24. Dezember 2010

„Es stieg mir heiß ins Herz“

Ein siebenbürgisches Weihnachtserlebnis. Aus einem Brief von Helmut Maier, Stuttgart
Kronstadt 1947
(...) damit im Zusammenhang will ich Dir, Irene, noch ein Erlebnis erzählen, das ich Anfang Dezember hatte. Ich weiß nicht, ob Du Dich erinnerst, dass am anderen Ende unserer Gasse der Schienenstrang läuft. Dort oben wohnt unser Schuster, und als ich nun eines Tages auf dem Weg war meine Schuhe hinzutragen, da stand dort auf den Schienen ein ungefähr 18-jähriges Mädchen, blond, blauäugig und ganz in Lumpen gehüllt. Frierend stand sie in einem dünnen Kleidchen da – darüber eine alte gestrickte Jacke, während ihre Füße anstatt mit Schuhen bekleidet nur in Lumpen gewickelt waren. Ich sah nach dieser so ungewohnten Erscheinung, sie guckte auch herüber – auf einmal kam sie auf mich zu und fragte flehend: „Ach bitte, Sie sind doch sicher eine Deutsche?! – Helfen Sie mir!“. Und damit rannen ihr auch die Tränen über die Wangen. Ich sprach einige beruhigende Worte und wischte dem armen Kind erstmal die Tränen und dann erzählte sie mir schluchzend – die Worte überstürzten sich beinahe –, dass sie vor ungefähr einer Stunde aus einem Transportzug heimkehrender deutscher Kriegsgefangener (sie kamen aus dem Ural) hier abgesprungen sei. Sie war mit dem Zug mitgekommen, zusammen mit noch zwei Mädeln, die aber beide in Richtung Schäßburg weiterfuhren. Sie aber ist aus Hermannstadt und wollte nun heim. Flehentlich bat sie mich, ihr das Fahrgeld bis Hermannstadt zu leihen, da sie keinen Heller ihr Eigen nannte. Sie wollte es mir dann gleich von daheim zusenden. Und glaube mir, Irene, als ich dieses feine, blasse Gesicht sah und diese flehenden Augen – ich glaubte alles aufs Wort. Es stieg mir heiß ins Herz. Ich nahm dieses junge Mädchen ohne viel zu überlegen am Arm und führte sie einfach mit nach Hause. Was musste sie alles mitgemacht haben. Frierend und zitternd stapfte sie an meiner Hand durch den Schnee.
Geburt Christi, Scherenschnitt von Gerhild ...
Geburt Christi, Scherenschnitt von Gerhild Wächter, 48 x 40 cm, 2010. Bildarchiv: Konrad Klein
Großmutter – Du kennst sie ja – machte große, wenn auch nicht erfreute Augen, als ich dieses „Lumpenkind“ heimbrachte und ihr erstmal etwas zu essen gab. Und dann erzählte sie mir. Es war so, wie ich’s mir gedacht hatte. Im Januar 1945 war sie, mit Tausenden von Leidensgefährtinnen, von den Eltern gerissen und nach Russland deportiert worden. Dort im Donezbecken hat sie am Bahngleise mit noch vielen gearbeitet. Es sei furchtbar gewesen. Viele sind infolge des Hungers und der Überanstrengung zugrunde gegangen. Als nun eines Tages einer der Gefangenenzüge, die dort durchkamen, hielt, da haben sie sich zu dritt kurzerhand den Mut genommen und den Heimkehrern zugerufen: „Bitte nehmt uns doch mit, wir halten es hier nicht mehr aus, es ist alles so schrecklich!“. Da rief einer: „Steigt nur auf, der Zug nimmt euch schon mit!“. Und als der russische Wachposten sich etwas entfernt hatte, sprangen sie alle drei auf. Es war recht schwer die ganze Zeit über, wenn Kontrolle kam, unbemerkt zu bleiben. Oft deckten die hilfsbereiten Heimkehrer diese drei armen Hascherl mit Soldatenkleidern zu, und das Essen teilten sie redlich mit ihnen, obwohl dieses recht kärglich war. Besonders ein älterer Offizier nahm sich ihrer in rührendster Weise an, und so landeten sie nach mehr als vier Wochen Fahrt hier. Sie konnte auch ganz unbemerkt aus dem Zug heraus.

