21. Februar 2020

"Ich bin mit dem Zeichenstift in der Hand auf die Welt gekommen": Interview mit Gert Fabritius zum 80. Geburtstag

„Transportable Heimat“ betitelt Gert Fabritius seine wichtigste Installation. Der am 21. Februar 1940 in Bukarest geborene Künstler ist ein Wanderer, der seine Heimat immer bei sich trägt. Seine Kindheit ist vom Krieg geprägt. Seine Ausbildungs- und Studienzeit in Hermannstadt und Klausenburg fallen in die düsterste kommunistische Ära. Trotzdem hat er immer wieder Glück – mit Lehrern, die sein Talent erkennen und fördern, mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die ihn unterstützen, mit seiner Frau, die bis heute an seiner Seite steht. 1997 erhält er als einziger Siebenbürger den Lovis-Corinth-Sonderpreis, 2012 den Siebenbürgisch-Sächsische Kulturpreis. Seine Holzschnitte, Zeichnungen, Malereien und Installationen bereichern Sammlungen und Ausstellungen im In- und Ausland. Gert Fabritius ist für viele ein „Glücksfall“– nicht zuletzt: für die Siebenbürger Sachsen. Die Jubiläumsausstellung „Gert Fabritius. Tagebuch- und Blatt-Auf-Zeichnungen eines Unbefugten“ kann bis zur Finissage am 23. Februar 2020, um 11.00 Uhr, in der InterArt Galerie (Rosenstraße 37, 70182 Stuttgart) besichtigt werden. Das folgende Interview mit dem 80-jährigen Künstler führte Dr. Ingeborg Szöllösi.
Am 21. Februar 1940 hat dein Leben in Bukarest angefangen. Das war der erste Anfang, der vermutlich der einfachste war. Weitere Anfänge folgten. Wie viele Anfänge gab es in deinem Leben?
Die wichtigsten Lebensstationen in meinem Leben, die als Anfänge gelten können, waren: Mühlbach, Klausenburg, Bukarest und Ostfildern. – An den Uranfang, meine Geburt in Bukarest, erinnere ich mich nicht. Mein Vater hatte zwar neben seiner kaufmännischen auch eine Ausbildung zum Fotografen absolviert, aber es gibt kaum Fotos aus dieser Zeit. Am 23. August 1940, wenige Monate nach meiner Geburt, ist er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Die Maschine der rumänisch-französischen Fluggesellschaft LARES durfte in Temeswar nicht landen, obwohl vorgesehen war, dass sie dort tankt. Im August führte man gerade die Verhandlungen zum Zweiten Wiener Schiedsspruch, infolge dessen Nordsiebenbürgen wieder zu Ungarn gehören sollte. Am 23. August war noch nicht klar, ob auch das Banat mit Temeswar betroffen sein würde. So kam es, dass die Maschine keine Landeerlaubnis erhielt und in den Westkarpaten in den Baumwipfeln hängenblieb – einige überlebten den Absturz, mein Vater leider nicht. Meine Mutter ist kurz danach mit uns, meinem älteren Bruder und mir, zurück in ihr Vaterhaus nach Mühlbach gezogen, so dass ich meine Kindheit in Siebenbürgen verbracht habe.
Gert Fabritius: Transportable Heimat, Stuhlobjekt ...
Gert Fabritius: Transportable Heimat, Stuhlobjekt 2000, 200 x 78 x 190 cm, hier als Performance im Museum im Kleihues-Bau, Kornwestheim 2007
Hat man dir vielleicht die eine oder andere Geschichte aus dieser Zeit erzählt?
Es gibt eine lustige Geschichte, über die in der Familie viele gelacht wird: Der Bruder meiner Mutter kam aus Mühlbach nach Bukarest, um mich zu begutachten. Achtlos warf er seinen großen Mantel aufs Bett und erkundigt sich sofort nach mir. Doch ich war verschwunden – sie suchten mich überall und fanden mich nirgends, bis einer endlich auf die Idee kam, den Mantel des Onkels aufzuheben. Ich lag ganz still unter seinem Mantel. Das verschwundene Baby – eine gute Geschichte.
Von meiner Taufe weiß ich leider auch nichts, außer dass sie in Mühlbach stattfand und mein Taufpate der beste Freund meines Vaters war: Walther Guggenberger, Sohn der Bukarester Hoffotografin Ida Guggenberger. Mein Taufpate und mein Vater hatten einen noblen Laden für Weißwäsche und Sportartikel im Hotel Carlton in Bukarest, sie waren sogar Lieferanten des Königs. Auch mein Taufpate ist beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

