9. August 2025

Von Landlerbibeln, Lica-Schnitten und kommunizierenden Trinkgefäßen: Der Hermannstädter Kunsthandwerkerin Renate Fleischer ein Lebensbild zum Neunzigsten

Es hat mich einige Überzeugungsarbeit gekostet, Renate zu einem Artikel anlässlich ihres Neunzigsten zu überreden. Dabei hat sie sich in vielfältiger Weise um die sächsische Kultur und Brauchtumspflege verdient gemacht. Als Hermannstädter Urgestein hatte sie noch viele der Originale des alten Hermannstadt selbst gekannt. Für mich auch deshalb spannend, weil wir in der gleichen Straße wohnten, ich noch ein kleiner Junge und sie eine junge Frau, die schon „große Zeiten“ erlebt hatte.
„Der Schrank ist mein Liebling“: Renate Fleischer ...
„Der Schrank ist mein Liebling“: Renate Fleischer mit ihren sächsischen Bauernmöbeln von 1939, aufgenommen in Gilching im April 2025. Foto: Konrad Klein
Kommt man aus meinem Wohnort Gauting ins acht Kilometer entfernte Gilching, ist man schnell in der Jupiterstraße, ehe einen das Navi zur Wohnung des Geburtstagskindes in die Uranusstraße leitet. Natürlich lebt man im oberbayerischen Gilching nicht hinterm Jupiter. Hier wurden die ersten Flugtaxis gebaut (Lilium), ist mit Quantum Systems ein führender Drohnenhersteller zu Hause, und hier befindet sich, sozusagen vor der Haustür, Oberpfaffenhofen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), einst auch Geburtsstätte der Dornier 328 selig. Gottlob ist der ganze High-Tech-Spuk verflogen, sobald man Renates, nun ja, Heimatmuseum betritt.

Für das behagliche Ambiente sorgen die kunstvoll bemalten sächsischen Bauernmöbel, eine einst mit Petroleum betriebene Majolikadeckenleuchte aus dem Harbachtal („noch von meiner Hauszigeunerin“), der Krügelrahmen mit allerlei Birnkrügen und Ofenkacheln, eine kleine Pendeluhr, die sich eines schönen Tages um halb drei in den Ruhestand verabschiedet hatte, vergilbte Stiche und auch so manches alte Küchenkupfer. Auf einer Truhenbank aufgemalt in Großbuchstaben der Namen der ursprünglichen Besitzerin: „ILSE BAUMANN / ANNO 1939“. Die Möbelgarnitur war ein Konfirmationsgeschenk für Ilse, die Enkelin des Lica-Fabrikanten Carl Albrecht sen. (1878-1934) und nach Originalen aus der Repser Gegend bemalt, vermutlich von der Schreinermalerin des Sebastian-Hann-Vereins Hermine Maurer. Damit entsprach sie perfekt den Idealen der Arbeitsstelle „Heimatkunst“ des Vereins, die sich der Wiederbelebung der sächsischen Volkskunst verschrieben hatte (vgl. hierzu T. Schullerus‘ Artikel in Klingsor, Heft 3, 1939). Möglich aber auch, dass sie von der legendären „Zuschtant“, der Keisder Möbelmalerin Sara Simonis (1904-1992), stammt, die im Winter 1933 beim Volkskunstforscher Ludwig Klaster in Urwegen die Motive der sächsischen Schreinermalerei studiert hatte.

