27. November 2021

Politisch aktuell und literarisch bedeutsam: Anmerkungen zu Eginald Schlattners neuem Roman „Drachenköpfe“

Der jüngst erschienene Roman von Eginald Schlattner, „Drachenköpfe“, Verlag Pop, Ludwigsburg 2021, verdankt seine Entstehung dem Umstand, dass der Schriftsteller sich veranlasst fühlte, eine Replik auf die fabelhafte Erzählung „Das Drachenhaus“ von Iris Wolff zu verfassen (erschienen in: „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018, S. 163-179). Und das umso mehr, als ihm das sogenannte „Drachenhaus“ in Kronstadt, über das Iris Wolff schreibt, aus eigener Anschauung bekannt war und somit Erinnerungen an eine gewichtige Zeitspanne seiner Biografie lebendig geworden waren. Zu der Niederschrift kam es während einer unfreiwilligen Freizeit infolge eines doppelten Beinbruchs, geschehen in der Kirche zu Rothberg.
Eginald Schlattner im Gespräch mit Pfarrer Helmut ...
Eginald Schlattner im Gespräch mit Pfarrer Helmut Wolff, ­Vater der hier erwähnten Schriftstellerin Iris Wolff, am Rande einer Lesung in Kornwestheim, 2006. Bildarchiv Konrad Klein
Dazu gesellt sich, dass Eginald Schlattner zu Iris Wolff eine virtuelle Beziehung hat. Ohne dass er sie je zu Gesicht bekommen hat, so seltsam das klingen mag, ist er ihr in den 41 Jahren ihres bisherigen Lebens dreimal begegnet. Das erste Mal war es im Jahr nach ihrer Geburt, 1978, als er als Vikar auf dem Pfarrhof ihres Vaters Helmut Wolff, in Semlak, Banat, Aushilfsdienst tat und dort auf den leeren Kinderwagen stieß. Somit nimmt es nicht Wunder, dass zur eigenwilligen Struktur des Romans Zitate aus Iris Wolffs Erzählung „Das Drachenhaus“ gehören.

An sich jedoch wird der Stoff gegliedert, indem am Anfang jedes Abschnitts eine Tagebuchnotiz steht, genannt „Diarium“. Es beginnt mit dem 16. Januar 2019 und endet mit dem 7. Juni 2019. Jedes Mal gehören dazu Gotteslob und Danksagung des Pfarrers für den neuen Morgen wie Martin Luther es anmahnt, wobei das jeweilige Datum nennenswerte Begebenheiten wachruft. So ist der 16. Januar der Geburtstag seiner Tochter und der 7. Juni 2019 der Todestag seiner Frau. Aber es sind nicht nur „Gedenktage“ an frohe Geschehnisse, wie ein Geburtstag, oder im Gegenteil „Totengedenken“, vielmehr umfassen die angetippten Begebenheiten in vielerlei Lesarten einen Themenkreis von der Studentenzeit bis hinein in die Zeit des alternden Pfarrers.

Darüber hinaus werden historische Ereignisse zur Sprache gebracht. Wie so oft in Schlattners Schriften wird der spektakuläre Frontwechsel im August 1944 erwähnt. Indem sich Rumänien durch die hochbrisante Entscheidung des jungen Königs Michael I. den Alliierten zugesellt hat, ist der Zweite Weltkrieg um ein halbes Jahr verkürzt worden. Es sind weiterhin Vorkommnisse aus der Vergangenheit des Ich-Erzählers, die widersprüchliche Fragen aufwerfen und wo Deutungen versucht werden, die das Mythische streifen. So wird zum Beispiel, im Zusammenhang mit dem Unfall des Pfarrers in der Kirche, über Sinn und Rolle von Krankheit nachgedacht – als Modell menschlicher Befindlichkeit. Und darüber hinaus das Nämliche bedacht, als Aussage und Auftrag Gottes.

