22. Februar 2020

Der Methusalem-Code - Identitätskrise eines Wanderpokals / Von Kurt H. Binder

Es begann damit, dass ich im Juni 2013, dem hypnotischen Ruf des Vergänglichen folgend, das 80. Lebensjahr erfüllte. Wie die meisten Leidensgenossen war auch ich stolz darauf, dieses relativ hohe Alter unbeschadet erreicht zu haben, obwohl ich ja, ohne Widerstand leisten zu können, auch nur ergeben mit der Zeit trotten musste.
In unserer Gaschke (Siebenbürgisch für Clique) war es üblich, jeden runden Geburtstag für alle Freunde und die Familie in einem öffentlichen Lokal großformatig auszugeben. Das ging zwar gewaltig ans Eingemachte, doch es musste ja nicht unbedingt das Teuerste geboten werden! Im Zuge dieser am Beutel knabbernden Tradition war diesmal also ich wieder dran, mit dem Vermerk: Der erste Achtziger! Nun, vor zehn Jahren war ich der erste Siebziger – ich war immer der Erste!

Diesmal jedoch wollte ich der Gaschke etwas Besonderes bieten. Meine Tochter Runa Verdandi, bürgerlicher Name Elke, kreierte dieses Etwas nach meinen Vorstellungen, ergänzt im Ausdruck durch ihr künstlerisches Genie. Das Ergebnis dieser spirituell-handwerklichen Symbiose war: der Kopf eines uralten Mannes, der im Gesamtausdruck die Karikatur seiner selbst war! Er war schlichtweg die plastische Allegorie der Hässlichkeit. Ich war begeistert, denn er entsprach genau der Horror-Visage, die mich vor einigen Tagen ungnädig aus meinem Alptraum gejagt hatte.

Dann begann ich mit der Gestaltung. Elke hatte unten im Hals ein Loch eingebracht. In dieses klemmte ich einen Stab von 25 cm Länge fest hinein. Den kahlen Kopf, die runzligen, eingefallenen Backen und das provokant unter dem zahnlosen Mund vorgereckte Kinn strich ich mit Pickes ein und beklebte es mit bester Bio-Watte. Und dann – ja, da staunte ich erstmal. Der hässliche Plastikkopf hatte sich zu einem Ehrfurcht gebietenden Greisenhaupt gewandelt, das einen aus hohlen Augen eher hilfsbedürftig bittend als Unheil verheißend, gütig anblickte. Auch seine riesigen abstehenden Ohren erinnerten eher an das wohl friedlichste Savannentier, den Elefanten, als an einen Pterodactylus der Urzeit. Und das sollte es auch, denn ich beabsichtigte, damit den vermutlich ältesten Mann der Menschheitsgeschichte darzustellen: Methusalem, Sohn Henochs und Großvater Noahs. Laut Bibelberichten wurde er im Jahre 3317 vor Christus im alten Orient geboren, ist 969 Jahre alt geworden und soll mit 187 Jahren noch einen Sohn gezeugt haben! Nachdem ich versucht hatte, mir DAS alles vorzustellen, wusste ich nicht, ob ich dieses Sexmonster bewundern oder bemitleiden solle. Doch dies spielt hier überhaupt keine Rolle, weil diesem Kopf eine andere Bestimmung zugedacht war.

