24. Dezember 2021

Der blaue Wollsocken – eine Weihnachtsgeschichte

Sie öffnete hastig die untere Schublade ihres Nachtkästchens, um ein Paar Socken herauszuholen, doch plötzlich hielt sie inne. Wie konnte das sein? Vor ihr lag ein wie von Zauberhand hingelegter blauer Wollsocken. Drei weiße, unterschiedlich breite Streifen verzierten den Bund. Verwirrt fragte sie halblaut: „Wo warst du die ganze Zeit? ... und wo ist dein Kompagnon, der zweite Geselle?“ Keine Antwort.
Gestricktes Weihnachtsgeschenk: ein Wollsocken, ...
Gestricktes Weihnachtsgeschenk: ein Wollsocken, der Erinnerungen weckt
Der Socken blieb stumm. Es schien, als wollte er wieder zurück in die muffige Schublade, zurück in die hinterste Ecke, in der er die letzten zwölf Jahre gelegen hatte. Doch dann gab`s keinen Halt mehr. Urplötzlich überströmten heiße Tränen ihr blasses Gesicht, das nicht mehr ganz jung aussah. Liebevoll strich sie mit der spröden Hand einer Hundertjährigen über den ebenfalls spröden Wollsocken, presste ihn dann an ihre etwas zu lang geratene Nase und schnupperte daran. Blitzartig stand ganz deutlich das klare Bild ihrer Mutter vor ihr, so wie sie sie das letzte Mal gesehen und erlebt hatte: auf dem Bett sitzend und in einem Teller, der mit Zwetschgenknödel gefüllt war, herumstochernd. Bekleidet war sie mit einer blauweißen Kittelschürze, über die sie eine cremefarbene selbstgestrickte Weste angezogen hatte. Ihre geschwollenen Füße steckten in altmodischen grauen Filzschuhen. „Nur die halten warm“, hatte sie des Öfteren behauptet. „Der Fußboden hier ist kalt.“ Eine trockene Feststellung, keine Klage.

Ich betrachtete ihr immer noch schönes Profil und streckte ihr ungeschickt und etwas zögernd den mitgebrachten Zwetschgenkuchen entgegen. Wir mussten beide lachen. Ja, es war Herbst. Zwetschgenknödel und Zwetschgenkuchen hatten Hochkonjunktur.

Sie, meine liebe Mutter, mein Motterchen, hatte die Socken, von denen nun einer fehlte, gestrickt. Getragen hatte ich sie nie. Geschätzt auch nicht. Gestrickte Socken waren altmodisch, kratzten, waren uncool. Und jetzt, zwölf Jahre später … was war da passiert? Musste man ein gewisses Alter erreichen, um Dinge anders zu sehen, anders zu bewerten? Oder war das nichts anderes als ein sentimentaler Schwächeanfall? Kaum! Für mich stand plötzlich fest, zu Weihnachten sollte es für alle Familienmitglieder nur gestrickte Socken geben: Socken, mit ganz viel Liebe von mir gestrickt, ganz egal, ob das Strickzeug jemals getragen werden würde oder nicht. Zugegeben, Socken gab es überall zuhauf. Schönere, flauschigere, billigere. Im Kaufland entdeckte ich sogar fünf Paar Socken zu einem Spottpreis von 3,99 Euro. Und doch sollte mich von meinem Vorhaben nichts mehr abhalten. Ich wollte Socken stricken, Socken, die eine Geschichte erzählen.

„Strick dich glücklich!“, forderte mich die Strickanleitung, die ich schon am selben Tag in der Hand hielt, auf. Doch von Glück war keine Rede! Eine Käppchenferse, wie sie in der Strickanleitung beschrieben wurde, hinzukriegen, bereitete mir große Schwierigkeiten, ebenso die Fußspitze. Große Enttäuschung! Verzweiflung! Hätte ich meiner Mutter nur genauer zugesehen! Die Reue kam zu spät. Aber Aufgeben war keine Option! Nach und nach erarbeitete ich meine eigene Strickanleitung, die der Strick-Profis war mir zu kompliziert, und ich zu ungeduldig. Mir lief die Zeit davon. Die fünf Stricknadeln, von denen eine ein Schaschlik-Stab war, klapperten ununterbrochen bis tief in die Nacht hinein. Nein, der Holzspieß klapperte nicht, der klang sanft, weichherzig, fast so, als wollte er mich ermutigen, unbeirrt weiter zu stricken. Stricken, auftrennen, stricken … so ging es tage- bzw. nächtelang. Endlich ergab meine Schlaflosigkeit Sinn, auch wenn sie in jedes meiner „kleinen Kunstwerke“ zahlreiche Fehler hineinschmuggelte. Einige besserte ich aus, andere ließ ich absichtlich stehen, ähnlich dem Leben, das nicht perfekt ist und es auch nicht sein muss. Ich wurde ruhiger und erlebte allmählich, dass sich das Ganze wie eine Art Meditation anfühlte.

Ich hatte viel Zeit nachzudenken. Am meisten dachte ich an meine Liebsten, für die ich gerade strickte. Wunderbare Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Ich sah den schelmischen Blick meiner dreijährigen Tochter, die mit zwei Löffeln hantierte und so die Tätigkeit ihrer Oma nachahmte, um dann lauthals hinauszuposaunen: „Oma, ich bin einfach schneller als du!“ Ein magischer Moment, den ihr stolzer Papa wunderbar mit der Kamera eingefangen hatte.

Ich dachte auch an den Obdachlosen, den wir einige Jahre zuvor, in der Hamburger Fußgängerzone strickend angetroffen hatten. Ein strickender Mann? Und dazu noch ein Obdachloser? Waren die nicht alle faul und Abschaum unserer Gesellschaft? Doch genau dieser weißhaarige, auf dem kalten Zementboden sitzende Obdachlose streckte mir selbstbewusst seine gestrickten Wollsocken entgegen und sagte: „Geben Sie mir dafür, was Sie wollen!“ Er nannte keinen konkreten Preis. Ich wehrte ab, warf ihm aber ein paar Münzen in den geflochtenen Korb, in dem ein buntes Wollknäuel rastlos hin- und her rollte. Behutsam hob der Obdachlose die Münzen auf und gab sie mir mit den Worten: „Ich nehme keine Almosen an!“ wieder zurück. Beschämt ging ich weiter. Soeben war mir eine Lektion fürs Leben erteilt worden. Auch ein Obdachloser besaß seine Würde!

Manchmal überfielen mich Zweifel. Socken zu Weihnachten? Machte ich mich damit nicht lächerlich? War das nicht total einfallslos? Laut der Zeitung Main-Post wollte im Jahr 2019 jeder Deutsche im Schnitt ungefähr 290 Euro für Weihnachtsgeschenke ausgeben. Und ich kam da mit Socken an? Ob meine Familienangehörigen das verstehen würden? Aber tief in meinem Innersten spürte ich, dass uns dieser ständig zunehmende Konsum nicht wirklich glücklich machte. Sehnten sich die Menschen nicht nach anderen Werten? Und so setzte ich meine Strickaktion fort. Ich spürte die Anwesenheit meiner Mutter (die sich leider schon 2007 von uns verabschiedet hatte) ganz deutlich. Lächelnd schaute sie mir bei der Arbeit zu. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte mich. Ich befand mich in Weihnachtsstimmung.

Seither wird gestrickt und gestrickt und gestrickt … Ob die Socken auch getragen werden, weiß ich nicht so recht. Ich hoffe es! Allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest (mit oder ohne gestrickten Wollsocken)!

Susanne Karres

Schlagwörter: Weihnachten, Geschichte, Stricken

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