4. November 2024
Heimat, was das auch sein mag: Sabin Tambrea schreibt Familiengeschichte als Roman
Manchmal sind Lesende schon längst, bevor sie überhaupt eine einzige Zeile inhaltlich erfasst haben, mittendrin in der Handlung. Bei dem von Sabin Tambrea kreierten Druckwerk „Vaterländer“ ist das wahrscheinlich genauso. Bereits auf dem Deckblatt erkennen Draufblickende recht schnell ein innig verliebtes Paar. Gefühlte fünfeinhalb Sekunden weiter ist dieses Duo passgenau noch einmal abgebildet. Nur sorgt jetzt der deutlich erkennbare morbide Charme einer recht bekannten rumänischen Universitätsstadt mit ihren Fassaden eindeutig für klarere Konturen …
Für den gern schauspielernden Autor taugt dieses Motiv als ultimativer Aufhänger, um eigene Familiengeschichten literarisch zu bearbeiten. Sabin Tambrea ist hierzulande längst kein Unbekannter mehr. Als Franz Kafka bewunderte ihn die Filmwelt jüngst in „Die Herrlichkeit des Lebens“. Ja, um das Leben, oft genug sogar um das Überleben geht es auch im vorliegenden Buch. Skizziert wird darin die Geschichte seiner rumänisch-ungarischen Familie. Freilich, oft schreien die niedergeschriebenen Inhalte nach Freiheit gepaart mit Glück, fordern brachial Selbstverwirklichung sowie das unerbittliche Nutzen der vielen, sich zuweilen sogar spontan ergebenden Chancen.
Fast alles davon gab es an den Quellorten der im Text Handelnden eher nicht. Rumänien haben viele Europäer nach wie vor kaum im Visier. Es ist eben ein Land fernab beliebter Freizeitdomizile. Außerdem litt es lange Zeit unter einem fürchterlichen realsozialistischen Regime. Vater Béla verbreitete damals im Kommunismus der häufigen Stromsperren plus Lebensmittelpannen als tönender Botschafter recht klassisch klingende musikalische Luftfracht bis weit hinein ins westliche Ausland und blieb dann einfach Mitte der 1980er Jahre selbst dort.
Später durfte nach langem Warten, großem Zittern und massiv abhanden gekommenen Nervensträngen dessen Frau mit Kindern zu ihm nachreisen. Gemeinsam landeten allesamt in „4370 Marl, Glatzerstraße 5.“ Wie nüchtern deutsch und trocken so etwas klingt. Zugleich hat diese Adresse sehr viel mit einem fulminanten Neubeginn anderswo zu tun. Die Eltern waren bereits „daheim“ recht erfolgreich in ihrem Beruf und zimmerten auch in der Fremde trotz schwieriger ökonomischer Rahmenbedingungen ein festes Fundament, um sich eine kulturell belebende Existenz aufzubauen. Wie hier Disziplin, Wunsch, Ausdauer und Hoffnung verzückende harmonische Wechselbeziehungen realisieren, wird recht genussbeladen beschrieben. Aufgegeben haben sie für den gewünschten Neustart nicht mehr und nicht weniger als das bisherige Dasein mit all seinen geerdeten Netzkabeln. Der Autor notiert zuweilen mit kreativ-kindlicher Naivität, wie er auf diese Ereignisse blickt und wie berührend so ein Erinnerungscocktail partiell sein kann. Denn das fest im Kopf verankerte Ursprungsland konnte niemand der Weggefahrenen kurzerhand im Gedächtnis streichen. So ging es immer mal wieder mal in Richtung Urheimat, richtig tief hinein in den Südosten unseres Kontinents und somit schnurstracks zu den Wurzeln der eigenen Biografien. Diese Ausfahrten entpuppten sich zugleich als Abenteuerausflüge in völlig andere Refugien mit besonderen Regeln, eigenartigen Gewohnheiten und seltsamen Gesetzmäßigkeiten. Zwar zerfiel dort auf dem Balkan während unruhiger Zeiten das Ceauşescu-Imperium. Aber nicht nur in den dortigen, recht uncharmant wirkenden Amtsstuben erkannte der Aufschreibende, wie hartnäckig und schmerzhaft personelle Kontinuitäten nach Umbruchsituationen sind. Auch wenn es vor Ort so etwas wie eine Revolution gab. Im bunten Deutschland schaffte er es als Kind mit Hilfe geduldiger Lernunterstützer, reichlich eigenem Talent und antrainiertem Fleiß, das Geigenspiel nahezu meisterlich zu zelebrieren. Hochdekorierte Auftritte und Preise belohnten diese Art von Zielstrebigkeit.
