25. Juni 2024

Bücherverbrennung in Kerz: Besaßen die Sachsen keine Bücher?

Um das Jahr 1970, als in Kerz acht Schulklassen mit deutscher Unterrichtssprache gegründet wurden, veranstalteten die Lehrkräfte eine Umfrage, in der sie sich nach den Büchern erkundigten, die die Kerzer Sachsen besaßen. Mit einer Lehrerin, die aus Heltau herkam, die an der Umfrage teilgenommen hatte, sprach ich darüber. Zwei Familien haben eine Bibliothek mit deutschen Büchern besessen (Pfarrer Heinrich Krauss und Familie Reinhold Schuster), berichtete sie.
Einige Kerzer haben jeweils nur ein einziges Buch, höchstens zwei oder drei Bücher ihr Eigen genannt, von dem Gesangbuch, der Bibel oder dem Neuer-Weg-Kalender (Almanach) einmal abgesehen. Alle oder fast alle Familien hätten aber die Zeitung Neuer Weg bezogen.

Jede der rund 105 sächsischen Familien habe über ein Zeitungsabonnement verfügt. Mehr als die Hälfte davon (etwa 80 Familien) habe zusätzlich die Wochenzeitung Die Woche (Hermann­städter Zeitung) besessen, einige wenige auch die Karpatenrundschau (Volkszeitung). Mit einem oder zwei Abonnements seien die Monatszeitschriften Volk und Kultur und Neue Literatur vertreten gewesen. Ein Kerzer habe die Halbjahresschrift Forschungen zur Volks- und Landeskunde bestellt, ein anderer die Neue Banater Zeitung (NBZ) aus Temeswar. Letztere habe der Postbote aber nicht täglich ausgeteilt, wie es hätte sein müssen, sondern jeweils ein- oder zweimal in der Woche. Darüber, dass Sachsen am Banat interessiert waren, wunderten sich die zwei Redakteure der Zeitung, die zu Besuch in Kerz waren, darunter der Schriftsteller Ludwig Schwarz. Gekommen waren die beiden zum „Ersten sächsischen Mundartdichtertreffens“, das 1977 in Kerz veranstaltet worden war.

Als ich einmal mit Friedrich Roth sprach, der 1977 in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist, erzählte er, dass er wüsste, weshalb die Kerzer Sachsen keine Bücher mehr besitzen würden. Sie hätten sie verbrannt, sie seien dazu von den Kerzer Behörden aufgefordert worden. Unter Androhung von Strafen hätten sie sie den Flammen anvertrauen müssen. Nach dem rumänischen August 1944, als Rumänien sich Russland (damals Sowjetunion) zuwandte, sei im Land ein deutschfeindliches Klima entstanden. Die deutschen Bücher, die sie in ihrem Besitz hatten, haben die Kerzer zum Park (Platz vor der ehemaligen Zisterzienserabtei) bringen müssen. Den Bücherstapel, der entstand, habe der Kerzer Hann, der rumänische Bürgermeister der Ortschaft, selbst angezündet. Ein großes Feuer habe sich entwickelt. Drumherum standen die Menschen und sahen den lodernden und knisternden Flammen zu, wie sie die sächsische Kultur, die deutsche Literatur fraßen und in Rauch verwandelten.

Dass in der Ortschaft, in der der sächsische Mundartdichter Viktor Kästner geboren wurde, die Menschen gezwungen wurden, ihre Bücher zu verbrennen, ist schwer zu verstehen. Wie viele Exemplare seines Gedichtbandes zu Asche wurden, ist nicht bekannt. In der Ortschaft gab es danach nur noch zwei Exemplare des Buches mit seinen Mundartgedichten. Das eine hatte meinem Großvater gehört, das andere einem gebürtigen Kerzer Lehrer.