Mein Jubiläumsfest fand in einem Lokal statt, das von einem Siebenbürger verwaltet wurde. Ich hielt die Begrüßungsrede, wie immer in Versen. Nach dem Mittagessen verlief der Nachmittag ohne nennenswerte Zwischenfälle ruhig, unterbrochen nur von gelegentlichen Lachern, Gläserklirren und akustischem Bekennen zum Wohlgeschmack des opulenten kulinarischen Angebots. Vor dem am Nachmittag gebotenen Kaffee mit Kuchen versammelten sich dann meine Freunde an einem Ende des Saales, um mir das traditionelle Ständchen zu singen. Ich war gespannt, denn diesmal sollten sie auf meinen Wunsch zwei von mir komponierte Lieder für vierstimmigen Chor singen! Eines davon auf einen Text von Christian Morgenstern, das andere auf einen sächsischen Text von einer Gaschkenfreundin. Während sie zwitscherten, stand ich auf und empfing stehend die harmonische Ehrerbietung an ihren ältesten Freund. Ich war zufrieden. So etwa hatte ich mir die Lieder vorgestellt. Dann trat ich in Aktion! Unter dem Tisch holte ich meinen blau-roten teleskopischen Ideen-Zylinder hervor, zog in zu voller Länge heraus und setzte ihn auf. Dabei musste ich nicht um Gehör bitten, denn meine Gäste waren verstummt und guckten erstaunt zu mir herüber. Ich starrte eine Weile teilnahmslos über ihre Köpfe hinweg. Dann packte ich den Methusalem-Stab, der bis dahin mit einem Tuch verdeckt war, und begann mit bedächtigen Schritten zur Saalmitte zu schreiten.
Kurt H. Binder trägt seinen Ideen-Zylinder.  ...
Kurt H. Binder trägt seinen Ideen-Zylinder.
Unter den Geladenen war auch Christa Schlezak, Tochter von Prof. Franz Xaver Dressler, eine gute Freundin meiner Frau Erika. Über das nun Folgende hatten wir uns vorher abgesprochen. Christa hatte sich vor das Keyboard gesetzt, und als ich vorbei ging, nickte ich ihr zu. Daraufhin spielte sie „Kommt ein Vogel geflogen“. Nun, ob ein Vogel im Dreivierteltakt fliegen kann, weiß ich nicht. Ich hatte jedenfalls nicht vor, im Walzerrhythmus über das Parkett zu tänzeln. Auf meinen missbilligenden Blick hin änderte Christa schuldbewusst die Melodie in „Alle meine Entchen“. Als ich auch damit nicht zufrieden war, spielte sie achselzuckend „Hänschen klein“, mit der bekannten Virtuosität einer langjährigen Pianistin. Bedauerlich, dass ihr verstorbener Mann Anton Schlezak nicht zugegen sein konnte. Wie ich ihn kannte, hätte er für mich nichts lieber gesungen als dieses herzige Kinderlied. Ich aber schritt weiter und näherte mich dem zweitältesten Mann der Gaschke. Er war etwa zwei Jahre jünger als ich. Ich ging auf ihn zu, sah ihn aber nicht an, was ihn ziemlich irritierte. Gerade als „Hänschen klein“ wieder geschwind ins Haus zurückgelaufen war, stand ich genau vor ihm und blickte mit versteinerter Miene voll in sein erstauntes Gesicht. Ich schwieg und sah ihn einfach nur an. Er schaute verlegen nach links, dann nach rechts, und als mir seine Ratlosigkeit langsam peinlich wurde, lächelte ich ihn beruhigend an und trug mein Anliegen vor.

Ich erklärte ihm feierlichen Tones die Bedeutung des Methusalem-Stabs, der hinfort immer von dem folgenden 80er-Jubilar an den nächstfolgenden wie ein Stafettenstab weitergereicht werden solle. Diese Form von Würdigung war ein Novum in der Gaschke, wurde aber mit Applaus genehmigt. Und dieses Ritual wurde in den kommenden Jahren bis zum heutigen Tag konsequent gepflegt.

Nun, dies war nur die Vorgeschichte. Das Folgende trägt dem Titel samt Untertitel „Rechnung“ und ist schnell erzählt. Durch den Empfang des Wanderpokals hatte der Jubilar symbolisch den Startschuss zum Überschreiten einer weiteren Jahrzehntgrenze erhalten. Der Award hatte somit eine Schlüsselfunktion. Ein Problem stellte sich aber ein, als der letzte Achtziger verlegen den Pokal empfing, denn nach ihm war kein weiterer Methusalem in spe in Sicht! Als er mir traurig mitteilte, dass er nun wie ein Depp auf diesem Wegweiser zur Endstation hocken bleiben müsse, übermannte mich das heiße Mitleid und ich dachte nach. Da fiel mir ein, dass ja auch unsre Damen gerne 80 werden wollten. Also müsste man Methusalem irgendwie anpassen, nicht zuletzt um die Frauenquote einzuhalten.

So könnte man z.B. eine Geschlechtsumwandlung vornehmen. Das wäre recht einfach, denn man müsste nur auf die Glatze eine Dauerwelle aus feinster Bio-Watte anpicken, die sich auf Plastik auch ohne Trockenhaube wellen würde. Dazu ein Kostümchen von Lagerfeld, Parfüm von Hugo Boss und Schuhe von Zalando, in der Hoffnung, dass der Transsexuelle von Tattoos und Piercing absehen würde. Eine Östrogen-Behandlung schien mir ungeeignet.

Doch dann entschloss ich mich, dem paradiesischen Beispiel zu folgen, Methusalem eine Rippe zu entnehmen und daraus seine „Methusalemine“ zu schöpfen. So bewahrte ich seine jahrhundertalte Identität! Die Ehre der Ausführung dieser weiblichen Variante überlies ich einem Gaschkenfreund, der sich gerne zu dieser emanzipatorischen Maßname bereit erklärte.

Die Kür der ersten Methusalemine steht bevor! Das weibliche Original des Pokals wird bald im üblichen feierlichen Rahmen einer Dame übergeben, die natürlich aus rein datenschutzrechtlichen Gründen nicht genannt werden möchte. Wo man den illustren Award sehen kann? Eine perfekte Kopie des Ur-Pokals ist in dem privaten Hausmuseum BINDERINUM in Herrenberg ausgestellt. Interessierte, die Spaß verstehen, können ihn mit Voranmeldung gegen einen Obolus besichtigen.

Schlagwörter: Jubilar, Binder, Humor

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