Der Ich-Erzähler hält weiterhin Erinnerungen fest über Schule, Studium, Arbeit und widmet Passagen der Zeit seiner Haft im Gewahrsam der Securitate, die als Erschütterung bis in die Gegenwart des Erzählten reicht. Manches in der Darstellung kennt man aus früheren Werken des Autors. Dazu gehören Rückblicke über die Mutter und ihre Berufung in seinem Leben.

In keinem der Texte wird der Motorradunfall seiner früh verstorbenen Schwester unerwähnt gelassen, das „schlimmste Unglück“ in der Familie. Über die Brüder wird mehrmals berichtet: Der Nächstjüngere war jahrelang spurlos verschwunden, festgehalten in unbekannten Haftanstalten, als politischer Sträfling. Das Unheil der Judenvernichtung wird in jedem der Bücher angesprochen, „wiewohl die Sprache sich versagt“.

Mythischer Ort? Jedenfalls höchst inspirierend: ...
Mythischer Ort? Jedenfalls höchst inspirierend: das Drachenhaus, Klingsors sagenhafter Wohnsitz in Kronstadt, heute Schwarzgasse/Nicolae Ba˘lcescu Nr. 12. Zeichnung von Harald Meschendörfer, 1982. Bildarchiv Konrad Klein
Der sächsische Pfarrer taucht wieder und wieder auf. Er wohnt nicht in einem beliebigen Haus, er hat vielmehr einen Pfarrhof als Statussymbol der Gemeinde, da es auf Königsboden keine Adelshöfe gab. Und über die obskure Allmacht der Securitate wird auch diesmal berichtet, als ewiges unentrinnbares Schreckensgespenst. Es sind Leitmotive, die zeitgebunden die Romane durchziehen. Und sich immer wieder als Archetypen Geltung verschaffen. Offensichtlicher wird dies nunmehr im letzten Roman „Drachenköpfe“. Es werden emblematische Persönlichkeiten der Siebenbürger Sachsen genannt, wie der Schriftsteller Erwin Wittstock, in Wort und Tat dem fundus regius verbunden, oder der mutige Katzendorfer Pfarrer Georg Schuller, der trotz aller Drohungen der Deutschen Volksgruppe die Stirne bot.

Bemerkenswert ist ferner, dass typische Personen mit unwichtigen Namen auftreten, die zum Teil im „Drachenhaus“ von Iris Wolff vorkommen und in der Geschichte der „Drachenköpfe“ ebenfalls eine Rolle spielen. Ebenso werden merkwürdige Ereignisse dargestellt. Wie ein Begräbnis, wo der falsche Tote im Sarg liegt; die Beschreibung eines Leichenzuges, bewacht von der Securitate. Oder eine spiritistische Séance, in die ein Oberst des Geheimdienstes über eine Geheimtreppe hereinplatzt.

Es bleiben Ereignisse, die biographisch lokalisiert sind und trotzdem das „historisch Gesicherte“ überschreiten und „mythisch“ anmuten – als kollektive Urformen von Erfahrung.

Die aufgelisteten Geschehnisse und handelnden Gestalten sind zwar datierbar. Und sind zugleich zeitlos verortet. Denn Mythos heißt auch: Verwandlung jeglicher Geschehnisse in zeitlose Geschichten, in denen sich jeder Mensch der Windrose wiederfindet. Vielleicht wäre das der dialektische Schwerpunkt dieses Romans.

In der Tat: Dem Leser wird eine teilweise „ahistorische“ Lektüre aufgegeben. Der Autor berichtet in einer Weise, die der bekannte rumänische Religionsphilosoph Mircea Eliade „Verwandlung der Geschichte in Mythos“ nennt. Solches geschieht, „um die Geschichte ertragen zu können“ (M. Eliade „Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr“, Insel-Verlag Frankfurt a. M., 2. Aufl., 1984, S. 51 f.). Und er erklärt weiter: „Es gibt eine rumänische Ballade über einen unglücklichen Zug der Türken, bei der eine ganze türkische Armee in der Moldau ihren Untergang fand.“ In der Ballade „wird das historische Ereignis völlig in ein mythisches verwandelt“. Diese „Mythisierung“ historischer Persönlichkeiten und Ereignisse ist auch in anderen Kulturen immer wieder vorzufinden (vgl. M. Eliade „Kosmos…“, a. a. O., S. 53). Besonders dort, wo ein Volk die Geschichte erleiden muss.