1940 – der Einmarsch in Polen hatte schon stattgefunden, aber der Russlandfeldzug noch nicht. Du bist in einem Kriegsjahr geboren, deine ersten Gehversuche und Spielerfahrungen fielen mitten in den Krieg. Wie verlief deine Kindheit in dieser spannungsreichen Zeit?
Nach dem Tod meines Vaters und meines Taufpaten kam noch eine weitere Katastrophe: 1941 ist nach einem Erdbeben das Carlton-Gebäude eingestürzt. Die beiden hatten ihr Geschäft nicht ordentlich versichert, so dass meine Mutter von einem Tag auf den anderen mittellos geblieben war. Ihr Vater, mein Großvater Hann, nahm uns in seinem schönen großen Haus in Mühlbach auf. Aber auch die Verwandtschaft meines Vaters lebte in Mühlbach. Während und sogar nach dem Krieg brachte uns mein Großvater Fabritius jeden Sonntag nach dem Gottesdienst ein bisschen Marzipan aus seinem großen Kolonialwarengeschäft mit.
An den Einmarsch der deutschen Soldaten in Mühlbach kann ich mich sehr gut erinnern. Die große Werkstatt meines Großvaters Hann war noch nicht fertig, die Maschinen sollten aus Deutschland angeliefert werden. Doch hatte die Wehrmacht diese große Halle zu einem Lager umfunktioniert und bewahrte dort Stiefel, Mäntel, Zucker, Wärmebeutel u. a. für den Russlandfeldzug auf. Ich sehe heute noch die Winterstiefel vor mir. Aufsichtspersonen waren ein deutscher Soldat aus dem Saarland – Schorsch war sein Name – und ein russischer Gefangener – er hieß Fjodor und war immer lustig. Die beiden waren tagein, tagaus bei uns auf dem Hof: Mein älterer Bruder hatte sich mit Schorsch angefreundet und ich mit Fjodor. Und wenn die beiden ihr Mittagsschläfchen hielten, legte ich mich immer zum Fjodor. Eines Tages trugen sie Säcke voller Zucker auf den Dachboden. Fjodor wusste, wie schwer wir es hatten, und ließ einen Sack Zucker fallen. Sofort waren wir, meine Cousins und ich, zur Stelle. Ich habe den Zucker in meinen kleinen Schiebkarren geschaufelt. Weg war der Zucker! Doch ein deutscher Offizier hatte uns beobachtet – und seine Worte habe ich bis heute im Ohr: „Ein Deutscher stiehlt nicht!“ Die furchtbare Strafe war: Er vermischte den Zucker mit Sand und forderte meine Cousins auf, den mit Sand vermischten Zucker aufzulecken. Ich war zu klein, mich hat er nicht dazu verdonnert, aber ich habe mir vor Angst in die Hosen gemacht.
Zwei Monate später waren schon die Russen da. Ich habe sie aus dem Fenster beobachtet und ihren Einmarsch zwischen zwei Fenstern auf die Wand gezeichnet. Das war meine erste Zeichnung. Leider wurde sie übertüncht. Fjodor war bei der Staatlichen Feuerwehr gelandet. Schorsch wollte, dass wir uns den deutschen Soldaten anschließen. Aber meine Mutter wollte in Mühlbach bleiben. Zum Glück, denn Schorsch ist schon am Mühlbächer Hattert in Richtung Karlsburg (Alba Iulia) erschossen worden. Aus dieser Zeit ist mir ein Bild in Erinnerung geblieben: Wie Fjodor mir aus dem Fenster der Feuerwehr gewunken hat – heute fällt mir die Assoziation „wie Solschenizyn im Gulag“ ein.
Gert Fabritius mit dem Bildhauer Ingo Glass (l.) ...
Gert Fabritius mit dem Bildhauer Ingo Glass (l.) und dem Kunsthistoriker Mihi Dunca (r.) bei einer Vernissage seiner Zeichnungen im bayerischen Feldafing (1981). Foto: Konrad Klein
Wie habt ihr den Einmarsch der Roten Armee und die Zeit danach erlebt?
Die Russen haben wir gut überstanden. Schlimmer war, dass Rumänen, die mit den Russen gekommen waren, die Lagerhalle aus unserem Hof komplett ausgeräumt hatten. Daraufhin haben uns die Russen zur Rechenschaft gezogen. Sie haben uns – meine Mutter, meinen Bruder und mich – in eine Reihe gestellt und das Gewehr auf uns gerichtet: „Wem habt ihr was gegeben?“ Wir hatten aus der Halle nichts entwendet. Später haben wir dann die Securitate- und Parteileute in den Ledermänteln der Wehrmacht herumlaufen sehen.
1948 kam die große Enteignung. Wir wurden aus unserem Haus geworfen und mussten in die kleine Werkstatt vom Bruder meiner Mutter ziehen. Es gab ja keine rumänische Schule, und da unser Haus sehr groß war – es hatte drei Flügel und einen Innenhof wie ein Fußballfeld – wurde es zur rumänischen Schule umfunktioniert.