Eine mit einem Drahtnetz zusammengehaltene ...
Eine mit einem Drahtnetz zusammengehaltene Gugelhupfform, wie sie früher von Rastelbindern geflickt wurden. Eine Operette Lehárs spielt sogar in diesem Milieu. Frühes 19. Jh., Familienbesitz Fleischer.
Renates Bauernstubeneinrichtung befand sich ursprünglich in der Diele des Hauses Albrecht in der Rosenfeldgasse 25 (heute Teclu 41). Nach der Nationalisierung 1948 wurde sie in die Schullerusstraße/Negoi gebracht, wo sie Ilse Baumann, verh. Bock (1925-2006), bei ihrer Auswanderung 1972 der Familie Fleischer überließ. Sich ein „sächsisches Zimmer“ als Empfangsraum einzurichten, war in den 20er Jahren in Mode gekommen. Die Albrecht’sche Diele befand sich im Hochparterre des Hauses und besaß schon früh eine sächsisch bemalte Kassettendecke. Und inmitten dieser neusächsischen Bauernherrlichkeit feierten, so Renate, die Hammersdorfer Jagdgesellschaft ihre Feste. Zu ihr gehörten stadtbekannte Jäger wie Carl Albrecht sen. und jun. mit Schwager Günther Baumann (dessen Familie ebenfalls im großen Albrecht‘schen Haus wohnte), Lica-Mitinhaber Richard Albrecht, HEW-Direktor Sigmund Dachler, Juwelier Ernst Lüdecke, Dr. Karl Ziegler, Zeichenlehrer Oskar Pastior und Primararzt Dr. Ernst Kisch als Vorsitzender – eine nur unvollständige Aufzählung der Mitglieder, mehrere auch mit Sommerhaus auf dem Alten Berg (Albrecht sen. starb auch in einem solchen) und Pächter der angrenzenden Jagdgebiete.

Zwei museumswürdige Objekte aus Renates Wohnung seien hier noch vorgestellt. Eines hat einen Ehrenplatz an der weißgestrichenen Küchenwand gefunden und stammte noch von der Urgroßmutter von Renates Mann: eine kunstvoll mit einem Drahtnetz geflickte Gugelhupfform, wie sie wieder verwendbar gemacht wurden von meist slowakischen Rastelbindern (im ungarischen drótos ist noch der Draht drin:), die früher über die Dörfer zogen. Kostbarer freilich ein von Renate restauriertes Vexiergefäß aus der Zeit um 1800, von denen sich nur wenige erhalten haben. Das als Scherzartikel konzipierte Trinkgefäß aus grünglasiertem Ton besitzt einen hohlen Standring, auf dem sich miteinander kommunizierende Kelche und hohle Kugeln befinden. Es spielte früher, natürlich weingefüllt, beim Aufnahmeritual in die Bruderschaft eine Rolle. Das Gefäß war ein Geschenk eines heute noch lebenden Hermannstädter Privatsammlers, der gleiche, der ein zweites dieser Art dem Brukenthalmuseum bei seiner Auswanderung überließ (abgebildet in Horst Klusch, Siebenbürgische Töpferkunst 1980, Abb. 48); das Siebenbürgische Museum besitzt zwei weitere Varianten dieser Scherzgefäße, eine davon aus Arbegen (Mitteilung Dr. Irmgard Sedler, die diese Gefäße jüngst auf dem Heimattag aus- und auch vorstellte).
Renate Fleischer mit ihrem Vexiergefäß. Als ...
Renate Fleischer mit ihrem Vexiergefäß. Als „Irdene Krone“ vom „Jungaltknecht“ auf den Kopf gesetzt, spielte das Trinkgefäß beim Aufnahmeritual neuer Bruderschaftsmitglieder eine Rolle. Glasierte Irdenware, Ende 18. Jh. Foto: K. Klein
Renate Wandschneider wurde am 12. Mai 1935 in Hermannstadt als jüngere Tochter des Kaufmanns Andreas Wandschneider und der Helene Anna Härtel (eigtl. Hertel) geboren. Der Vater betrieb einen bis 1939 bestehenden Glas-, Porzellan- und Haushaltsladen in der Saggasse 8, ein zum Siechenhaus-Komplex gehörendes Gebäude am Fuß der Sagstiege, zeitweilig zusammen mit Martin Sonnleitner (günstige Lage wegen des nahegelegenen Bauernmarktes auf dem „Bauholzplatz“). An ihre Volksschuljahre in der neuen „Martin-Luther-Schule“ im Lazarettviertel mit ihrem auch publizistisch sehr aktiven Schulleiter Simon Schwarz erinnert sich Renate mit gemischten Gefühlen, weil der gern am Eingang stand und Zuspätkommern mit einem Rohrstock auf die nackten Beine schlug (seinen Spitznamen „Pestalozzi“ hatte er sich freilich mit pädagogisch Wertvollerem verdient, etwa mit der Herausgabe der „Deutschen Kinderzeitung für Rumänien“; sein Briefwechsel mit der Pädagogenlegende Ed. Spranger, der ihn 1927 in Hermannstadt besuchte, wartet in Gundelsheim auf seine Wiederentdeckung). Aber die Zeiten waren eben danach, weshalb über dem Eingang auch der schöne Spruch hing: „5 Minuten vor der Zeit / Das ist deutsche Pünktlichkeit.“
Vernissage in der „Galerie V o’clock“ in ...
Vernissage in der „Galerie V o’clock“ in Feldafing mit Arbeiten des Graphikers Gert ­Fabritius (Oktober 1981). V.l.n.r.: Rolf Schuller, Gert Fabritius, Gerhard Eike-Hügel, ­Galeristin (damals Eikes Freundin), Renate Fleischer. Foto: Konrad Klein
Juli 1952 maturierte Renate an einem rumänischen Lyzeum und konnte kaum den nächsten Tag erwarten, an dem sie mit fünf Freunden zu einem Ausflug auf die Cozia startete. Beim Klettern in einer steilen Rinne verlor sie den Halt und landete 30 Meter weiter unten vor den Füßen ihres Freundes Günther Fleischer: zerschmetterte Kniescheibe, Bergung unter schwersten Bedingungen, OP in Hermannstadt und vier Monate Krankenhaus. Es sollte ihr Schicksalsberg werden, denn hier hatte sie bereits im Vorjahr Günther kennengelernt, der 1954 ihr Mann wurde. Nur die Träume vom anvisierten Medizinstudium und den Edelweiß in der Scherenwand waren dahin. So kam eine Anregung ihrer Freundin Beatrice „Babe“ Gutt (die spätere Frau des Theaterregisseurs Hanns Schuschnig) gerade recht, zusammen mit ihr einen Kurs bei Frida Binder-Radler an der Hermannstädter Volkskunstschule in Zeichnen, Malen und Modellieren, inklusive Farblehre, Gießen in Gips und Brennen zu besuchen, nur Diplome gab es keine (1952-1954). Dritter im Bunde war Peter Jacobi. „Jack konnte nicht zeichnen, aber gut modellieren“, erinnert sich Renate lächelnd. Aber wer ahnte schon, dass aus dem jungen Jacobi dereinst einer der bekanntesten rumäniendeutschen Bildhauer werden würde (vgl. hierzu auch SbZ v. 15.6.2008, S. 7)? Renate fertigte derweil ihre beliebten bunten Tonfiguren – sächsische Bauernburschen und -mädchen als Kerzenhalter, Lampenfüße u.a.m., als Weihnachtsgeschenk oder Mitbringsel von Ausgewanderten gleichermaßen geschätzt. Wegen ihres pflegebedürftigen Vaters musste sie damals 14 Jahre von zu Hause aus arbeiten.