Der Roman „Drachenköpfe“ zeigt anschaulich und hochinteressant, wie sich in den Erinnerungen des Ich-Erzählers historisch Gesichertes mit dem mythisch Verborgenen verbindet. So entdecken wir hier eine erweiterte mythische Darstellung des „Drachenhauses“, die über den nüchternen Bericht von Iris Wolff hinausgeht.

Als ich gebeten wurde, diese Rezension über die „Drachenköpfe“ von Eginald Schlattner zu schreiben, ist es mir ähnlich ergangen wie dem Autor und seinem Protagonisten, dem „Pfarrer und Ich-Erzähler“ des Romans. So wie der Autor von den Erzählungen im „Drachenhaus“ der Iris Wolff inspiriert wurde, so wurde ich beim Lesen seines Romans an die Erzählung „Auf der Mântuleasa-Straße“ des Religionsphilosophen Mircea Eliade erinnert. Eliades Geschichte sollte 1969, noch unter der Diktatur, in Bukarest in den Band „Phantastische Erzählungen“ aufgenommen werden, wurde aber von der Zensur verboten und konnte zum ersten Mal 1972 in deutscher Sprache gedruckt werden.

Die Erzählung wurde von der Leserschaft als „ebenso politisch aktuell wie literarisch bedeutsam“ bezeichnet (so der Klappentext). Eine solche Einschätzung würde auch auf den Roman „Drachenköpfe“ zutreffen. Wolfgang Koeppen schreibt über den Roman von Eliade im Klappentext weiter: „Ein politischer, ein Parteiherrschaftsroman in Kafka Angst, erzählt mit dem hier frisch angewandten Trick aus Tausend-und-einer Nacht, die Rettung in einer Schwäche der Macht suchend, ihrer Neugierde, ihrem Verfolgungswahn, ihren lauschenden gespitzten Ohren, der vom Hundertsten ins Tausendste kommenden, immer spannendere Geschichte, das war und ist die Flucht vor Tod, die den Zuhörer, den Verhörenden in ein Labyrinth undurchsichtiger Mitteilungen, unglaublicher Bekenntnisse, falscher Spuren führt, manchmal mit Schweijkschen Hasenhaken und immer hoffnungslos in die Irre. Eine erregende, eine fesselnde Lektüre von der Gegenmacht der Phantasie.“

Ähnlich wie im Roman „Drachenköpfe“ von Eginald Schlattner, verarbeitet die Erzählung von Mircea Eliade literarisch, was der Religionsphilosoph in seinem Lebenswerk immer wieder herausgestellt hat: Die Überhöhung des Profanen durch das Mythische. In Eliades Erzählung steht ein Mann im Mittelpunkt, der von Agenten der Sicherheitsbehörde verhaftet wird. Im Arrest vieler Tage wird er, nach stundenlangen nächtlichen Verhören, schließlich gezwungen, die Fragen schriftlich zu beantworten, so dass mehrere Hundert Seiten Papier beschrieben werden, die Auskünfte über Personen aus seiner Zeit als Lehrer und später als Schuldirektor geben.

Das weist ähnlich im Roman Schlattners hin auf die Erfahrungen mit der rumänischen Sicherheitsbehörde Securitate, die aber nicht dargestellt werden (siehe Schlattner „Rote Handschuhe“, Paul Zsolnay Verlag Wien, 2001). Genannt werden allein die Sicherheitsbeamten. Das trifft immer wieder auf die Gestalt des Majors Arnold Isidor alias Andrei Ion Blau zu (S. 157). Er wird „mythisch“ dargestellt, zeitlos gültig, ausgeprägt für jedwedes Regime, wird der Archetyp dessen, der sich im Charakter treu bleibt, doch keineswegs in der Ideologie.