In der Zwischenzeit bist du zum Schulkind herangewachsen. Wie war die Schulzeit?
1946 bin ich eingeschult worden. Bis zur 7. Klasse bin ich in Mühlbach geblieben. Danach kam ich aufs Gheorghe-Lazăr-Lyzeum nach Hermannstadt, denn die Brukenthalschule gab es nicht mehr. In der 9. Klasse wechselte ich aber aufs Brukenthal-Gymnasium, das inzwischen neu aufgebaut worden war. Außer Zeichnen hat mich nur Geschichte und Literatur interessiert. Nach dem ersten Trimester war für die Lehrer klar: „Der Junge ist nichts fürs Gymnasium.“ So kam es, dass ich bereits mit 14 Jahren ein Handwerk erlernte und Schriftenmaler wurde. Mit 17 Jahren habe ich meine Gesellenprüfung bestanden und auch schon nebenbei Geld verdient. Ich konnte mich über Wasser halten – als Firmenmaler, aber auch mit Nebenjobs wie Weihnachts- und Osterkarten zeichnen oder Fahrradschilder beschriften. Ich war selbstständig und fühlte mich frei – das war für mich sehr wichtig! Im selben Jahr erfuhr ich, dass es in Klausenburg eine Schule gibt, wo man nicht lernen, sondern nur zeichnen muss: die Kunstschule (Liceul de artă). Ich habe mich in den Zug gesetzt und bin zur Aufnahmeprüfung nach Klausenburg gefahren. In dem Prüfungsraum wurden Staffeleien aufgestellt. Ich fing an zu zeichnen. Ein Lehrer kam zu mir und sagte: „Ești admis!“ (Prüfung bestanden!) Ich könne getrost nach Hause fahren, ich müsse das Ergebnis nicht mehr abwarten, sondern zu Schulbeginn, am 15. September, wieder zur Stelle sein. Das war der Kunstlehrer Ion Mitrea. Er blieb während meiner ganzen Klausenburger Zeit mein Förderer.

Hat sich deine Mutter über deinen Erfolg gefreut?
Für meine Mutter war ich eine Enttäuschung, weil ich es nicht geschafft hatte, das Brukenthal-Gymnasium zu beenden. Mein älterer Bruder hatte die Hochbauschule in Hermannstadt absolviert. Auf ihn war sie stolz. Ich war ihr suspekt – mit meiner Zeichnerei und der Kunst.

Und schon wieder musstest du dich mit einem Neuanfang konfrontieren – in einer Großstadt wie Klausenburg. Wie hast du dich zurechtgefunden? Du warst ja fremd in dieser Stadt.
Am 15. September bin ich zur Feierlichkeit anlässlich des Schulbeginns in den Festsaal der Kunstschule. Plötzlich steht da ein wunderschönes Mädchen vor mir. Unsere Blicke begegnen sich. Nach der Feier dachte ich: „Jetzt siehst du sie nie wieder!“ Doch als ich mich in meinen Klassenraum in die Schulbank setzte, wer saß vor mir? Das Mädchen. Das war’s – bis heute. Meine Frau Eva habe ich an meinem ersten Schultag kennengelernt und wir waren nicht nur in der Kunstschule, sondern später auch an der Kunstakademie „Ion Andreescu“ in Klausenburg Kollegen.

