26. Oktober 2022

Die Büste des Lehrers im Wohnzimmer: Gespräch mit Prof. Dr. Walter Hutter über seinen Lehrer Ernst Irtel

Der Name Ernst Irtel wird wieder häufiger genannt, seit vor einem knappen Jahr auf Schloss Horneck neben dem großen Festsaal ein Salon eingerichtet wurde, der seinen Namen trägt. Die Idee, die Geschichte der siebenbürgischen Musik durch Präsentationen an der Wand sichtbar zu machen, hatte Heidi Negura. Ausgeführt wurde sie von Professor Heinz Acker, dem aktuell sicher besten Kenner der siebenbürgischen Musikgeschichte.
Prof. Dr. Walter Hutter in seinem Wohnzimmer mit ...
Prof. Dr. Walter Hutter in seinem Wohnzimmer mit der Büste seines Lehrers Ernst Irtel. Fotos: Margrit Csiky
Weil ich mit jemandem sprechen will, der sich mit der Persönlichkeit Ernst Irtel schon länger auseinandergesetzt hat, suche ich den Kontakt zu Dr. Walter Hutter. Der Professor für Didaktik der Mathematik und Physik an der Freien Hochschule Stuttgart hat im Jahr 2017 das Buch „Vom Geistigen in der Musik – Ernst Irtel als Pädagoge und Komponist“ veröffentlicht.

Auf meine Frage, ob er für ein Interview bereit ist, sagt er gleich: „Ja“ und ein paar Tage später erwartet er mich gastfreundlich vor seiner Haustür. Wir, beide gebürtige Mediascher, „beschnuppern“ uns kurz, kommen aus dem Hundertsten ins Tausendste und kriegen – nach einem leckeren Stück Zwiebelkuchen – schließlich den Bogen zu unserem Thema: Er führt mich nämlich in den anderen Teil seines Wohnzimmers und zeigt auf ein Schränkchen hinter einem hohen Sessel: Das ist er, Ernst Irtel! Besser gesagt: Eine Büste von Kurtfritz Handel, die gleiche, die ich aus dem Irtel-Salon auf Schloss Horneck kenne.

Walter Hutter erzählt mit Freude: „Als ich in der Siebenbürgischen Zeitung las, dass man Geld für eine Irtel-Büste sammelt, nahm ich gleich Kontakt zu Kurtfritz Handel auf: Ich weiß nämlich, dass man von einer Gipsform in der Regel drei Bronze-Abgüsse herstellen kann!“ Es hat geklappt! Seither steht die zweite Büste seines Lehrers in seinem Wohnzimmer. Ist sie ein Wegweiser? Ist sie ein stiller Gesprächspartner? Erfreut ihn einfach die Ästhetik der Plastik? Schwer zu sagen, aber eines ist sicher: Sie ist ein Zeichen dafür, dass ihm der Lehrer sehr viel bedeutet und dass er immer wieder an ihn erinnert werden will.

Ernst Irtel (1917-2003), davon ist Hutter überzeugt, bot sich als Namensgeber für einen siebenbürgischen Musiksalon auf Schloss Horneck förmlich an, weil er der einzige siebenbürgische Musiker ist, der dort gewohnt und gewirkt hat. Da er in seiner aktiven Zeit in verschiedenen Städten in Siebenbürgen gelebt hatte, konnten sich auch viele Siebenbürger mit ihm identifizieren: Die Mühlbacher sehen in ihm ein Kind ihrer Stadt, vor allem, weil er nicht nur dort zur Welt kam, sondern auch von 1939 bis 1944 Musik unterrichtete. Die Hermannstädter erinnern sich gerne an ihn als Lehrer in der Mädchenschule (1944 bis 1948), die Schäßburger bringen ihn in Verbindung mit dem Pädagogischen Lyzeum (1948 bis 1952). Am längsten aber lebte Ernst Irtel in Mediasch (1952-1987), wo er auch schon in der Gymnasialzeit seine ersten musikalischen Erfolge feiern konnte.

Der Musikpädagoge und Komponist Ernst Irtel. ...
Der Musikpädagoge und Komponist Ernst Irtel. Zeichnung von Walter Hutter.
Die Entscheidung für den Namen Irtel wurde sicher auch dadurch erleichtert, dass das Mediascher Ehepaar Dr. Ortrud Graeser und Dipl.-Ing. Gerhard Graeser, aus Dankbarkeit für den Musikunterricht bei ihm, bereit war, die beträchtlichen Kosten zu übernehmen, die nötig waren, um den Salon auszustatten.

Im Vorwort zu dem Buch schreibt Hutter, Irtel habe als Lehrer „Keime“ gelegt, deren Wirkungen „viel später im Leben zu Quellen menschlicher Entwicklung wurden“, und ergänzt: „Man wusste gleichsam erst im weiteren Verlauf der Biographie, was Irtels künstlerische Ansätze in einem bewirkt haben.“

Solch einen Keim entwickelte Hutter erst später, während seines Studiums, und dann auf seinem Weg zur Pädagogik: „Ich verdanke ihm den Blick für die großen Zusammenhänge und für Ästhetik im Allgemeinen.“ Er ist seinem Lehrer aber nicht im Bereich Musik gefolgt. Seine „künstlerische Begabung“ liegt eher in Methoden des mathematisch-naturwissenschaftlichen phänomenologischen Denkens und der bildenden Kunst, wie unter anderem auch eine gelungene Zeichnung seines Lehrers beweist.

