5. Juni 2025

Nachbarschaftsbücher in der Siebenbürgischen Bibliothek

Einen einmaligen und kulturhistorisch besonders wertvollen Bestand in der Siebenbürgischen Bibliothek mit Archiv bilden die Nachbarschaftsbücher aus den verschiedenen Dörfern und Städten.
Die Nachbarschaft war die genossenschaftliche Grundordnung siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaftslebens. Auf einen geografischen Raum gegründet, umfasste eine Nachbarschaft gewöhnlich alle verheirateten Hauswirte einer Straße, die Nachbarn. Sie wählten turnusmäßig aus ihren Reihen den Vorsitzenden (Nachbarhannen/Nachbarvater) und übernahmen die nachbarschaftlichen Pflichten. Die Nachbarschaft regelte mittels Statuten das gesamte öffentliche Gemeinschaftseben und koordinierte die wichtigsten Hilfeleistungen in wirtschaftlicher, administrativer sowie gesellschaftlicher Hinsicht. Sie war moralisches Kontrollorgan und Instanz zugleich, so dass sie die unterste Stufe der Gerichtsbarkeit bildete. Sie bot Schutz und Ordnung zugleich. Das Handeln innerhalb der Nachbarschaft war für ihre Mitglieder verpflichtend und erfolgte in enger Beziehung zu den einzelnen Familien. Zur Umsetzung verfügte die Nachbarschaft über symbolträchtige Mittel, die – ähnlich denjenigen der Zünfte – in strenge Riten und Zeremonien eingebunden waren.
Artikel der Mittelgässer Nachbarschaft in ...
Artikel der Mittelgässer Nachbarschaft in Neustadt/Burzenland von 1778 mit dem Verzeichnis der Mitglieder seit 1770
Zu den Statuten/Nachbarschaftsartikeln, Protokollen, Verzeichnissen der Mitglieder und Kassabüchern, die den Bestand der jeweiligen Nachbarschaft garantierten, gehörte auch die Nachbarschaftslade, in der die Archivalien, die Nachbarschaftszeichen und gegebenenfalls das Ortszeichen sowie die Finanzmittel verwahrt wurden. Hinzu kamen die Nachbarschaftskannen, die als Stiftungen von Amtsträgern gemäß der traditionellen Erinnerungskultur die Namen, Funktionen und das Jahr der Anfertigung dekorativ trugen. Die Lade und Kannen wurden beim Amtswechsel im feierlichen Zug von den Kirchentracht tragenden Nachbarn vom Hof des alten zum neuen Nachbarvater getragen. Dort blieben sie während der gesamten Amtsperiode und erhielten als Zeichen des Amtes einen Ehrenplatz in der Guten Stube. Der Amtseid musste bei geöffneter Lade und umstehenden Kannen im geschlossenen Kirchenpelz geleistet werden. Diese Zeremonie verweist auf die große Bedeutung der Archivalien in der Nachbarschaftslade, die den Bestand der Vereinigung gewährleisteten. In der Inszenierung werden sie als Symbole verehrt, die eine Identifikationsmöglichkeit für die Gruppe boten. Sie garantierten aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit die zukünftige Gemeinschaft. Zusammen mit den Gerätschaften und der Kirchenkleidung stifteten sie Verbundenheit und Gemeinsamkeit aufgrund der Verschriftlichung. Entsprechend führte die Nationsuniversität 1790 mit der Wiederherstellung der siebenbürgisch-sächsischen Verwaltungs- und Rechtsstrukturen neue Nachbarschaftsartikel auf Grundlage der alten Artikel ein. So sind im Archivbestand der Siebenbürgischen Bibliothek die Nachbarschafts­artikel für die „Königlich Freye Mediascher Stuhls-Kommunität Kleinschelken“ erhalten, die vom Mediascher Notar Andreas Traugott Krauß im Mai 1794 unterzeichnet worden waren.