Dem Ich-Erzähler vertritt er einige Male, nach dessen Entlassung 1960 den Weg. Das trägt sich zu, etwa in den sechziger Jahren. Es ist eine heikle Zeit, in der die Massenverhaftungen noch andauern. Beängstigend lässt es sich an, als der Ich-Erzähler vom Drachenhaus zum Sitz der Securitate eskortiert wird. Unvermittelt stehen sich im ehemaligen Vernehmungsraum der gefürchtete Fragesteller und der einstige Häftling gegenüber. Den er noch vor kurzem gnadenlos, tagelang, nächtelang, verhört hatte. Doch selbst damals, in der Haft, höflich mit Finessen: in dessen Muttersprache deutsch, und ohne ihn mit seinen Roten Handschuhen zu behelligen. Beschrieben wird Major Blau unter Seinesgleichen als „solitärer Offizier“. Während der Diktatur des Proletariats gibt sich der ranghohe Major wie ein Gentleman. Der mit seiner Pariser Eleganz und den englischen Manieren unter den Kollegen der Securitate aneckt. Von den Kollegen wird er anzüglich der „rote Lord“ genannt. Wann immer der Major erscheint, ist er immerfort „die Höflichkeit in Person“, ohne jedoch seine Bedrohlichkeit zu verleugnen. Auch jetzt, am Sitz der Securitate: Er siezt den herbestellten Mitbürger und spricht deutsch.

Dass er unverändert in dieser Gestalt erscheint, erweist sich bei einer „Séance“, einer spiritistischen Sitzung (S. 134 ff.). Man muss wissen, dass der „Dichterfürst“ der Sachsen, Erwin Wittstock, an Hellseherei geglaubt und an spiritistischen Sitzungen teilgenommen hat. Dem inzwischen 1961 Verstorbenen sollte bei einer Séance auf diesem Weg eine Botschaft der Danksagung zugestellt worden, und zwar in Mediasch: Sein Einsatz bei den höchsten Behörden in Bukarest sei von Erfolg gekrönt worden. Nämlich dass den sächsischen Bauern der 1945 enteignete Besitz zum Teil zurückerstattet worden war: Haus und Hof ja, Grund und Boden allerdings nicht. Doch hatte sich zum grenzenlosen Befremden in Mediasch, seinerzeit nicht der Aufgerufene gemeldet, vielmehr die im selben Jahr tödlich verunglückte Schwester des Autors. Mit der Frage, „Sagt mir, was ist mit mir passiert!“

Eine solche Séance der Bewohner des „Drachenhauses“ wird im Roman beschrieben. Die Lesung von Erwin Wittstocks Meisternovelle „Verfolgung“ verwandelt sich in eine Szene mit allen Anzeichen einer Séance. Es erschüttert den Tisch, der orientalische Teppich beginnt zu beben, eine Falltür wird in die Höhe geschoben. Doch nicht der Geist erscheint, sondern eine Offiziersmütze: Es ist die blaue Mütze des Securitate-Offiziers. Kein Geringerer als Major Blau taucht aus der Unterwelt auf, klammert sich mit den roten Handschuhen an die Dielen. Die versammelten Bewohner des „Drachenhauses“ fühlen sich überrumpelt. Doch sie heißen ihn willkommen. In ihrer Verwirrung erklären sie, dass sie sich in einer „politischen Erziehungsstunde“ für alle Hausbewohner befinden.