Um sich beruflich zu verändern, besuchte Renate von 1971 bis 1974 einen dreijährigen Bildhauerkurs bei Imre Gyenge, Stadtkundigen als Schöpfer des Standbildes von Nicolaus Olahus bekannt. Mit einem Abschlussdiplom in der Tasche erhielt sie kurz darauf die begehrte Stelle als Puppenbildnerin und Kulissenmalerin am Puppentheater. Bereits 1979 freilich nutzte sie eine Jugoslawien-Tournee der Puppenbühne nach Laibach/Ljubljana, um von dort auf abenteuerliche Weise von österreichischen Freunden mit dem Auto über die Grenze nach Graz gebracht zu werden, von wo es dann nach einem Zwischenstopp nach München ging. Erst drei Jahre später konnte Renates Mann mit den beiden Söhnen nachziehen.
Mit diesem Spezereiwarengeschäft in der ...
Mit diesem Spezereiwarengeschäft in der Burgergasse begann die Erfolgsgeschichte der Lebensmittel-Industrie Carl Albrecht („Lica“). Links die Dragonerwache (nicht im Bild). Ansichtskarte, gelaufen 1931. Samml. Konrad Klein
1980 wurde die damals noch arbeitslose Renate von ihrem Vetter Rolf Schuller (1930-1982), vielen für das von ihm angelegte bzw. fortgeführte Siebenbürgisch-sächsische Künstlerarchiv bekannt, nach Gundelsheim gerufen – er hatte hier gerade als frischgebackener Kustos des Siebenbürgischen Museums mit dessen Umgestaltung begonnen (Neueröffnung: 17. Oktober 1981). Während Rolf im Wappensaal „residierte“ (heute das Schaudepot für Keramik), restaurierte sie im „Kabäuschen“ nebenan ehrenamtlich Keramik, erarbeitete mit ihm Ausstellungen u.a.m. Damals entstanden auch reizvolle Scherenschnitte mit weihnachtlichen Motiven, einige davon in der Siebenbürgischen Zeitung abgedruckt. Vor allem aber arbeitete Renate intensiv an einer Mappe mit „geschriebenen“ Mustern mit Anleitungen zur Anfertigung von sächsischen Volkstrachten: „Siebenbürgisch-sächsische Trachtenstickereien. ‚Geschriebene‘ Muster und ihre Anwendung in der Volkstracht der Siebenbürger Sachsen.“ Bd. 1: Nordsiebenbürgen und Unterwald“ (1981), der 1987 eine zweite folgte. Die vor allem von Volkstanzgruppen mit Interesse aufgenommenen Veröffentlichungen standen in der Nachfolge von Emil Sigerus‘ Stickmustermappen (1906, 2. Aufl. 1923) und waren auf Anregung der damaligen Bundesfrauenreferentin Ingrid von Friedeburg-Bedeus entstanden (SbZ v. 15. November 1981, S. 3 u. 31.5.2005, S. 15).

