27. Dezember 2025
Joachim Wittstocks Griff nach der Zeitlosigkeit: Deutungsversuch eines siebenbürgischen Jahrhundertepos
Diese Sprache ist nicht austauschbar, geschweige denn ohne Weiteres nachzuahmen. Diese Erzählstimme ist nicht egal, sondern fugenlos rahmend. Diese Struktur arbeitet nicht gegen das Thema, sondern lässt es „geduldig“ zur Wahrhaftigkeit fermentieren. Diese Thematik ist nicht nur Behauptung, sondern sie wird im Erzählen eingelöst. Diese unvergleichliche Stofffülle ist durch das feine Filtervlies des erfahrenen Spätwerks gezogen – durchlässig genug für die Wirklichkeit, ausreichend dicht gegen Pathos und Pose. Das Ergebnis ist eine erzählerische Realität, die unseren Blick auf die Welt verschiebt. Still und unbeirrt hat ein meisterlich gelungenes Spätwerk den modenresistenten Zirkel der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur um eine eigene, unverwechselbare Stimme bereichert: Es handelt sich um Joachim Wittstocks Roman „Das erfuhr ich unter Menschen“ (2024). In der zunehmend flacher werdenden Topografie rumänienkonnotierter deutscher Literatur ist er eine bemerkenswerte Neuerscheinung der letzten Jahre.

Erinnern, Anschauen und Erwarten reguliert Wittstock in seinem Roman mit dem fein justierbaren epischen Durchflussbegrenzer der Chronik. Die realitätsüberformende Fantasie stellt er unter Generalverdacht. Der Fiktionalität misstraut er und greift zum versachlichten Sedimentstil des Chronisten: „Am besten ist es, man berichtet anhand schriftlicher Zeugnisse, anhand von Druckwerken und Bildmaterialien, das verhindert die willkürliche Entstellung des Faktischen und hält einen von unangebrachten Zuspitzungen und gewagten Kombinationen ab. Demgemäß habe ich reichlich zeitgeschichtliche und sonstige Dokumentationen durchgesehen und ihnen wichtige Daten entnehmen können.“ (S. 9)
Die ungeheure Handlungs- und Themenfülle dieses Romans kann hier nur in wenigen inhaltlich zentralen Linien benannt werden, die den roten Faden der Chronik sichtbar machen. Der mikrokosmisch breit ausgewalzte panoramische Handlungsentwurf lässt sich als netzartiges Gefüge mit rhizomischen Querbezügen beschreiben: Figuren, Orte und Dokumente verbinden sich seitlich, nehmen Fäden wieder auf und bilden multiple Einstiegspunkte. Gleichzeitig hält ein chronikalischer Zeitrücken (Zwischenkriegszeit, Volksgruppenzeit/Front, Lager Târgu Jiu/Deportation Donbass, Enteignung/„Nationalisierung“, 1950/60er Jahre, die Zeit nach 1989) die Handlungslinie in der Makrodimension zusammen und verhindert Zentrenlosigkeit. Wiederkehrende Knotenpunkte – das Tartler-Haus, Kronstadt, Hermannstadt, Sächsisch-Regen – wirken als Hubs, in denen Stränge gebündelt, durchgeschleust und neu verteilt werden. So entsteht Rhizom in der Vermittlung, aber Gerüst in der Zeit: quervernetzt im Erzählen, jedoch klar gerahmt im Verlauf.
Getragen von handlungsbestimmenden Achsenfiguren – Samuel und Dorothea Tartler, Konrad Bogner und Bernhard-Kuno Schürge, Volkmar Decani und Michael Forkesch – sowie zahlreichen Nebengestalten zeigt der Text, wie die Bahnen der Lebensläufe von geschichtlichen Prozessen dauerhaft umgelenkt werden, ohne den Alltag sofort zu zerstören. Häuser, Wege, Berufe und Rituale halten den Mikrokosmos noch eine Weile zusammen, bevor Eigentum und Erinnerung auseinanderfallen und das ehemalige Sanatorium als bloßes Objekt einer neuen, fremden Zukunft zurückbleibt.