Nachbarschaftsbuch von 1848 mit Umriss des ...
Nachbarschaftsbuch von 1848 mit Umriss des Nachbarschaftszeichen und Namen der Nachbarväter aus Neustadt/Burzenland
Vor einiger Zeit wurde der Bibliothek eine Archivalie von einem bundesdeutschen Handschriftensammler zum Kauf angeboten. Er war zufällig in ihren Besitz gelangt, da er den dort vermerkten Ort Neustadt für Neustadt an der Saale gehalten hatte. Es stellte sich jedoch heraus, dass es sich um die Nachbarschaftsartikel der Burzenländer Gemeinde Neustadt aus dem Jahr 1785 handelte, die sich auf Artikel aus dem Jahr 1720 bezogen. Durch schnelles Handeln und die Unterstützung des Fördervereins der Bibliothek sowie der HOG Neustadt konnte dieser Schatz – immerhin handelt es sich um ein handschriftliches Unikat – für das Archiv erworben werden. Eine Nachfrage bei der HOG Neustadt über den ursprünglichen Verbleib dieses Buchs war vorerst ergebnislos geblieben. Der letzte Eintrag darin war 1969 vorgenommen worden, danach verliert sich die Spur des Buches. Nun ist es zu seinem Schutz in säurefreies Papier eingeschlagen und wird in einer säurefreien Papierkapsel verwahrt. Zusätzlich wurde für den weiteren Gebrauch wie Wissenschaft und Forschung, interessierte Laien, aber auch insbesondere für die HOG ein Digitalisat im Haus angefertigt. Nachfolgend entschloss sich der HOG-Vorstand, zwei weitere alte Nachbarschaftsbücher, worin die ältesten Eintragungen ebenfalls bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück reichen, in die Obhut des Archivs zu geben. Auch von diesen Büchern wurden Digitalisate angefertigt, die parallel im HOG-Archiv verwahrt werden. Ehemals gab es in Neustadt neun Nachbarschaften. Heute wissen wir noch von drei Nachbarschaftsbüchern, die nun alle im Archiv der Siebenbürgischen Bibliothek gesichert aufbewahrt und zugleich öffentlich zugänglich sind. Die weiteren Bücher sind verschollen, selbst innerhalb der Nachfahren der jeweiligen Nachbarschaft ist ihr Verbleib unbekannt. Das ist kein Einzelfall wie beispielsweise das Wiederauffinden zweier Stolzenburger Nachbarschaftsbücher beweist (Siebenbürgische Zeitung, Folge 3 vom 12. Februar 2024, S. 19, siehe auch SbZ Online vom 8. Februar 2024).

Aufgrund des großen kulturellen Wertes ist es unbedingt notwendig, diese einmaligen Unikate aufzufinden und durch sachgemäße konservatorische Maßnahmen zu erhalten! Im Bestand unseres Archivs befinden sich unter anderen Nachbarschaftsarchivalien der Orte Agnetheln, Arkeden, Bodendorf, Bogeschdorf, Großprobstdorf, Heltau, Henndorf, Mediasch, Meeburg, Michelsdorf/Kokel, Mühlbach, Neustadt/Kr., Reichesdorf, Rosenau, Schäßburg, Schorsten, Schweischer, Stein, Streitfort, Wolkendorf/Kr. und Weidenbach. In Anbetracht von rund 250 sächsischen Ortschaften ist das ein recht geringfügiger Bestand. Vorbildlich hat sich die HOG Heltau entschieden. Der Vorstand übergab schon vor Jahren die Archivalien als Schenkung an die Siebenbürgische Bibliothek und den dinglichen Inhalt sowie zwei Truhen als Schenkung an das Siebenbürgische Museum in Gundelsheim. So sind die symbolträchtigen Archivalien und Gegenstände wieder an einem Ort vereint.

Nachbarschaftsartikel für die „Königlich Freye ...
Nachbarschaftsartikel für die „Königlich Freye Mediascher Stuhls-Kommunität Kleinschelken“ von 1794, verfasst vom Magistrat im Auftrag der Nationsuniversität
Neben dem Kulturgut aus Siebenbürgen sind für die Dokumentation die Belege zu Gründungen der Nachfolgeorganisationen von Bedeutung. Beispielsweise befinden sich im Archiv die Nachbarschafts-Ordnung der Siebenbürger-Siedlung Drabenderhöhe, angenommen und beschlossen auf der ordentlichen Mitgliederversammlung am 11. März 1967, sowie der Entwurf für die Neustädter Nachbarschaft in Deutschland aus dem Jahr 1982.

Unsere Nachbarschaften gehen als Institution Jahrhunderte zurück und haben nur durch die symbolträchtige Ritualisierung und tradierten Muster überlebt. Dieses Wissen geht nahezu verloren, da das nachbarschaftliche Gemeinschaftsleben seit dem Exodus der Siebenbürger Sachsen in den 1990er Jahren so nicht mehr vorhanden ist. Aus der kulturellen Erinnerung heraus ist noch vieles an Wissen und Konventionen bei der älteren Generation rund um die Nachbarschaft vorhanden. Dieses Wissen gilt es ebenso, schriftlich zu dokumentieren!

Helft uns und tragt dazu bei, dieses einmalige, wertvolle und unwiederbringliche Kulturgut zu schützen und für unsere nachfolgende Generationen zu erhalten!

Dr. Ingrid Schiel,
Leiterin der Siebenbürgischen Bibliothek mit Archiv

Schlagwörter: Siebenbürgische Bibliothek, Nachbarschaften, Dokumente

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