2. Januar 2016

Roman greift das aktuelle Thema der Arbeitsmigration auf

„Kinderland“ ist der Originaltitel des von der Moldauerin Liliana Corobca in Rumänisch verfassten Romans, der im August 2015 in deutscher Übersetzung (Übersetzer: Ernest Wichner) unter dem Titel „Der erste Horizont meines Lebens“ im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Der Roman greift das aktuelle Thema der Arbeitsmigration auf, das für die Bewohner vieler osteuropäischer Länder traurige Realität ist.
Die Protagonistin des Romans ist die zwölfjährige Cristina, die in Abwesenheit der Eltern (Vater in Sibirien, Mutter in Italien) die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen und sich und ihre beiden jüngeren Brüder Dan und Marcel durch die Schwierigkeiten des Alltags in einem fiktiven moldawischen Dorf lavieren muss. Sie wäscht, putzt, kocht, versorgt die Tiere, tröstet die Brüder, verteidigt sie gegen Angriffe von Nachbarskindern, die ihre Spielsachen stehlen, und muss selbst mit den pubertären Herausforderungen wie der ersten Menstruation, dem ersten Flirt und den schulischen Anforderungen, die sie unter den gegebenen Umständen nur bedingt erfüllen kann, fertig werden. Dabei ist sie immer darauf bedacht, dem Selbstbild, das sie von sich hat, nämlich korrekt und großherzig und stärker zu sein, wenn sie verzeiht, zu genügen.

Das dörfliche Umfeld erweist sich als wenig hilfreich, es ist geprägt von Skandalen und Skandälchen, von Suff, Prügeleien, Prostitution, Klatsch und Tratsch und einem merklichen Verfall der Sitten und moralischen Werte. Auch die Großmutter, in anderen Konstellationen eine Vertrauensperson und Helferin in diversen Notlagen, ist hier eine kranke, demente Alte, die Cristina in ein seelisches Dilemma stürzt, weil sie sich eingestehen muss, dass nur ihr baldiger Tod zur Heimkehr der Mutter führen wird, die alle Kinder so sehr herbeisehnen.

Der Roman charakterisiert sich nicht durch lineares Erzählen, sondern ist eine Aneinanderreihung, ein Kaleidoskop von Episoden aus dem Leben der drei Kinder und der Dorf-„Gemeinschaft“, die sich als solche aber disqualifiziert hat. Das Geschehen wird aus der Perspektive der Hauptdarstellerin weitgehend in Ich-Erzählweise präsentiert, allerdings bleibt dieser eingeschränkte Blickwinkel nicht durchgehend erhalten, sondern alterniert mit der personalen Perspektive, die ihrerseits auch durchbrochen wird, wenn gelegentlich die Stimme der Autorin durchschimmert, die ihre kritische Einstellung zum Thema Arbeitsmigration und zur westlichen Lebenswelt zum Ausdruck bringt: „Stimmt es, dass dort, in den sehr reichen und entwickelten Ländern, die Kinder zu nichts gut sind? Stehen sie nicht ihren Eltern bei, kümmern sie sich nicht um ihre Geschwister, können sie kein Essen zubereiten oder Ziegen melken? Kleine Parasiten im Nacken der Eltern! Mit Vätern, Müttern, Kindermädchen, Erzieherinnen, und sie, pummelig und dümmlich, lassen sich waschen, ernähren, anziehen, schlafen legen, aufwecken und erziehen.“ Das ist sicherlich nicht Kindermund, der da spricht, und ob diese Brüche dem Roman zum Vorteil gereichen, bleibe dahingestellt.

Auch der letzte Teil des Romans ist wenig überzeugend. Hier werden in einer Art Delirium oder Tagträumerei magische Rituale heraufbeschworen, Zauberpraktiken und Heilungszeremonien, die auch sprachlich einen starken Gegenpol zum Rest der Erzählung markieren. Man könnte sie als eine Flucht aus der schnöden Wirklichkeit in eine Wunsch-Traumwelt deuten. Eine unendliche Sehnsucht ist die vorherrschende Stimmlage in dem Buch, die Sehnsucht nach den Eltern in der Ferne, die die Kinder versuchen sich heranzuholen, indem sie in deren Kleider schlüpfen, in denen noch ihr Geruch hängt, die Sehnsucht nach einer intakten Familie, in der die Rollen entsprechend verteilt sind, wo man als Kind auch Kind sein darf, die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Aber der Weg dorthin heißt warten, immer wieder warten: „Das Warten ist wie ein kleines Tier, weder ein Haustier noch ein wildes Tier, mal brav und schläfrig, mal böse und entfesselt, und immer der Überlegung und den beruhigenden Gedanken voraus. Wir müssen noch ein bisschen warten, dieses bisschen ist immer schwerer zu ertragen, zu erdulden, zu erleiden. Schwer, dass es uns zu Boden zieht, und vor Sehnsucht gehen wir gebeugt. Ich aber, wenn ich sehe, wie meine Brüder die Fotos der Eltern anschauen, fühle eine Tonne Tränen in meinem Bauch, ließe ich sie heraus, sie würden das ganze Dorf überschwemmen.“

Die Grundstimmung des Romans ist eine nahezu durchgehende Tristesse, nur gelegentlich abgelöst von kleinen humorvollen Momenten, wie sie der kindlichen Psyche eigen sind. Und wer glaubt, am Ende der 192 Seiten das Buch versöhnt aus der Hand legen zu können, sieht sich getäuscht, denn kein Lichtblick für diese Kinderschicksale, kein Hoffnungsstreifen am „Horizont“ ihres Lebens ist erkennbar, auch wenn der Roman mit den Zeilen endet: „Großmutter ist gestern früh gestorben … Ich weine, und ich weiß nicht einmal, ob ich vor Leid und wegen Großmutter weine oder vor Freude, dass endlich Mama und Papa nach Hause kommen werden.“ Auch dieses Nachhausekommen wird nur eine Episode bleiben.

KaRo

Liliana Corobca: „Der erste Horizont meines Lebens“, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2015, 192 Seiten, 18,90 Euro, ISBN 978-3-552-05732-6
Der erste Horizont meines Lebe
Liliana Corobca
Der erste Horizont meines Lebens: Roman

Paul Zsolnay Verlag
Kindle Ausgabe

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Schlagwörter: Rezension, Arbeitsmigration

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Neueste Kommentare

  • 02.01.2016, 13:27 Uhr von bankban: Vielen Dank für diese einfühlsame Rezension. [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

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