Du sagtest dein Lehrer Ion Mitrea habe dich gefördert. Wie?
Die Kunstschule wurde allmählich zu einem Elitegymnasium. Wir hatten Latein, Literatur- und Kunstgeschichte, Fächer, die mich interessiert haben. Ich war ein guter Schüler und wurde am Ende des Schuljahres immer prämiert. Ion Mitrea hat immer dafür gesorgt, dass ich deutsche Klassiker als Buchprämie bekam. Ich habe als Zweitbester das Abitur bestanden und wollte nach Bukarest gehen. Doch vor der Aufnahmeprüfung sagte mir Ion Mitrea: „Du gehst nicht nach Bukarest, du bleibst hier! Du bist hier auf der Kunstakademie bereits zugelassen.“ Die Sympathie, die mir dieser Lehrer entgegengebracht hat, war unglaublich. Er war wie eine Vaterfigur für mich. Auch meine Freundschaft mit Eva hat er nicht skeptisch beäugt, sondern uns ermutigt, zusammenzubleiben.

Wie hast du dich finanziell arrangiert?
Meine arme Mutter, die aus einem betuchten Haus kam und Klavier spielen konnte, musste in den „neuen Zeiten“ in der Lederfabrik in Mühlbach ihr Dasein fristen. Sie hätte mich nicht unterstützen können. Aber ich habe ein Stipendium bekommen. Und hatte mit einer weiteren Vaterfigur Glück: Als ich aus der Klasse für Malerei in die Grafikklasse wechselte, war László Feszt mein Lehrer. Er sagte zu mir: „Te tudsz rajzolni“ (Du kannst zeichnen) und schickte mich zur „Tribuna“. Mein erster Gedanke war: „Was soll ich als Sachse bei einer rumänischen Zeitung, die jagen mich gewiss davon!“ Aber das haben sie nicht getan: Zweieinhalb Jahre lang bekam ich fast wöchentlich einen Zeichen-Auftrag von der Redaktion. Ich habe also auch in Klausenburg Geld verdient, so dass wir, Eva und ich, im vierten Hochschuljahr heiraten konnten.

Du bist 1957 mit 17 Jahren nach Klausenburg gekommen. Bis 1959 waren das unter Gheorghe Gheorghiu-Dej die schlimmsten Jahre – mit den spätstalinistischen Schauprozessen wie dem Schwarze-Kirche-Prozess und dem Schriftstellerprozess. Wie hast du diese Zeit erlebt?
Es verschwanden laufend Lehrer oder Menschen, mit denen du noch am Vortag zu tun hattest. Zum Beispiel hatten wir an der Kunstschule einen sehr guten Lateinlehrer, der uns viele Geschichten erzählte. Von ihm habe ich zum ersten Mal vom Rosettastein gehört. Dieser Lehrer erschien eines Tages nicht zum Unterricht. Es hieß: „Wir haben vorläufig keinen Lateinlehrer mehr.“

Wie kamst du nach Bukarest?
Ich war an der Kunstakademie der Jahrgangsbeste und habe bei der „Repartiție“ (Zuteilung) das Unternehmen „Decorativa“ in Bukarest gewählt – das war ein Museumsausstatter, der die Aufgabe hatte, alte Museen neu zu gestalten. Eva wählte als Zweitbeste die UCCom (Uniunea Cooperativelor de Consum) und wurde Textildesignerin in Kronstadt, denn in Bukarest gab es nur den einen Job, den ich bekommen hatte. Bei Ausstellungen hatte ich die Schriftgestaltung zu verantworten, und sehr schnell haben sich auch hier Nebenjobs ergeben, so dass ich in Kürze so viel Geld verdienen konnte, dass ich Eva mit meiner ältesten Tochter nach Bukarest holen konnte.