Diese Szene, in der auf Deutsch über Literatur und Kultur gesprochen wird (die laut kommunistischer Ideologie „national in der Form, aber sozialistisch im Inhalt sein sollte“), gehört zu dem Köstlichsten in der mythischen Darstellung des Buches. Der Ich-Erzähler bleibt beobachtender Zeuge, da der Major ihn ignoriert. Außer diesem ungebetenen Besucher kommen außerdem zu Wort der jüdische Zahnarzt Dr. Himmelfarb, behaftet mit seiner KZ- Vergangenheit, die Genossin Fekete, Hauswärterin und Parteimitglied, der Baron Kemeny und der ungarische Graf Kelevez, beide Steineklopfer (S. 140 ff.). Und ebenso hat die Schauspielerin Amalia Rosemarie Eliadescu etwas zu sagen, die mit einem Shakespeare-Text aufwartet. Und nicht zuletzt trumpft das „Mädchen mit der Harfe“ Svetlana Himmelfarb auf, die Nichte des Zahnarztes, die nach Theresienstadt verschleppt worden war und später nach Buchenwald kam. Wo sie das Harfenspiel gerettet hatte (S. 97 ff., 145 f.).

Dreißig Jahre später erinnert sich der Protagonist, ans Bett gefesselt, an die Zeit um 1960, kurz nachdem er aus dem Securitate-Arrest entlassen worden war (S. 154) und, nach Hause gekommen, in Fogarasch von der Partei in die Ziegelbrennerei gesteckt wurde, als Tagelöhner, und selbst von dort hinausgetan wurde. Darum fuhr er nach Stalinstadt/Kronstadt, um bei der Partei zu klagen, dass man ihm selbst diese niedrigste Arbeitsstelle streitig mache. Durch Zufall, Fügung und Schicksal findet er Zuflucht im „Drachenhaus“.

Diese Erinnerungen des Erzählers an das „Drachenhaus“ sind eng verbunden mit der großen, einseitigen Liebesgeschichte zu der Pfarrerstochter von Bell, Anita Mirjam Zeidner. Sie hatte ihn, als er auf eine Audienz bei der Partei wartete, auf der Postwiese in Kronstadt „aufgeklaubt“ und ihn bewogen, die Dachstube neben ihrem Zimmer zu beziehen (S. 163 f.). Anita lehrte ihn Gebete, biblische Texte, Loblieder. Der abwegige Gedanke überfällt ihn: Solle er nicht auf dem Pfarrhof in Bell vorstellig werden und um ihre Hand anhalten? Doch er sieht keine Aussicht, nicht weil er meint, diesem von Literatur, Kunst und Bildung erfüllten Pfarrhaus nicht zu entsprechen, sondern wegen seiner sozialen Geringfügigkeit und der Anrüchigkeit seines Rufs. Er ist „unter den Siebenbürger Sachsen die schlechteste Partie“ (S. 164).

Nun geschieht, wie gesagt, dieses: Über kurz wird er aus dem Drachenhaus von einem Sicherheitsbeamten abgeholt, der ihm sonderbarerweise bedeutete, einen leeren Rucksack mitzunehmen. Leer?! (S. 175) Als man ihm beim Sitz der Securitate die Blechbrillen abnimmt, steht er dem Major Blau gegenüber. In dem langwierigen Gespräch stellt sich heraus, es gehe um ein „Nein“ des ehemaligen politischen Sträflings bei der Securitate in Fogarasch. Wobei sich der dortige Kommandant darüber „höheren Orts“ beklagt habe, eben hier. Es solle geklärt werden, ob der Angesprochen auf seinem „Nein“ beharre, der sich entschieden weigere, der „Securitate zur Hand zu gehen“. Es stellt sich weiterhin heraus, dass man ihn wegen des „Neins“ aus jener „menschenschindenden Ziegelbrennerei heraus geschmissen hatte“ (S. 160-162).