Eher weniger amüsante familiäre Ereignisse katapultieren die Handlung in einem Kapitel partiell weit zurück in fast verweste Untiefen der kommunistischen Diktatur Rumäniens. Großvater Horea saß vor Urzeiten unschuldig im Knast. Willkür brauchten die Wächter des Zwangssystems – wie fast überall im damaligen Ostblock – beinahe täglich und sie diente ihnen zugleich für absolutistische Durchsetzungsrituale ehrverletzender Vorschriften. Unerbittlich tauchen schreckliche Bilder auf. Verbitterung und Ratlosigkeit wabern gerade über den notierten Sätzen. Betroffen davon ist eigentlich die gesamte Familie. Furchtbare Begleitumstände des Alltags mutieren zur Endlosschleife und entladen sich zur blutigen Eruption im Dezember 1989. Die gestrigen Henker schaffen es leicht in die neue Zeit und bleiben die ultimativen Tongeber.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Autor bereits im einstigen westdeutschen Wirtschaftswunderland. Bevor er selbst dort landete, gab es einen innigen Gedankenaustausch in Briefform zwischen dem geflohenen Vater und der zurückgebliebenen Mutter mit ihm und seiner Schwester.
Sabin Tambrea singt zweifelsfrei nicht mit in dem hierzulande immer größer werdenden Klagechor. Im Gegenteil: Seine jetzt öffentlich gewordene Geschichte ist frei von verharmlosender Nostalgie und zeigt an Fallbeispielen recht drastisch, wie wertvoll Freiheit, Recht und Selbstverwirklichung für so etwas scheinbar Banales wie eine positive Ausgestaltung des normalen Alltagslebens sind. Und er mahnt als einer auf eine Diktatur Rückblickender an, liberaldemokratische Werte in Deutschland zu bewahren und nicht einfach so zu verspielen. Kurzum: ein wichtiges Buch in solch unruhigen Zeiten wie diesen.
Fast alles davon gab es an den Quellorten der im Text Handelnden eher nicht. Rumänien haben viele Europäer nach wie vor kaum im Visier. Es ist eben ein Land fernab beliebter Freizeitdomizile. Außerdem litt es lange Zeit unter einem fürchterlichen realsozialistischen Regime. Vater Béla verbreitete damals im Kommunismus der häufigen Stromsperren plus Lebensmittelpannen als tönender Botschafter recht klassisch klingende musikalische Luftfracht bis weit hinein ins westliche Ausland und blieb dann einfach Mitte der 1980er Jahre selbst dort.