Wann habt ihr den Entschluss gefasst, nach Deutschland auszuwandern?
Uns ging es eigentlich gut. In der Zwischenzeit hatte ich auch Kontakte zum „Neuen Weg“ und Kriterion Verlag geknüpft. Das Schillerhaus war gegründet worden; dort bekam ich einen Job als Kurator. Ich habe den Literaturkreis mitgegründet, viele Bücher illustriert. In meinem Atelier trafen sich regelmäßig die Kulturattachés der Bundesrepublik, der DDR, aber auch der Schweiz und Österreichs. Erwin Wickert kam als Botschafter eines Tages auf mich zu und sagte: „Sie müssen Ihr Mutterland kennenlernen!“ Mit seiner Hilfe bekam ich 1972 den Pass und konnte kurz nach der Münchner Olympiade nach Deutschland reisen. Ich habe ganz Deutschland bereist, mich an einigen Ausstellungen beteiligt – ich hatte ja einige meiner Arbeiten im Gepäck –, Interviews gegeben und viele wertvollen Kontakte geknüpft. Nach zwei Monaten ging’s zurück nach Rumänien. Schon an der Grenze erwartete man mich mit dem Satz: „Tu ești ăla, care face nebunie în Germania!“ (Du bist jener, der in Deutschland die Welt auf den Kopf stellt!) – Ab diesem Zeitpunkt ging es bergab. Ich war nie Parteimitglied gewesen. In den Rumänischen Künstlerverband haben sie mich nicht aufgenommen. Bei Ausstellungen wurden sogar Bilder von mir nach der Vernissage entfernt – mit der Begründung, sie seien „nicht kommunistisch“. Bis man mir sogar ein Ausstellungsverbot erteilte. Irgendwann hatte ich es satt. Nachdem wir unsere Papiere zur endgültigen Ausreise eingereicht hatten, habe ich meine Jobs verloren und musste das Atelier sofort aufgeben. 1977 haben wir schließlich Rumänien den Rücken gekehrt. Ich habe heute noch die Worte eines Passbeamten im Ohr: „Țineți gura și pleacă!“ (Halt den Mund und verschwinde!)

Wie war der Start in Deutschland? Du hattest ja bereits einige Kontakte …
Ja, und ich hatte wieder – wie bei allen meinen Neuanfängen – Glück. Wir landeten in Ostfildern. Über einen jungen Grafiker, den ich auf der Grieshaber-Ausstellung 1972 kennengelernt hatte, konnte ich einige Arbeiten von mir ausstellen. Zu dieser Ausstellung kam auch der Direktor des Heinrich-Heine-Gymnasiums. Seine Kunstlehrerin war in Mutterschutz gegangen, und er brauchte einen Kunstlehrer. Er kam auf mich zu und bot mir den Job an. So habe ich angefangen, zu unterrichten, und war dann bis zu meiner Rente Lehrer für Kunst und Kunstgeschichte in Teilzeit. Ich bekam die Klassen 10 bis 13 und nach zwei Jahren sogar den Leistungskurs Kunst. Auch er war für mich eine Art Vaterfigur. Als er in Pension ging, sagte er in seiner Rede: „Herr Fabritius war ein Glücksfall für unser Gymnasium.“ Ich hatte mit ihm großes Glück. Aber auch mit Dr. Ernst Schremmer, Leiter der Künstlergilde Esslingen. Er hat mich mit offenen Armen aufgenommen, was der Deutsche Künstlerverbund in Stuttgart nicht getan hat.

So etwas Ähnliches hattest du ja schon in Bukarest erlebt. Warum hat dich der hiesige Verband nicht akzeptiert?
Ich bin ein Zeichner durch und durch – und kein abstrakter Künstler. Ich bin mit dem Zeichenstift in der Hand auf die Welt gekommen. Gott sei Dank, habe ich bei der Geburt meine Mutter nicht verletzt. Das Zeichnen ist für mich alles. Aber in unserer Zeit wird die figurative Kunst wenig geschätzt.

Du bist aber auch Holzschneider. Wie kamst du zum Holzschnitt?
Auf der Hochschule mussten wir verschiedene Techniken erlernen. Mit Lithografien und Radierungen habe ich angefangen. Aber bei diesen Arbeiten konnte ich mich der Kontrolle durch den Professor nicht entziehen, beim Holzschnitt ging das viel leichter. Schon in Klausenburg habe ich HAP Griesbacher, den großen Holzschneider, entdeckt – es war Mitte der 60er Jahre ein Buch in der DDR erschienen, das man auch in Rumänien kaufen konnte. 1975 war Claus Stephanis Buch „Erfragte Wege. Zipser Texte aus der Südbukowina“ mit 17 Holzschnitten von mir im Kriterion Verlag erschienen. Mit diesen Arbeiten war ich 1977 auf der Großen Buchkunstaustellung in Leipzig vertreten. Griesbacher war in der Jury und hat mir eine Arbeit von sich, die bis heute in meinem Arbeitszimmer hängt, geschenkt.

