23. August 2024
Grete Lienert-Zultner: „Wängsch“
Hinter der harmlos klingenden Überschrift „Wängsch“ (Wunsch) verbirgt sich eine persönliche Tragödie: Eine junge Frau wurde von ihrem auserwählten künftigen Bräutigam verlassen. Damit tritt neben den Trennungsschmerz zugleich eine wehmütige Trauer über die verlorene Zugehörigkeit zur Gruppe der ungebundenen Jugend. Verständlich wird Letzteres vor dem Hintergrund des traditionellen Sozialverhaltens der Jugendlichen, wie es einst in siebenbürgisch-sächsischen Dörfern üblich war.
Grete Lienert-Zultner
Wängsch
Norr iest noch wil ich dir begenen
äm Owendwärd‘n um Millebååch;
norr iest noch wil ich dir erwehnen
diën hiesche sannije Sommerdåģ,
wä Håånd än Håånd mir hä gegången
um Millebååch, mir zwee ellien.
Gåånz färr norr hiert em, wä se sången,
de Pursch’n uch Med än der Gemien.
Und hir‘n ich enzt dåt Liedche wedder,
dåt damols sä gesangen hun,
si sähn ich ställ zer Iërd norr nedder,
well ängde mer de Zehre kunn.
Sil Gott denj Schrätt noch iemol linken
äm Owendwärd‘n zem Millebååch,
si sollt uch ta noch iest drun dinken,
wat mir de‘ Bläck, de‘ Wiert versprååch.
Zur Jugend gehörte man ab der Konfirmation und war organisiert in der Bruder- bzw. Schwesterschaft mit ihren Statuten. Doch auch in der Freizeit galten gewisse ungeschriebene Regeln. Tags wurde draußen gewandert, Spiele gemacht und gesungen. Abends traf man sich gruppenweise an einer einladenden Bank vor einem Haus, es wurde erzählt, gescherzt, geneckt und wieder viel gesungen. Es gab aber keine echte Pärchenbildung. Fanden unter den Älteren aber Paare mit ernsthafter Absicht zueinander – man sagte: Sie „reden“ miteinander –, dann gehörten sie nicht mehr zu der freien, ungebundenen Jugend, dann hatten sie eine Privatsphäre und ihre Intimität wurde respektiert. Es lag etwas Geheimnisvolles darin, bis schließlich die bevorstehende Verlobung öffentlich angekündigt wurde.
Mitten in solch hoffnungsfreudiger Situation ist nun das Mädchen in unserem Lied von dem Beinahe-schon-Bräutigam verlassen worden. Dass sie nicht mehr zum Kreis der ungebundenen Jugend gehörte, deutet die Verfasserin geschickt an, indem sie wie scheinbar nebensächlich erwähnt: „Gåånz färr norr hiert em, wä se sången, de Pursch‘n uch Med än der Gemien.“
Der Wunsch der Verlassenen ist nicht Wiederherstellung des Gewesenen. Sie weiß, dass das illusorisch wäre. Dem Treulosen jedoch klar werden lassen, was er ihr angetan hat, könnte, so hofft sie, ihrer Trauer ein wenig Linderung verschaffen.
Übrigens: Das spontane gemeinsame Singen war nicht auf die Jugendzeit beschränkt. Auf den Bällen fand man sich zwischen den Tänzen immer wieder im Kreis zusammen und sang. Ob das nicht auch heute nostalgisch angenommen würde? Für das Textproblem gibt es ja technische Lösungsmöglichkeiten. Dadurch würde nicht nur das Auge an das Lesen siebenbürgisch-sächsischer Texte gewöhnt, sondern auch zur Erhaltung dieses Dialektes beigetragen. Einen Satz aus Goethes „Faust“ abwandelnd könnte man sagen: „Ein solch Gewimmel möcht ich sehn, mit singendem Volk im Kreis zu stehn“, meint
Wängsch
Norr iest noch wil ich dir begenen
äm Owendwärd‘n um Millebååch;
norr iest noch wil ich dir erwehnen
diën hiesche sannije Sommerdåģ,
wä Håånd än Håånd mir hä gegången
um Millebååch, mir zwee ellien.