Als Rolf Schuller unter mysteriösen, niemals aufgeklärten Umständen mit schweren Schädelverletzungen im Innenhof von Schloss Horneck aufgefunden wurde und tags darauf an den Folgen einer Hirnblutung am 23. Februar 1982 starb, musste sich die aus München mit Rolfs Vater Rudolf Schuller angereiste Renate Vernehmungen unterziehen und ihren Cousin im Stuttgarter Katharinenhospital identifizieren. Der fast 80-jährige Vater wollte sich das nicht mehr antun, aber auch für sie war es ein schwerer Gang, bei dem sie vom Ehepaar Helga und Heinrich Lutsch begleitet wurde. Auch der mit Rolf befreundete Hans Bergel war erschüttert herbeigeeilt und fassungslos über die Behandlung des Falles mit spitzen Fingern seitens der Behörden, mutmaßlich weil die Securitate in den Fall involviert war (später von ihm frei gestaltet in einer Novelle, die den Erzählband „Die Stunde der Schlangen“ eröffnet).
Betriebsausflug mit einem Lieferwagen der „Lica“ ...
Betriebsausflug mit einem Lieferwagen der „Lica“ (um 1925). Hinten (mit Schiebermütze) Carl Albrecht sen., bekannt für seine „väterliche Liebe“, mit der er seinen Angestellten und Arbeitern begegnete (Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt v. 9.10.1934, S. 7). Foto aus: „Im Schnee der Erinnerungen“, Pop Verlag 2024, S. 90
An dieser Stelle auch ein Wort zu Renates Onkel Rudolf (Rudi) Schuller (1903-1985), schriftstellernder Hotelier – seine Eltern besaßen seit 1918 das Hotel Schuller (ehemals Schmidt, heute Pescarilor 2) mit einem Wohnhaus daneben, wo auch Renate mit ihren Eltern nach Schullers Inhaftierung jahrelang lebte – und Politiker, der als Parteigänger der DVR innerhalb der Erneuerungsbewegung zum Kreisleiter von Hermannstadt aufgestiegen war (1941-1944). Durch sein besonnenes Handeln konnte er nach dem Machtwechsel im August 1944 verhindern, dass Hermannstadt von den deutschen Truppen beschossen oder gar wie Bukarest bombardiert wurde. Die umgehende Internierung blieb Rudi gleichwohl nicht erspart und so verbrachte er – mit Unterbrechungen und ständig neuen Beschuldigungen (u.a. „Verbrechen gegen den Frieden“) – insgesamt 16 Jahre in kommunistischen Zwangsarbeiterlagern und Gefängnissen, u.a. in Ghencea, wo er sich das Bett mit Architekt Josef Bedeus v. Scharberg teilte (SbZ vom 30.9.2011, S. 10). Erst als Bundespräsident Heinemann für ihn intervenierte, konnte er 1972 mit seiner Frau Erika, geb. Lutsch (eine Schwester des Dokumentarfilmers Gottfried Lutsch), auswandern. Er ließ sich in Taufkirchen bei München nieder und brachte hier 1977 sein Bändchen „Gedanken hinter Gittern“ heraus, „die erste veröffentlichte Sammlung im Kerker entstandener Gedichte eines Siebenbürger Sachsen“ (H. Bergel). Zeitgeschichtlich wertvoll sind seine detailreichen, teils freilich sehr persönlich gehaltenen, aber in der Sache stets korrekten und uneitlen Erinnerungen „Erkenntnisse und Bekenntnisse“, ein bislang nur in Auszügen veröffentlichtes 466-Seiten-Typoskript (vgl. Forschungen, Bd. 59, 2016, hier auch die Beschreibung der dramatischen Ereignisse vom 23. August 1944 in Hermannstadt, zu seiner Person vgl. auch „Schriftstellerlexikon der Siebenbürger Deutschen“, Bd. X, 2012).