Das Generalthema Joachim Wittstocks ist – wie könnte es auch anders sein? – Heimat. Sie ist für ihn eine abgeleitete Größe im Wandel, ein Intensitätsmaß, das prozessual aufgefasst wird. Das Maß berechnet sich aus Zähl- und Bezugsgröße. Im Zähler steht die Mikrotextur des Alltags: zahlreiche Biografien, geprägt von gleichmäßigem Leben in seinen ritualisierten Verrichtungen. Den Nenner führt die geschichtliche Tektonik, es sind jene Ereignisse, die Menschen fördern, brechen oder vernichten. Der Quotient aus beidem ergibt den variablen Heimatindex: ein Intensitätsmaß dafür, wie viel Geborgenheit und Vertrautheit sich unter dem Druck der Geschichte noch halten lässt. Bei fortschreitender Erosion der Heimatbefindlichkeit – eine einst deutlich ortsgebundene Existenzkonstante – entstehen Erinnerungs- und Sehnsuchtsheimaten. Heimat ist ein Bedürfnis, und ihre Wahrnehmung verschiebt sich nach und nach in andere Träger der deterritorialisierten Praxis: erzählen, Rituale fortführen, Sprache pflegen, archivieren. Übrig bleibt schließlich die Sprache und – das Epos von der Heimat in eben dieser Sprache!
Auch der binnendeutsche Diskurs kennt diese Problematik: Hierzulande ist „Heimat“ aber eine umstrittene und belastete, wenngleich erstaunlich zähe Kategorie. Nicht selten schlägt diese Belastung zugleich in eine gewisse Heimatdistanz oder Heimatverdrossenheit um, die nationale und lokale Zugehörigkeitsangebote zumindest skeptisch beäugt – im deutlichen Kontrast zu Wittstocks siebenbürgischer Perspektive, in der Heimat primär durch äußeren Druck und historische Gewaltprozesse erodiert. Edgar Reitz’ elfteilige Fernsehchronik „Heimat“ löste 1984 in der Bundesrepublik (und international) ein beachtliches Echo aus. Uwe Tellkamps „Turm“-Heimat (2008) hatte als Dresdner Bildungsbürger-Insel und Wenderoman durchschlagenden Erfolg. Die „Welt der tausend Dinge“ – ein akribisch geführter DDR-Zettelkasten – galt den meisten als Ausweis besonderer Authentizität.

Der protokollarische Patinaton des Romans trägt die Sprache wie ein gut geöltes Uhrwerk durch die Jahrhunderte: gelassen, maßhaltig, ohne Hast. Der Erzähler registriert, er urteilt nicht, und wenn er kommentiert, dann nur zögerlich – die strenge Erzähldisziplin befreit den Text von moralischem Lärm. Die periphrastische, „amtsarchaische“ Diktion erzeugt die lange Atemluft immerwährender Geschichtsstrukturen und erklärt den feinen Kafka-Nachklang. Die Periphrasen sind kein Ausweichen, sondern ein Schonraum der Bedeutung, in dem Dinge ihre historische Temperatur behalten dürfen. In den Nominalketten und leisen amtlichen Formeln arbeitet eine diskrete Empathie, die den Figuren Würde verleiht, weil sie sie nicht vorführt, sondern sachlich ins Licht rückt. So entsteht eine Langzeitbelichtung der Erfahrung.
Joachim Wittstock lässt seine Figuren in einer Zeitordnung auftreten, in der nichts nur für sich steht. Seine Erzählzeit ist geschichtet und hierarchisch: Eine Makrozeit der Dauer – genealogisch, institutionell, topografisch, sprachlich – trägt eine Mikrozeit der Einzelfälle, die als Kerben sichtbar sind, aber sofort in den großen Rahmen des „geordneten“ Verlaufs integriert werden. Diese „geschichtete Chronikzeit“ ist das präzise Gegenteil der postmodernen Gegenwartshektik.
Mit dem titelgebenden Zitat aus dem Wessobrunner Gebet, „Das erfuhr ich unter Menschen“ (um 800 aufgezeichnet), setzt der Roman auf der Makroebene radikal hoch an. Die Rahmung ruft eine über tausendjährige Erfahrungszeit auf; das Vorwort deklariert „chronikalischen Realismus“ und betont Quellenbindung. Die Personenliste ordnet den Personaleinsatz nicht nach dramaturgischer Wichtigkeit, sondern nach Familienlinien, Berufen, Herkunftsorten: Menschen werden als Teil von Dauerzusammenhängen eingeführt. Orte wie das Sanatorium Tartler, der Honterushof, die Schwarze Kirche, bestimmte Gassen und Plätze kehren über Jahrzehnte wieder; später stehen Klinik, Archiv, Redaktionsräume als neue Dauerorte neben den alten. Die Sprache folgt dieser inneren Ordnung: Langsätze mit vorangestellten Zeit-Ort-Rahmen, Relativsatzketten, Parenthesen, Passiva und eine Verwaltungslexik, die Kontinuität suggeriert („Verbringung“, „Zuweisung“, „Instanzen“, „Maßnahmen“). Diese Makrozeit ordnet: Sie rahmt alles als Teil eines langlaufenden, archivfähigen Zusammenhangs.