Gåånz färr norr hiert em, wä se sången,
de Pursch’n uch Med än der Gemien.
Und hir‘n ich enzt dåt Liedche wedder,
dåt damols sä gesangen hun,
si sähn ich ställ zer Iërd norr nedder,
well ängde mer de Zehre kunn.
Sil Gott denj Schrätt noch iemol linken
äm Owendwärd‘n zem Millebååch,
si sollt uch ta noch iest drun dinken,
wat mir de‘ Bläck, de‘ Wiert versprååch.
Vom spontanen gemeinschaftlichen Singen
Hinter der harmlos klingenden Überschrift „Wängsch“ (Wunsch) verbirgt sich eine persönliche Tragödie: Eine junge Frau wurde von ihrem auserwählten künftigen Bräutigam verlassen. Damit tritt neben den Trennungsschmerz zugleich eine wehmütige Trauer über die verlorene Zugehörigkeit zur Gruppe der ungebundenen Jugend. Verständlich wird Letzteres vor dem Hintergrund des traditionellen Sozialverhaltens der Jugendlichen, wie es einst in siebenbürgisch-sächsischen Dörfern üblich war.Zur Jugend gehörte man ab der Konfirmation und war organisiert in der Bruder- bzw. Schwesterschaft mit ihren Statuten. Doch auch in der Freizeit galten gewisse ungeschriebene Regeln. Tags wurde draußen gewandert, Spiele gemacht und gesungen. Abends traf man sich gruppenweise an einer einladenden Bank vor einem Haus, es wurde erzählt, gescherzt, geneckt und wieder viel gesungen. Es gab aber keine echte Pärchenbildung. Fanden unter den Älteren aber Paare mit ernsthafter Absicht zueinander – man sagte: Sie „reden“ miteinander –, dann gehörten sie nicht mehr zu der freien, ungebundenen Jugend, dann hatten sie eine Privatsphäre und ihre Intimität wurde respektiert. Es lag etwas Geheimnisvolles darin, bis schließlich die bevorstehende Verlobung öffentlich angekündigt wurde.
Mitten in solch hoffnungsfreudiger Situation ist nun das Mädchen in unserem Lied von dem Beinahe-schon-Bräutigam verlassen worden. Dass sie nicht mehr zum Kreis der ungebundenen Jugend gehörte, deutet die Verfasserin geschickt an, indem sie wie scheinbar nebensächlich erwähnt: „Gåånz färr norr hiert em, wä se sången, de Pursch‘n uch Med än der Gemien.“
Der Wunsch der Verlassenen ist nicht Wiederherstellung des Gewesenen. Sie weiß, dass das illusorisch wäre. Dem Treulosen jedoch klar werden lassen, was er ihr angetan hat, könnte, so hofft sie, ihrer Trauer ein wenig Linderung verschaffen.
Übrigens: Das spontane gemeinsame Singen war nicht auf die Jugendzeit beschränkt. Auf den Bällen fand man sich zwischen den Tänzen immer wieder im Kreis zusammen und sang. Ob das nicht auch heute nostalgisch angenommen würde? Für das Textproblem gibt es ja technische Lösungsmöglichkeiten. Dadurch würde nicht nur das Auge an das Lesen siebenbürgisch-sächsischer Texte gewöhnt, sondern auch zur Erhaltung dieses Dialektes beigetragen. Einen Satz aus Goethes „Faust“ abwandelnd könnte man sagen: „Ein solch Gewimmel möcht ich sehn, mit singendem Volk im Kreis zu stehn“, meint
Ihr/Euer Bernddieter Schobel
Grete Lienert-Zultners Lied "Wängsch“ auf Siebenbuerger.de hören
Das Gedicht „Wängsch“ (Norr iest noch wil ich dir begenen) von Gete Lienert-Zultner können Sie als Lied zu einer Melodie von Hans Mild unter siebenbuerger.de/go/2L170 hören.Schlagwörter: Gedicht, Mundart, Lienert-Zultner
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