Zu den größten Unwahrscheinlichkeiten in Rudis Leben gehört, dass ihm der Weltgeist in den frühen 80ern einen Gesprächspartner in der Gestalt des nachmaligen deutschen Meisterdenkers Peter Sloterdijk vorbeigeschickt hat. Wenn seine Enkelin mit Peter (den sie 1985 heiratete) ihren Großvater besuchte, saßen die so ungleichen Männer alsbald bei einem Glas Wein und redeten sich die Köpfe heiß, sozusagen Drittes Reich aus erster Hand. Aber Rudi hatte ja weiß Gott sehr viel mehr zu erzählen, siehe oben. Auch hatte er während seiner Wiener Hotelfachschuljahre Philosophie gehört, die Nietzsche-Verehrung kam erst später hinzu. Seinen Humor und seine geistige Frische hat er sich bis zuletzt bewahrt.

Alles Käse oder was: Reklamekarte der „Lica“ (um ...
Alles Käse oder was: Reklamekarte der „Lica“ (um 1916). Erst 1921 begann die Firma auch Waffeln herzustellen. Modern auch die Werbung, die perfekt dem Kindchenschema entspricht. Samml. Dan Danila, Leonberg
Es folgten für Renate ruhigere Jahre in Gauting und seit 1993 in Gilching, in denen sie von 1981 bis zu ihrem Renteneintritt 1998 als Verwaltungsangestellte beim Münchner Landeskirchenamt arbeitete. Erwähnt sei hier auch, dass sie die heute wegen des Verschwindens der Erlebnisgeneration fast schon vergessenen Gedenkbücher für die „deutschen Söhne und Töchter Siebenbürgens, die in zwei Weltkriegen und schweren Nachkriegsjahren ihr Leben ließen“, jahrelang aktualisierte. Darin sind mit Tusche in Schönschrift die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen verzeichnet, nach Kirchenbezirken geordnet. Sie liegen, mittlerweile sieben Kunstlederbände, jedes Jahr auf dem Heimattag in der Dreikönigskapelle neben dem Segringer Tor aus.

Dass Renates Lebensgeschichte, wie oben beschrieben, so eng mit den Unternehmerfamilien Albrecht und Baumann verbunden ist, hat mit ihrem Mann Günther Fleischer (1928-2009) zu tun, mit dem sie danach auch zeitweilig im großen Mehrfamilienhaus der Familie Albrecht in der Rosenfeldgasse 25 (heute Teclu 41) wohnte. Hier lebte damals schon lange die Familie ihres Schwiegervaters Martin Fleischer, der seit 1920 als Werkführer und Wagenlenker in den Diensten des Unternehmens stand. Das ist auch der Grund, weshalb Renates Mann in Orlat geboren wurde, wo die Lica 1925 mit der „Orlalith“ A.G. Kunsthornfabrik eine Tochterfirma errichtet hatte, die das aus der Molkereiindustrie anfallende Kasein zum Kunsthornstoff „Orlalith“ verarbeitete.