Später durfte nach langem Warten, großem Zittern und massiv abhanden gekommenen Nervensträngen dessen Frau mit Kindern zu ihm nachreisen. Gemeinsam landeten allesamt in „4370 Marl, Glatzerstraße 5.“ Wie nüchtern deutsch und trocken so etwas klingt. Zugleich hat diese Adresse sehr viel mit einem fulminanten Neubeginn anderswo zu tun. Die Eltern waren bereits „daheim“ recht erfolgreich in ihrem Beruf und zimmerten auch in der Fremde trotz schwieriger ökonomischer Rahmenbedingungen ein festes Fundament, um sich eine kulturell belebende Existenz aufzubauen. Wie hier Disziplin, Wunsch, Ausdauer und Hoffnung verzückende harmonische Wechselbeziehungen realisieren, wird recht genussbeladen beschrieben. Aufgegeben haben sie für den gewünschten Neustart nicht mehr und nicht weniger als das bisherige Dasein mit all seinen geerdeten Netzkabeln. Der Autor notiert zuweilen mit kreativ-kindlicher Naivität, wie er auf diese Ereignisse blickt und wie berührend so ein Erinnerungscocktail partiell sein kann. Denn das fest im Kopf verankerte Ursprungsland konnte niemand der Weggefahrenen kurzerhand im Gedächtnis streichen. So ging es immer mal wieder mal in Richtung Urheimat, richtig tief hinein in den Südosten unseres Kontinents und somit schnurstracks zu den Wurzeln der eigenen Biografien. Diese Ausfahrten entpuppten sich zugleich als Abenteuerausflüge in völlig andere Refugien mit besonderen Regeln, eigenartigen Gewohnheiten und seltsamen Gesetzmäßigkeiten. Zwar zerfiel dort auf dem Balkan während unruhiger Zeiten das Ceauşescu-Imperium. Aber nicht nur in den dortigen, recht uncharmant wirkenden Amtsstuben erkannte der Aufschreibende, wie hartnäckig und schmerzhaft personelle Kontinuitäten nach Umbruchsituationen sind. Auch wenn es vor Ort so etwas wie eine Revolution gab. Im bunten Deutschland schaffte er es als Kind mit Hilfe geduldiger Lernunterstützer, reichlich eigenem Talent und antrainiertem Fleiß, das Geigenspiel nahezu meisterlich zu zelebrieren. Hochdekorierte Auftritte und Preise belohnten diese Art von Zielstrebigkeit.
Eher weniger amüsante familiäre Ereignisse katapultieren die Handlung in einem Kapitel partiell weit zurück in fast verweste Untiefen der kommunistischen Diktatur Rumäniens. Großvater Horea saß vor Urzeiten unschuldig im Knast. Willkür brauchten die Wächter des Zwangssystems – wie fast überall im damaligen Ostblock – beinahe täglich und sie diente ihnen zugleich für absolutistische Durchsetzungsrituale ehrverletzender Vorschriften. Unerbittlich tauchen schreckliche Bilder auf. Verbitterung und Ratlosigkeit wabern gerade über den notierten Sätzen. Betroffen davon ist eigentlich die gesamte Familie. Furchtbare Begleitumstände des Alltags mutieren zur Endlosschleife und entladen sich zur blutigen Eruption im Dezember 1989. Die gestrigen Henker schaffen es leicht in die neue Zeit und bleiben die ultimativen Tongeber.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Autor bereits im einstigen westdeutschen Wirtschaftswunderland. Bevor er selbst dort landete, gab es einen innigen Gedankenaustausch in Briefform zwischen dem geflohenen Vater und der zurückgebliebenen Mutter mit ihm und seiner Schwester.
Sabin Tambrea singt zweifelsfrei nicht mit in dem hierzulande immer größer werdenden Klagechor. Im Gegenteil: Seine jetzt öffentlich gewordene Geschichte ist frei von verharmlosender Nostalgie und zeigt an Fallbeispielen recht drastisch, wie wertvoll Freiheit, Recht und Selbstverwirklichung für so etwas scheinbar Banales wie eine positive Ausgestaltung des normalen Alltagslebens sind. Und er mahnt als einer auf eine Diktatur Rückblickender an, liberaldemokratische Werte in Deutschland zu bewahren und nicht einfach so zu verspielen. Kurzum: ein wichtiges Buch in solch unruhigen Zeiten wie diesen.
Roland Barwinsky
Sabin Tambrea: „Vaterländer“. Roman. Gutkind Verlag, Berlin, 2024, 365 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-9894100-0-8.Schlagwörter: Rezension, Roman, Barwinsky
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