Als Fachmann für Didaktik insbesondere der Mathematik fand Hutter bei Irtel auch zahlreiche Anregungen für den Umgang mit Heranwachsenden: „Voraussetzung war die Offenheit des Pädagogen für die Wesenheit des Lernenden“, schreibt er im Vorwort zum Buch. Dazu kam die Persönlichkeit des Lehrers, der Handlungsräume schafft für Übungsprozesse, so dass schließlich „Wahrnehmungsbemühungen und das Streben nach Einsicht aus dem Lernenden selbst hervorgehen“.

Gerne erinnert sich Hutter an einprägsame Begebenheiten aus seiner Schulzeit am Axente-Sever-Lyzeum in Mediasch. Chorstunden waren immer etwas Besonderes. Überraschende Kommentare Irtels im Fall von „Falschsingen“, Klavierpultkrach und tiefsinnige Bemerkungen zum musikalischen Gehalt der Stücke gehörten dazu. Nach einem Chorkonzert gab es einmal eine spontane Feier – jedoch keine Tanz-Musik, die abgespielt werden konnte. Irtel setze sich ans Klavier und spielte den Chorteilnehmern Foxtrott und Walzer – der Tanz-Abend war gerettet. Hutter gehörte zu den „auserwählten“ Schülern, die vor den berühmten Komponistenstunden den Plattenspieler und die Platten in den Musiksaal tragen durften. „Vor fast jedem Chef (= Party) gingen wir samstags zuerst zum Irtel und sprachen über ,ernste Themen‘, Bücher, die wir gerade gelesen hatten oder musikalisch-literarisch-philosophische Fragen, die er uns stellte... Erst danach zogen wir los und hatten richtig Freude beim Chefen“, erzählt er.

Bei einem der Treffen der jungen Leute mit ihrem Lehrer hatte Schüler Hutter erzählt, er müsse am nächsten Tag ein „Extemporal“ (= Arbeit) im Fach „Rumänisch“ schreiben, was ihm quer im Magen lag. Kaum hatte die Rumänisch-Stunde begonnen, ging die Tür auf und Lehrer Irtel steckte den Kopf zur Tür hinein. Er sagte seiner Lehrer-Kollegin, er brauche dringend die Hilfe des Schülers Walter Hutter, nur für kurze Zeit. Sie ließ ihn nur ungern gehen, aber der „deus ex machina“ hatte dem Schüler vordergründig gezeigt, dass es viele Wege gibt, mit einer unangenehmen Angelegenheit umzugehen. Tatsache war jedoch, dass Irtel mit einem Bariton Schubert-Lieder im Festsaal der Schule probte und Hutter sollte einfach zuhören.

Eine zweite Phase der Freundschaft zwischen Hutter und seinem ehemaligen Lehrer begann Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, nachdem beide in Deutschland lebten. Bei seinen zahlreichen Besuchen auf Schloss Horneck, wo Ernst Irtel sich niedergelassen hatte, wurde Hutter Zeuge einer reifen und äußerst fruchtbaren Schaffensperiode in den Jahren 1992 -1997: Der Musiker konnte sich ganz seiner künstlerischen Arbeit widmen. Er komponierte in dieser Zeit und bereitete frühere Kompositionen für Aufführungen vor, seine Werke wurden in Konzerten auf dem Schloss aufgeführt, die Zusammenarbeit mit der Sopranistin Marlene Mild (Tochter der Mediascher Englisch-Lehrerin Sarah Mild), mit dem Bariton Dieter Rell und den beiden Pianisten Thorsten Kaldewei und Christoph Roos bereicherten sein Leben. Eine Sternstunde für Irtel war seine Begegnung mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter, die schließlich dafür sorgte, dass er eine professionelle Musik-Anlage für seine Komponistenstunden von ihr geschenkt bekam. Er hatte wieder Zeit und Muße, Tagebuch zu führen, seine Komponistenstunden fanden Anklang, er wurde geachtet und mit der Stefan-Ludwig-Roth-Medaille geehrt.

Um die humorvolle Liebenswürdigkeit Irtels zu untermauern, berichtet Hutter über einen gemeinsamen Besuch im Brahmshaus in Baden-Baden. An einem Haus in der Nähe, in dem einst Clara Schumann wohnte, blieb Irtel stehen: Es hing die Wäsche „schlampig“ auf dem Balkon. Er quittierte (zischelnd unter vorgehaltener Hand) ganz erfüllt von situativ heraufkommender Freude: „Die haben keine Ahnung von Musik.“

Hannes Schuster, der ehemalige Chefredakteur der Siebenbürgischen Zeitung, nannte Ernst Irtel einen Mann „dem wir uns noch über seinen Tod hinaus, in dauerhafter Anhänglichkeit verbunden fühlen“. Er habe dem „Wohlklang Raum geschaffen… in unserem Fühlen und Denken“.

Am 8. Juli 2023 jährt sich der Todestag von Ernst Irtel zum 20. Mal. Das wäre ein guter Anlass, der Persönlichkeit dieses beliebten Musiklehrers und Komponisten zu gedenken.

Margrit Csiky

Schlagwörter: Irtel, Musiker, Lehrer, Komponist, Mediasch

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