Mit dem Bau einer Kunstmühle und Waffelfabrik (heute Hotel Apollo, Teclu 14) hatte bereits 1921 eine andere Erfolgsgeschichte begonnen: Die hier hergestellten Waffeln waren bald in aller Munde, es waren die ersten in Rumänien überhaupt. Einem Inserat im SKV-Jahrbuch von 1922 zufolge konnte man wählen zwischen „hochprima“ Lica-Theewaffeln und Lica-Schnitten als „Neapolitan-, Zitron-, Orang- und Mokkawaffel“. Schon als kleines Mädchen schwärmte natürlich auch Renate von den „Totto-Bröseln“, wie man in Hermannstadt den süßen Waffelbruch nannte, ein Name der auf Charlotte, verh. Baumann (1904-1998), die Tochter des Firmengründers Carl Albrecht sen., zurückgeht. Sie wurden in der Burgergasse gegenüber der Dragonerwache für wenig Geld in „Stanitzeln“ verkauft und waren vor allem bei Kindern sehr beliebt.
Roaring Twenties in Rumänien: Lieferwagen einer ...
Roaring Twenties in Rumänien: Lieferwagen einer Bukarester Lica-Filiale, um 1925. Foto: Stefan Bartha. Samml. Nelu Dejugan, Hermannstadt
Überhaupt war die Firmenkultur des von den verschwägerten Familien Albrecht und Baumann geleiteten Familienunternehmens fast schon eine gelebte Utopie. Einfache Angestellte wohnten gemeinsam Tür an Tür mit den Mitinhabern der Firma, „wie eine große Familie“ (Renate). Auch Volker Wollmann widmet der „Lica“ (Lebensmittel-Industrie Carl Albrecht) in seinem Beitrag zur Industriegeschichte Hermannstadts in D. Dusils Anthologie „Im Schnee der Erinnerungen“ mehrere Seiten. Auf einem dort abgedruckten Foto eines Betriebsausflugs lässt sich das unbeschwerte Miteinander erahnen (S. 90). Dementsprechend anrührend das ebenfalls dort veröffentlichte Testament, das Lotte Albrecht, geb. Connerth (1881-1958), die Frau des Firmengründers, am 25. Februar 1947 aufgesetzt hatte. Leider war es bereits 1948 aufgrund der Verstaatlichung Makulatur und die Leitung der in Aprolacta und kurz darauf in Victoria umbenannten Fabrik lag nun in den Händen eines Genossen, dessen Eignung sich auf seine „gesunde Herkunft“ beschränkte. Angesagt war jetzt die volksdemokratische Produktion von batoane (gefüllte Waffeln) und Biskotten, das milchwirtschaftlich einst größte Unternehmen Rumäniens hatte man über Nacht zerschlagen und die „Ausbeuter“ vor die Tür gesetzt (vorübergehend konnten die solcherart Enteigneten im Sommerhaus auf dem Alten Berg unterkommen, ehe sie in der Schullerusstraße/Negoi eine Bleibe fanden; die neue Fabrikleitung bezog selbstredend das Stammhaus). Nach 1990 versuchten neue Betreiber die „bitter-süße Geschichte“ der Victoria unter marktwirtschaftlichen Bedingungen fortzuschreiben (Hermannstädter Zeitung v. 31.3.2000), 2022 hatten sie die Firma endgültig an die Wand gefahren.
Entlassungsurkunde für den „gemeinen Grenadier“ ...
Entlassungsurkunde für den „gemeinen Grenadier“ Joachim Wandschneider, gebürtig aus „Lancken im Mecklenburgischen, lutherischer Religion, ohne Profession, ledigen Standes“, ausgestellt am 16. Mai 1770 in Hermannstadt. Familienbesitz Garching b. M.
Unter den Objekten der Familie Wandschneider bzw. jetzt Fleischer, die spannende Geschichten erzählen könnten, ist sicher auch jene Bibel zu nennen, die die Wandschneiders seit bald 400 Jahren wie einen Schatz hüten. 2024 stellte sie der Historiker Konrad Gündisch bei einem Kulturwochenende auf Schloss Horneck sogar „in echt“ vor (SbZ vom 15.4.2024, S. 4, vgl. auch SbZ vom 18.11.2024, S. 4). Es ist eine sog. „Kurfürstenbibel“ von 1641, wie jene von der Nürnberger Verlagsbuchhandlung J. A. Endter gedruckten Ausgaben der Lutherbibel genannt werden, die neben Kupferstichen der sächsischen Kurfürsten die lutherischen Bekenntnisschriften und Landkarten mit weiterem „Bonusmaterial“ für die Geheimprotestanten aus dem Salzkammergut enthielten – die heimliche Glaubensunterweisung musste notgedrungen von Laien bestritten werden. Wohl bald nach 1641 hatte man das wertvolle Buch aus Nürnberg ins Salzkammergut geschmuggelt, ehe es seine Besitzer bei ihrer Vertreibung nach Siebenbürgen mitnahmen, versteckt unter dem Strohsack eines Säuglings. Nach 1990 trat die „Landlerbibel“ wieder, abermals gut versteckt, den Weg nach Deutschland an. Die Tradition verlangt, dass die Bibel stets an den Erstgeborenen der Familie weiterzugeben ist. Nun befindet sie sich bei Renates älterem Sohn Bernd in Garching bei München. Davor hatte sie Mathe- und Physiklehrer Hansi Wandschneider (1926-1998), auch er ein Vetter Renates, aufbewahrt. Er wohnte lange – zeitweilig zusammen mit Renates Familie – in der Arzstraße/Bucegi 6, heute lebt in dem verwunschenen Häuschen Radu Coica, 46, ein ehemaliger Brukenthalschüler, der neben dem „Café Wien“ und dem Künstlercafé „Atrium“ neuerdings auch Ökotourismus betreibt.