Dies Gespräch, wie ein Verhör gesteuert vom mächtigen Major, führt in die Vergangenheit: Um geheimste Gedanken weiß der Offizier. Er weiß, dass er, der ehemalige kommunistische Student, nunmehr der politische Sträfling, sich mit dem Gedanken herumtrage, Theologie zu studieren. Maliziös bemerkt der Major: Damals habe er als Kommunist seine bürgerliche Herkunft verraten und nun verrate er den Kommunismus, indem er Pfarrer werden wolle. Major Blau kennt sich in der Religionsphilosophie aus, wenn er rät: „Sie können sich hinter dem Mythos der ‚ewigen Wiederkehr‘ verschanzen/.../ Dieser Mircea Eliade, an sich ist er ein Ingenium der Wissenschaft, doch einer Wissenschaft ohne Gegenstand: der Religionsphänomenologie.“ Hier nun drängt sich eine Entsprechung auf zu dem alten Mann in Mircea Eliades „Mântuleasa-Straße“, der im Gewahrsam der Securitate gehalten wurde, Seiten voll Papieren zu beschreiben (S. 59).

Die Gespräche mit dem Major Blau führten schließlich zu persönlichen Fragen. Der Major erweist sich als mitempfindend bei intimen Themen. Was er von seinem Status aus nicht dürfe. Er fragt nach der bei einem Motorradunfall ums Leben gekommenen Schwester. Er erwähnt den Bruder, der seit bald vier Jahren spurlos verschwunden ist – in einem der Gefängnisse des Landes, ohne dass die Familie je etwas von ihm erfahren habe. „Verurteilt wegen ‚Nichts und Wieder Nichts‘, genauer gesagt: wegen Nichtanzeige.“ Worauf der Major geheimnisvoll erwidert: „Das wird sich ändern.“ Der Major benennt den Grund der Verhaftungen der beiden Brüder und aller anderen im sogenannten ‚Schwarze-Kirche Prozess‘: die „Edelsachsen“. Ein Wort, wie man heute weiß, das die Securitate erfunden hat. Weiterhin ist der Offizier über das „Drachenhaus“ informiert. Wobei unterirdische Gänge bis an die Stadtmauern gehen sollen. Auch das … Über alles wisse die Securitate Bescheid. Nur eines: „Uns entgeht, wann dieses Phantom Klingsor in seinem Haus weilt“ (S. 167 f.). Ja, Klingsor, das ist ein Hiesiger. Der Legende nach wird er als unser Landsmann betrachtet, der als Zauberer die Drachenköpfe rot erglühen ließ, wenn er den Kronstädtern grollte und sie erschrecken wollte. 1206 soll er auf der Wartburg beim Wettstreit der Sänger der gerufene neutrale Richter werden, der jedoch in Siebenbürgen residierte.

Endlich: Beim Weggehen von dem verfemten Ort wird ihm ein Rucksack voll Papier in die Hand gedrückt. Darin sind Aufzeichnungen – Hefte, Tagebücher, Briefe –, die bei der Verhaftung beschlagnahmt worden waren und mit denen man ihn bei den Verhören „bis aufs Blut“ gepeinigt hatte. Und von denen einige bei dem Prozess der fünf deutschen Schriftsteller 1959 als „Zeugnisse der Anklage“ auf dem Tisch des Militärrichters für Aufregung gesorgt hatten. Was nicht dabei war, das waren Niederschriften in der Zelle zu Themen, die Major Blau angefordert hatte: marxistische Analysen der gesellschaftlichen und geschichtlichen Gegebenheiten der Siebenbürger Sachsen (Näheres im Roman „Rote Handschuhe“).