Meine Großmutter, die viele Bücher in ihrem eingeglasten Bücherschrank stehen hatte, habe nur einen Teil zum Feuer gebracht. Nachschlagewerke, wie das sechsbändige große Landlexikon (ein Standartwerk jener Zeit, 1911-1914 erschienen), das meinem Großvater gehörte, das er auf seinem Aufenthalt in Berlin erstanden hatte, habe sie nicht zum Scheiterhaufen getragen. Die seltene Kronstädter Zeitschriftensammlung Ostland habe sie im Schrank zwischen Kleidern verstaut. Die befinden sich heute noch im Besitz der Familie. Viele Broschüren über den Obstbau habe sie gleichfalls behalten. Die habe mein Großvater in der Schule eingesetzt, wo er den Kindern landwirtschaftliches Fachwissen beibrachte. Mehrere Bücher, die im 19. Jahrhundert verlegt wurden, habe sie nicht dem lodernden Scheiterhaufen übergeben. Ich erinnere mich an den „Decamerone“ von Boccaccio und an einen Band von Casanova, die sich unter den geretteten Büchern im Bücherschrank befanden, zu denen ein13-14-Jähriger gerne greift. Eine zerschlissene illustrierte Ausgabe der „Abenteuer des Odysseus“ war darunter. Mit diesem Band habe ich die gotische Schrift lesen gelernt. Einen Islandroman, von einer Frau verfasst, dessen Buchtitel mir abhandengekommen ist, entdeckte ich unter den geretteten Büchern. Als der Isländer Halldór Laxness den Nobelpreis für Literatur erhielt, ordnete ich mich in die Reihe seiner Bewunderer ein. Eine Brieffreundschaft mit einem Isländer meines Alters, der ein Liebhaber der Eddalieder aus dem 13. Jahrhundert war, pflegte ich in meiner Jugend.

Ehe meine Eltern am Nikolausabend 1991 auswanderten, habe ich einen Teil ihrer Bücher jenen Sachsen in Kerz geschenkt, die vorhatten, in Siebenbürgen zu bleiben. Meine eigenen Bücher, meine Transsilvania-Sammlung habe ich nach Deutschland mitgenommen und in Regale gestellt. Die befinden sich in einem großen und hohen Raum. Als ich in meiner Wohnung in Hermannstadt die Bücher einpackte, bin ich lange vor dem dortigen Regal gestanden. Ich konnte mich nämlich nicht dazu entschließen, sie herauszunehmen und für die lange Reise einzupacken. Die alten Kinderbücher, die mit farbenfrohen Illustrationen versehen waren, verschenkte ich an Nachbarskinder.

Über den Anschlag des Kerzer Bürgermeisters auf unsere Kultur, auf unsere Zivilisation, haben die Kerzer Sachsen nie gesprochen (mir wenigstens war davon nichts bekannt geworden), so dass er verdrängt und vergessen wurde. Erst als Friedrich Roth davon erzählte, wurde mir bewusst, was gelaufen war. Man hatte versucht, den Sachsen ihre Kultur wegzunehmen. Ein weiterer Tiefpunkt kam im Januar 1945 hinzu, als sie nach Russland getrieben wurden. Sie wurden dadurch auch ihrer Freiheit beraubt. Auch in Deutschland wurden, im Jahr 1933, Bücher verbrannt, von Studenten. Im Mittelalter wurden den Indianern Mittel- und Südamerikas ihre Schriftwerke weggenommen und zerstört, danach wurden sie in die Abhängigkeit getrieben, in der sie sich teils immer noch befinden.

Als in den 1960er Jahren die ersten Bücher aus der DDR im rumänischen Handel auftauchten, hat mein Vater danach gegriffen. Er kaufte einen Heinrich Mann, er kaufte Bücher von französischen Autoren in deutscher Übersetzung, die damals angeboten wurden. Mein Vater arbeitete in Viktoriastadt und besuchte ab und zu den dortigen Buchhandel. Nach Zeiten des Verbots, der Ohnmacht kommen immer auch Zeiten des Aufbaus. Und Bücher klären auf, sie vermitteln Wissen. Mit einem Buch in der Hand kann man nicht ins Bodenlose fallen.

Friedrich Schuster

Schlagwörter: Bücher, Kerz

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Neueste Kommentare

  • 27.07.2024, 17:04 Uhr von Reini: Ich gehöre der Nachkriegsgeneration. Wir waren viele junge Leute in Kerz. Bücher hatten wir ja ... [weiter]

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