Entscheidend ist: Die Makrozeit ist die Führungsschiene für die Mikrodimension! Die beiden Ebenen laufen simultan, aber die Makrozeit ist normgebend, sie führt kompromisslos. Die Mikrozeit – fast schon etwas füllig – folgt unauffällig und brav. Die Makroebene der Dauer (Diktion, Syntax, Archivlogik) ordnet die Mikroebene der Einzelfälle ein, nimmt ihr den Krawall, verleiht ihr aber Haltbarkeit. Die Mikroereignisse werden bis auf wenige Ausnahmen von dramatischen Brennpunkten (etwa die Unfallsequenz, das Verhör, die ärztliche Fehlentscheidung) nicht in einem eigenen, sensationellen Stil erzählt, sondern im selben altmodisch-chronikalischen Duktus. Das ordnet sie ein: Jeder Einzelfall wird zum Eintrag in ein fortschreibbares Register. Zugleich wäre die Makrozeit ohne diese Einschnitte leer; sie gewinnt ihre Glaubwürdigkeit gerade daraus, dass sie die Kerben der Geschichte nicht auslässt, sondern „archiviert“.
In diesem Sinn ist Wittstocks Zeitverständnis keine simple Dualität, sondern eine hierarchisch geschichtete Chronikzeit: Die Makroebene der Dauer, Perennität und historischen Beständigkeit bildet den Rahmen; die Mikroebene der Einzelfälle, auch bei Nebenpersonen und Randfiguren, ritzt präzise Spuren hinein. Dass beides in einer Sprache erzählt wird, die bewusst gegen Gegenwartsradikalität gesetzt ist – formal, lexikalisch, syntaktisch –, ist der eigentliche Kunstgriff: Dauer entsteht nicht nur im Stoff, sondern in der Diktion, die alle Zeiten auf den „geordneten Bahnen“ eines verantworteten, registrierenden Erzählens hält.
Joachim Wittstocks ureigene Angelegenheit ist die Zeit. Mal erzählerisch tastend, dann wieder sehr bestimmt geöffnet und entschlüsselt, schließlich versiegelt und dem Leser zur Bewahrung überlassen. Seine Zeit ist – man lasse sich von Vielfalt und Buntheit der Zeitbezüge nicht täuschen – eine narrativ ausgewalzte Zeittopografie ohne Datum. Der Zeitablauf ist nur vordergründig getaktet, in Wahrheit besteht er aus purer Dauer: Es ist Joachim Wittstocks erzählerischer Griff nach der Zeitlosigkeit. Er erschafft das eherne Zeitgerüst der Dauer nicht im fiktionalen Diskurs, das wäre für ihn, den literarisch höchst Beschlagenen, unredliche Fantasie, Hörensagen, Kolportage. Sondern er kartiert die Zeit im beleghaften Erzählen. Wo Zeit ist, ist Topografie, sind Belege, ist Erinnerung. Alles andere ist Spekulation, Kommentar, willkürliches Konstrukt, bestenfalls Deutung des Erzählers, schlimmstensfalls auktorialer Allmachtsdiskurs. Die Deutung des beleghaft Erzählten überlässt er dem Rezeptionsechoraum des Lesers. Wittstock nimmt eine entschieden überrealistische Erzählperspektive ein. Ist der Standort des Betrachters zeitlich nur weit genug entfernt, schwindet die Bedeutungswucht und die Dramatik der Faktizität, was Wittstock mit einer aparten Neuschöpfung von der „Abfremdung“ oder „Ausfremdung“ treffend veranschaulicht: „Die geschrumpften Dimensionen, das hatte wohl mit der Außenwahrnehmung zu tun, mit dem Von-außen-Sehen auf lange nicht aufgesuchte Stätten, mit dem Fremdwerden, dem fremd Gewordenen. Die verstreichende Zeit fremdet uns ab, ein sprachliches Wagnis, sie fremdet uns aus …“ (S. 26) Aus einem fast schon extraterrestrischen, weit über den Dingen und den wechselhaften Zeitläuften schwebenden Blickwinkel sammelt er Faktisches. Selten ist es bedeutende, meist nur unscheinbare Faktizität, mit deren Hilfe das Dramatische, das Konvulsivische, das manchmal Tragische menschlicher Schicksale im epischen Langzeitstil des Chroniknarrativs geglättet und in bedeutungsgleichmäßige Faltenlosigkeit eingebügelt werden. Sie verlieren die einst situativ-konfliktreiche Exponiertheit und werden unweigerlich entmaterialisiert: „materielle(s) Erbe … werde nach und nach sich in ein ungreifbares Erbe verwandeln, in schriftlich fixierte Kunde oder in gesprochene Überlieferung“ (S. 603 f.).