Ferner erfahren wir, wer weiter im Drachenhaus Unterschlupf gefunden habe: die Genossin Fekete, Parteibonze, die junge Harfenspielerin Svetlana Aurica Himmelfarb und ihre jüdische Familie. Das führt zu den Gräuelltaten der rumänischen Legionäre (S. 170). Auch andere Schicksale von Bewohnern im Drachenhaus werden beschrieben. Da ist Frau Anastasia Albulescu. Sie hatte mit ihrer Mutter im Sommer 1944, Hals über Kopf, ihr bisheriges Gut im heutigen Moldawien verlassen, in Angst vor den Russen, die ihre Heimat Bessarabien zu dieser Zeit besetzten. Auf der Flucht erscheint, wie ein Bote des Himmels, ein deutscher Offizier mit einem Auto, ohne Fahrer, und nimmt die beiden verstörten Damen mit (ein Oberst der Waffen-SS!). Der Offizier wurde verletzt, verarztete sich selbst und verschwindet. Man nimmt an, er habe sich erschossen. Die beiden Damen werden von einer rumänischen Militärpatrouille aufgelesen und in Sicherheit gebracht. Frau Albulescu war eine der vielen „refugiați“, die damals nach Siebenbürgen, sehr viele nach Kronstadt, flüchteten (S. 113-115). Ein anderer Bewohner des Drachenhauses war Dr. Elias Himmelfarb, Auschwitz entronnen, der eine Zahnarztpraxis hatte und den Bewohnern die Zähne kostenlos „reparierte“.

Eine amüsante Passage des Buches ist die Erzählung von einem Begräbnis, das den Bewohnern ins Haus stand. Die Tote soll die Mutter von Frau Albulescu sein. Alle Hausbewohner ziehen sich feierlich an, um am Leichenzug würdig teilzunehmen. Wie es zu diesem Begräbnis kommen konnte, war für die Pförtnerin Katy ein Rätsel: dass aus diesem Haus ein Sarg hinausgetragen wurde, der nicht hereingetragen worden war. Zwei Popen sind auch zu sehen, ebenso die Genossin Rebecca Fekete. Die Sargträger sind ebenso feierlich gekleidet.

Doch es kommt anders. Wachsoldaten springen aus einem Auto, befehligt vom Major Blau. Er kontrolliert den Totenschein und behält die Papiere. Der Sargdeckel wird geöffnet – und der Anblick der Leiche löst Rufe des Entsetzens aus. Frau Albulescu werden Handschellen angelegt und sie wird abgeführt. Denn wer dort im Sarg lag, war nicht die Mutter von Frau Albulescu, sondern ein hochrangiger „Offizier der SS, mit Orden und Ritterkreuzen an der toten Brust“. Und nun das Erstaunlichste: Major Blau hält dem Toten eine Art von „Nachruf“. Dieser war der Standartenführer Lothar von Theato, den man seit langem gesucht hatte und der unter dem Verdacht stand, Partisanen getötet zu haben. „Nobel geboren, nobel gelebt, nobel genug gestorben, der Edelmann ... Doch nobel begraben?“ Wie damit umgehen, heißt es. Auf welchem Friedhof? Niemand will den Toten haben, als man bei allen Pfarrämtern der Stadt jedweder Konfession nachfragt. Schließlich wusste die Securitate Rat: es wird beschlossen, den deutschen Toten am deutschen Heldenfriedhof zu bestatten. Auf das Kreuz mit dem weiblichen Namen Albulescu wird der Stahlhelm mit den SS-Runen gesetzt. Der volle Name der vornehmen Dame, die der deutsche Offizier bei ihrer Flucht gerettet hatte, ist auf das Kreuz gepinselt: „Avdokia Darja Amalia Eleonora Marie Jeanne de Albulescu“ (S. 116-122). – Auch hier ein amüsantes, kurioses Verwandeln der Geschichte in einen kosmischen Mythos!

In Mircea Eliades Erzählung gibt es weiterhin geheimnisvolle und unwirkliche Liebesgeschichten. Mit Personen, vor allem Frauen, die unglaubliche, menschenunmögliche, als Zauberei dargestellte Taten vollbringen, mit denen sie den Zuhörer und die Zuschauerin bei öffentlichen Vorstellungen in Erstaunen versetzen und an die Grenzen ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten führen. Dies kann man nur als „Mythos“ deuten, selbst wenn man sie als geschichtliche Personen zu identifizieren imstande ist.