Im Dokumentarfilm von Christel Ungar-Țopescu aus dem Jahr 2018, der dir und deiner Arbeit gewidmet ist, wird uns vor Augen geführt, welche Neuerungen du in den Holzschnitt eingeführt hast.
Ja, ich habe angefangen, mit der Kettensäge zu arbeiten. Ich wollte die freie Linie, die mich immer schon fasziniert hat, in den Holzschnitt einführen, damit dieser die Leichtigkeit einer Zeichnung erhält und das Kantige oder Eckige verliert. Mit anderen Worten: Ich habe die Zeichnung in den Holzschnitt eingeführt. Zudem habe ich den Holzschnitt, der immer hinter Glas steckte, befreit, indem ich ihn auf Leinwand gedruckt habe. Deswegen habe ich mir eine große Druckerpresse nach meinen eigenen Vorstellungen bauen lassen.

Du bist – das veranschaulichen auch die Tagebuch-auf-Zeichnungen der letzten Jahre – kein verspielter Künstler des „l’art pour l’art“, sondern beziehst Stellung. So warst du auch früher, wenn wir an das Jahr 1983 denken, wo du nicht ins Lexikon der „Roumanian Artists in the West“ aufgenommen werden wolltest, da deren Herausgeber ein Verband war, der während des Kalten Krieges keine besonders rühmliche Rolle gespielt hat. Ähnlich gelagert ist die Episode 1984, wo du nach einer Ausstellung in Paris dem Sender Freies Europa ein Interview verweigert hast, weil er dich als „emigrierter rumänischer Künstler“ vorstellen wollte. Verstehst du dich als politischer Künstler?
Ich betrachte mich als politischer Künstler. Immer. Diesbezüglich bin ich ein Marxist. Marx hat gesagt: „Der Künstler ist der Spiegel seiner Zeit.“ Und meine Zeit ist viel zu interessant, viel zu bewegt, als dass ich mich mit bedeutungslosen Abstraktionen beschäftige. Ich habe mich auch immer als deutscher Künstler verstanden – und das habe ich in Klausenburg von den ungarischen Künstlern gelernt, die immer den Mut hatten, zu sagen: „Ich bin ein ungarischer Künstler.“ Mein Lehrer Ion Mitrea hat mir den wichtigen Satz mit auf den Weg gegeben: „Dacă uiți, că ești neamț, n-ai să faci artă.“
Gert Fabritius und Ingeborg Szöllösi im Atelier ...
Gert Fabritius und Ingeborg Szöllösi im Atelier des Künstlers
Du hast aber auch Bücher von Autoren wie Ivo Andrić und Romain Rolland illustriert. Die griechische Mythologie hat dich ebenfalls beeinflusst. In deinen Tagebuch-auf-Zeichnungen tauchen Zitate von Camus und Sartre auf. Es sind nicht nur die deutschen Klassiker, die dich geprägt haben.
In Europa haben sich zum Glück Kulturen entwickelt, die sich gegenseitig befruchten konnten und die „in Vielfalt vereint“ blieben. Wenn ich also sage, dass ich ein deutscher Künstler bin, schließe ich das Europäische niemals aus. In einer multiethnischen Landschaft wie Siebenbürgen lernt man so etwas: die fremde Kultur zu respektieren und zu rezipieren, ohne dabei die eigene Identität aufzugeben.

Wie drückst du deine Haltung in deiner Kunst aus?
Im Motiv des Stuhls, das in meinen Arbeiten oft vorkommt, schimmert die alte Weisheit durch: Ich bin zwar auf meiner Arche in Bewegung, aber ich habe immer meinen Stuhl dabei. Ich bin eine Person! Auch in der Masse bin ich ein Individuum und habe meinen Stuhl. Der Stuhl verbindet mich auch mit der siebenbürgisch-sächsischen Tradition. Die Siebenbürger Sachsen hatten auch ihre Stühle: Sie waren autonom und keine Leibeigene.

Läutest du mit deinem 80. Geburtstag eine ruhigere Phase deines Lebens ein?
Ich werde immer zeichnen, ich muss! Das ist meine Ausdrucksweise.

Schlagwörter: Kultur, Kunst, Gert Fabritius

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