Hansi Wandschneider bewahrte auch ein kostbares Schriftstück auf, in dem erstmals der Namen Wandschneider in Siebenbürgen bezeugt ist, den viele, warum auch immer, für landlerisch halten. Nun, Überraschung, der erste Träger dieses Namens auf siebenbürgischem Boden war ein gebürtiges Nordlicht namens Joachim Daniel Wandschneider, geboren 1739 in Lancken auf Rügen. Als Gefangener im Siebenjährigen Krieg trat der preußische Grenadier dem österreichischen k.k. Graf Pellegrinischen Infanterieregiment bei, ehe der 31-Jährige 1770 in Siebenbürgen um seine Entlassung bat, die Hermannstädter Sächsin Magdalena Roth zur Frau nahm, um sich anschließend – ausgestattet mit einer Schanklizenz – in Großpold niederzulassen (erst sein Sohn Johannes heiratete erstmals eine Landlerin). Heute kann der 1810 Verstorbene als Urvater aller Wandschneiders gelten, was es mit sich brachte, dass Renate und Martin Wandschneider (der Mann der ehemaligen Bundesfrauenreferentin Christa Wandschneider, geb. Rieger) den gleichen Urgroßvater haben. Und, eine(r) geht noch: Renates Schwester Alice „Lizzi“ Wandschneider (geb. 1931), ebenfalls verheiratete Fleischer (eine andere Fleischer-Linie!), ist die Mutter der durch ihr ehrenamtliches Wirken im Schlossverein bestbekannten Heidi Negura. Ihre Taufpatin ist natürlich, Sie ahnen es schon, Tante Renate, wer sonst.

Konrad Klein

PS. Mittlerweile wurde das Geburtstagskind gebührend gefeiert. Als Johannes Brandsch, 90, meinte, er sei wohl der Älteste in der Runde, hatte er die rüstigen Ü90er falsch eingeschätzt. Allen voran Viktor Sebastian „Bastl“ Hess, den Enkel des Waagenfabrikanten Viktor Hess (nachmals „Balanţa“), der trotz seiner 95 aus Neusäß herbeigeeilt war. Wir gratulieren und wünschen allen auf gut Sächsisch „Gott erhåld ech und bleiwt gesangd“. Und Renate rufen wir mit Otto Piringer den altbewährten Landlerspruch zu: „Nit loss di, eh!“

Schlagwörter: Kultur, Kunsthandwerk, Restaurierung, Landler, Wandschneider, Konrad Klein

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  • 10.08.2025, 08:47 Uhr von Robert: Konrad Klein schafft es, aus einem Geburtstagsportrait ein vielschichtiges Kaleidoskop ... [weiter]

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