Tränen der Dankbarkeit hingen an ihren Wimpern. Aber nun war es Zeit zur Bahn, wollte sie den nächsten Zug, der sie heimwärts bringen sollte, noch erreichen. Rasch gab ich ihr noch einige warme Sachen von mir und Mamas guten Mantel und geleitete sie zum Zug. Die Freude, ihre Lieben bald wiederzusehen nach dieser jahrelangen Zeit des Grauens, zeichnete sich sichtlich in ihrem Gesicht. Ich löste noch die Karte und dann stand sie auf dem Trittbrett. Im letzten Augenblick rief sie mir noch zu, ich möge doch daheim schnell anrufen, damit man sie abhole, wenn sie nachts so ohne Ausweis ankäme. Auf einmal sprang sie nochmals heraus, küsste mich auf die Wange und rief: „Das werde ich Ihnen nie vergessen!“. Ich stand da, winkte – nun war nichts mehr zu sehen. – Und dann fragte ich mich – es hatte sich alles im Verlauf zweier Stunden abgespielt –, ob ich nicht nur geträumt hätte.

Daheim war Vater auch einstweilen angerückt und da führte Großmutter bereits große Debatte: „Denk dir, Herta hat da einem Mädel, die ganz in Lumpen gehüllt war, Mamas guten Mantel gegeben!“ – das verwand Großmutter einfach nicht. Und dann, Irene, rief ich die mir angegebene Nummer in Hermannstadt an. Da meldete sich eine Dame, die Mutter der Kleinen. Es dauerte eine Weile, bis wir uns verständigten, d.h. bis diese Mutter dann so viel begriff, dass ihre Tochter und einziges Kind auf dem Wege nach Hause sei. Dann kam eine Männerstimme zum Apparat: der Vater. Ich weiß nicht, wer wohl mehr erschüttert war, die Eltern am anderen Ende der Leitung oder ich hier. Man hörte es wohl an der Stimme, dass sie beide weinten, oftmals versagte sie ihnen auch – und ich schluckte hier auch. Inge versprach mir auch, mir ihre gute Ankunft dort mit einer Karte mitzuteilen, was dann auch geschah. Weiter hörte ich dann vorerst nichts mehr. Nun kam am Tage vor Weihnachten ein Paket für mich an, das mir Vater unter den Weihnachtsbaum legte. Und da lag nun alles schön sauber, sämtliche Sachen, die ich der kleinen Inge mitgegeben hatte, zu Großmutters großer Erleichterung auch das Fahrgeld; und obenauf ein langer schöner Brief der Eltern, und ein Buch für mich, ein Rembrandtroman. Dieses Buch hat Familie N. dann, wie sie mir schrieben, ihrem eigenen Bücherschrank entnommen, da keine deutschen Bücher mehr käuflich zu haben waren: und als ich die erste Seite aufschlug, da stand als Widmung drin: Christus aber sprach: Was ihr dem Geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan!

Eine Menge feiner Birnen vom eigenen Birnbaum lagen noch dabei und eine Einladung, wenn mich einmal der Weg dort vorbeiführe, bei ihnen abzusteigen. Dann schrieb die Mutter weiter in dem Brief, dass Inge selbst noch nicht fähig sei zu schreiben, da sie bald nach ihrer Ankunft total erkältet mit einem bösen Nervenfieber das Bett hüten musste und auch jetzt noch nicht soweit sei, heute aber immerhin so, dass die Eltern wüssten, sie sei dem Leben zurückgegeben. Ich kann leider hier, aus Dir bekannten Gründen, nicht weiter darauf eingehen, aber diese Leute sind eine bekannte Familie in Hermannstadt, weit über die Vaterstadt hinaus. – Dies war mein schönstes Weihnachtserlebnis.

Schlagwörter: Weihnachten, Zeitgeschichte, Deportation

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Neueste Kommentare

  • 25.12.2010, 01:13 Uhr von gloria: Danke, das ist ein herzergreifendes Erlebnis. [weiter]
  • 24.12.2010, 17:12 Uhr von bankban: schön. [weiter]

Artikel wurde 2 mal kommentiert.

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