Doch sollte der Blick auf den Roman „Drachenköpfe“ nicht abgeschlossen werden, ohne auf die große, aber einseitige Liebesgeschichte zurückzukommen. Erwähnt werden punktuelle Begegnungen des Erzählers mit seiner Jugendliebe. Vor seiner Verhaftung; hochwillkommen im Pfarrhaus zu Bell. Sie, die Oberschülerin, er der Student im letzten Semester und gefeierter Jungautor. Nachher der gezeichnete Sträfling, dem alle aus dem Weg gehen, der entlassene Tagelöhner einer Ziegelbrennerei. Der, den die Pfarrerstochter von der Straße ins Drachenhaus holt. Doch nach einer flüchtigen Zeit verlässt er, ohne Abschied das Drachenhaus. Man verliert sich aus den Augen. Hört nur voneinander. Von ihr, was jedermann erschüttert: vom Unfall beim Halben Stein bei Michelsberg. Wo sie zwei Zigeunerkinder retten will, dabei selbst in die Schlucht stürzt. Der Rollstuhl wird ihr zum Schicksal.

Fünfzehn Jahre später trifft er sie auf dem Pfarrhof in Semlak, im westlichen Banat. Wo er als Vikar im Einsatz ist. Es ergibt sich eine groteske Situation. Auf der schmalen Galerie kommt er am Rollstuhl nicht vorbei. Das qualvolle Gespräch spielt sich hinter ihrem Rücken ab. Das Gesicht bleibt ihm verborgen. Die Betreuerin taucht auf, schiebt sie hinweg. Er hört noch ihre Abschiedsworte: „Leb wohl!“ Und wie sie hinzufügt: „Wir sind verantwortlich für das Antlitz des anderen!“

Und dann, vierzig Jahre nach der Episode im Drachenhaus – vierzig, die biblische Zahl der Buße – geschieht eine letzte Begegnung. Es ist das „Poetentreffen“ in Erlangen 2001. Sigrid Löffler, die große Dame der deutschen Literatur, stellt den jüngst erschienenen Roman des Pfarrers und Schriftstellers vor: „Rote Handschuhe“, in einem Park vor vierhundert Hörern mit den klassischen Worten: „Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen ist offensichtlich zu Ende. Doch dieses Ende ist in den Romanen von Eginald Schlattner exemplarisch aufgehoben, im hegelschen Sinn!“

Beim Signieren des Autors, im Anschluss an die Lesung, sieht er mit einem Mal, dass sich ein Rollstuhl zu ihm hinschiebt. Auf dem er eine ergraute Frau erblickt. In der er Anita Mirjam Zeidner erkennt. Sie ergreift seine Hand so, dass sich beide in die Augen blicken müssen. Sie sagt: „Ich danke dir ... dass du mich damals... damals vor geschlagenen vierzig Jahre ... einen Winter lang ...“ – und weiter, nach wiederholtem Stocken: „Ich danke dir, dass ich dich lieben durfte ... im Drachenhaus, trotz deines versteinerten Herzens“ (S. 185-187).

Das Buch schließt seltsamerweise mit einem Wort, das Anita Mirjam ihm Jahre zuvor, 1977, auf der Galerie des Pfarrhauses in Semlak zugerufen hatte, zum Abschied, ohne ihm ihr Antlitz zu zeigen. Es heißt wörtlich: „Ich signierte weiterhin Bücher im wechselnden Licht von Handys, Taschenlampen und Feuerzeugen… Und erahnte, was es heißen könnte: Du bist für das Antlitz des anderen verantwortlich.“ (S. 188)

Ein Wort Mircea Eliades sei am Ende zitiert wie ein Schlüssel: „die Wahrheit der Geschichte beginnt … bei der symbolischen Bedeutung der Ereignisse“.

Christoph Klein

Eginald Schlattner: „Drachenköpfe“. Roman, Pop Verlag, Ludwigsburg, 2021, Reihe Epik Band 116, 189 Seiten, 19,50 Euro, ISBN 978-3-86356-308-0

Schlagwörter: Eginald Schlattner, Roman, Kronstadt, Iris Wolff, Buchvorstellung

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