Erkennbarkeit einem privaten Bekanntenverhältnis entstammt. Neben den Personen „wie du und ich“ tauchen sogenannte V.I.P.s – und mit dieser Erkenntnis auch Zweifel – auf. Reduziert sich die Schar bekannter Größen auf den flüchtigen Déjà-vu-Gedan­ken „Der sieht aus wie …“?

Sieht man sich in der Kunstlandschaft um nach vergleichbaren Ansammlungen von Bildnissen, wird man weniger in der Malerei und Grafik fündig als in der Fotografie. Dort geht es aber meistens um die Charakterisierung eines Gene­rationstypus bzw. einer sozialen Gruppe. Gert Fabritius bewegt sich zwar auch am mittleren und etwas höheren Alterssegment, was auf eine Generationsschau schließen lässt. Aber sie un­terliegt dem Eindruck unvereinbarer kollektiv-individueller Physiognomien. Dem Künstler kommt es auf die Charakterzeichnung durch Gesichtszüge und den Augen-Blick an. Deshalb fehlen Kinderdarstellungen einerseits wie ablen­kende Utensilien, etwa Brillen, andrerseits (wo­bei sehr wohl Brillenträger unter den Darge­stellten sind). Zudem ist das weibliche Antlitz unterrepräsentiert, was nicht geringschätzig ge­meint ist. Von Holzschnitten des Expressionis­mus, man denke an Porträts der Brücke, weiß man, dass die schroffe Technik den weicheren Gesichtszügen der Frau abträglich ist – und wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel.

Angesichts von vierzig Köpfen drängt sich der zahlensymbolische Hintergrund auf. Es bleibt der theologischen Interpretation überlassen, die zahllosen Beispiele zu benennen, die die Bibel bereithält: 40 Tage – jeweils die Nächte inklusive – dauert die Sintflut, 40 Tage wartet Moses auf dem Berg Sinai auf die Gesetzestafeln, 40 Tage lang braucht der Prophet Elija, um seinen Depressionen zu entkommen, 40 Tage lang fas­tet Jesus in der Wüste, 40 Tage lang dauern die Fastentage von Aschermittwoch bis Karsamstag (die Sonntage nicht mitgerechnet) usw. Auf 40 Jahre wird das Irren der Israeliten durch die Wüste, Davids Regierungszeit u. a. m. angesetzt. Ausgeweitet wird die Liste durch Multiplikation (etwa 3 x 40 = 120) und durch den Blick über den christlichen Kontext hinaus (Argonautensage, sufische Mystik, hebräische Tarotsymbolik usw.). In dieser Spanne Zeit – ob Tage oder Jahre – geht im spirituell beseelten Menschen eine Wandlung vor. Gert Fabritius beschäftigt sich schon lange mit dieser Ziffer (dem Zahlenwert des hebräischen Buchstaben Mem), die auch quantitative Zuordnungen kennt: 40 Soldaten des römischen Heeres erlitten im Jahr 320 für ihren Glauben ihren Martyrientod in eisiger Käl­te, allerdings kennt auch die Hölle eine Armee mit immerhin 40 Legionen. Ausgerechnet der Westernfilm greift das soldatische Element unter religiöser Symbolik und im Zeichen der Zahl 40 zurück. „Vierzig Gewehre“ (1957) ist eine Art umgekehrte Schöpfungsgeschichte, „Vierzig Wagen westwärts“ (1965, der Originaltitel heißt „The Hallelujah Trail“) gehört zu den Aufbruch­filmen, die häufig einen extrem individuellen und zugleich stilisierten Zuschnitt haben. Die 40 Bildnisse von Gert Fabritius kommen ohne martialische Attribute aus, und es wäre vermessen zu glauben, in seiner Arbeit in der Leonhards­kirche wären Märtyrer oder Streiter einer ge­meinsamen großen Sache unterwegs. Doch ohne Frage umweht die Köpfe im sakralen Raum, präsent in symbolischer Zahlengröße und im Verband mit den attributiven Motiven Schiff und Leiter, eine religiöse Idee, wenn nicht ein missionarischer Auftrag. Sowohl das Schiff als auch die Leiter verweisen auf den Lebensweg bzw. die Lebens-Führung einerseits, wie auf die Überwindung irdischer Bodenverhaf­tung hin zu höheren Gefilden.

Gert Fabritius, „Eben Bilder“, Holzschnitt, 2009, ...
Gert Fabritius, „Eben Bilder“, Holzschnitt, 2009, 50 x 50 cm.
Wesentlich ist in diesem Ensemble verschiedenartiger Individuen, dass ihre Porträts nichts hervorkehren. Sehen wir, wie angedeutet, in einem Gesicht den Regisseur und Künstler Schlingensief, in einem anderen die Literatur­nobelpreisträgerin Müller, dann assoziieren wir mit ihnen auch das Leid eines vom Tod gezeichneten und eines von der Vergangenheit einer Diktatur verfolgten Lebens. Doch machen die vielen nur fallweise oder gar nicht zuzuordnenden Bildnisse darauf aufmerksam, dass so mancher sein Päckchen zu tragen hat, von dem wir Betrachter kaum etwas ahnen. Mitmenschen un­seres Alltags, die vielleicht auch nur glücklich sind, oder die wiederum aus dem Mut der vom Schicksal Gezeichneten Hoffnung schöpfen. Wie in einem überdimensionalen Briefmarken­album sind diese Köpfe aneinandergereiht. Dass sie im Holzschnitt gedruckt sind, gibt einem imaginären theologischen Programm Auftrieb: In einem Schaffensprozess wurden die Bildnisse aus dem rohen Druckstock geholt, an dem sie sich nun seitenverkehrt messen und spiegeln können. So sind sie gewissermaßen Ebenbilder, aber auch eben „nur“ Bilder geworden. Gert Fabritius schafft repräsentative Physiognomien, ohne einem Proporzdenken zu folgen und ohne Vor-Bilder zu erzeugen. Wenn wir uns von der klassischen Porträtkonzeption lösen, die am Ähnlich­keitsprinzip festhält, kristallisiert sich ein kultisches Stellvertreterklischee heraus, das in der prähistorischen Malerei bereits angedeutet, aber gerade auch in der christlichen Kunst (figurative Darstellungen an Schlusssteine, am Chorge­stühl, auf Epitaphien, als Stifterfiguren usw.) verankert ist.

Gert Fabritius, geboren 1940 in Bukarest, kam als Rumäniendeutscher in die Bundesrepublik, wo er zu seinen ureigenen Themen gefunden hat: der drohende Verlust der Identität und die Absurdität des Lebens, zu deren Darstellung er die mythischen Figuren Minotauros und Sisyphos im Anschluss an Albert Camus einsetzte. Sym­bolträchtige Chiffren wie das Schiff, die Leiter oder Stühle, die alle sowohl auf die antiken wie auf die christlichen Wurzeln unserer Zivilisation verweisen, begleiten dieses Œuvre von jeher. Nach der Gestaltung des Kunstraums in der Ka­tholischen Akademie Hohenheim (1999/2000) und dem Bartholomäus-Zyklus in der Stiftskir­che in Markgröningen (2008) ist die Stuttgarter Köpfegalerie für die Leonhardskirche seine dritte große, im sakralen Raum gebundene Arbeit.

Dr. Günter Baumann

Schlagwörter: Ausstellung, Stuttgart, Bildhauerei

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