Historische Dauer, kulturelle Persistenz, Beständigkeit von Gesinnung und Verhalten, Fortschreibung der Identität – sie sind das, was von konvulsivischen Jahrzehnten übrig bleibt, wenn der Roman mit den tröstenden und hoffnungsvollen Worten schließt, die üblicherweise nach einem Todesfall gleichermaßen Abschluss und Neubeginn signalisieren: „Das Leben geht weiter …“ (S. 604). Um als Schlussbaustein erneut wie am Anfang des Romans eine Jahrtausendklammer, diesmal aus dem „Hildebrandslied“ (um 800 aufgezeichnet), aufzurufen: „Ik gihorta dat seggen … – Das hörte ich sagen …“ (S. 604). Hier schließt sich der eine Erzählkreis. Der nächste wird zwar noch nicht geöffnet, aber er wird angedeutet. Die Geschichte vom Sanatorium Tartler ist zu Ende erzählt. Aber dereinst wird das Gebäude in Kronstadt vielleicht zu einem Beherbergungsbetrieb umgewidmet worden sein, zum „Drachenhaus 2“. Das Einzelne mag schwinden, der Kulturraum sich wandeln, aber das kulturelle Kontinuum überdauert die Zeiten: die ewige kulturelle Syntax der nach außen gestülpten Faktizität des Inneren.
Erzähler sind die Hüter der überhistorischen Wahrheit. Sie streben nach gestalteter Wahrhaftigkeit. Insofern ist die grundlegende Formel ihres Werkes meist nicht ohne Weiteres zu entschlüsseln. Davon leben ganze Wissenschaften. Die Formel verknüpft Existenzielles mit Ästhetischem. Der innerste Kern von Joachim Wittstocks Existenzästhetik ist sein ethisch genordeter Verantwortungsrealismus. Es ist ein Überrealismus der Homogenisierung. Der panoramisch-chronikalische Millenniumsblickwinkel der Erzählinstanz kann den Ausgleich, ja die Harmonisierung der Geschichtskräfte herbeiführen.
Den exogenen Kräften der Geschichte, die die Figuren immer wieder tektonisch-eruptiv in Katastrophen, Regimewechsel, Krieg, Deportation und Lager hineinreißen, setzt Wittstock in „Das erfuhr ich unter Menschen“ die endogenen Kräfte der Lebensläufe, der Erinnerung und des Erzählens entgegen – und zwar in einem dichten Netz von ritualisierten Sozialräumen: Kirche, Schule und Nachbarschaft stehen dabei neben der Arbeitswelt von Unternehmen, Handwerksbetrieben und Verwaltungen, den medizinischen und fürsorgerischen Milieus (Sanatorium Tartler) sowie den extremen, deformierten Sozialräumen von Krieg und Lager, in denen sich dennoch Mikrorituale des Teilens, Erinnerns, Erzählens und Sich-Kümmerns ausbilden. In all diesen Räumen praktizieren Wittstocks Figuren – Nachbarn, Kollegen, Familienangehörige, Lehrer, Ärzte, Pflegepersonal, Patienten, Soldaten und Lagerinsassen – ein beharrliches Weiterführen von Gesten, Besuchen, Gesprächen, Festen, Gedenkformen, beruflicher Gewissenhaftigkeit und kleinen Akten der Fürsorge, durch das sie sich der totalen Preisgabe an die exogenen Gewalten entziehen. Ihre Kraft zum Aushalten und Verharren besteht nicht im heroischen Aufstand, sondern in einem stillen Verantwortungsrealismus: im Weitermachen des Notwendigen, im treuen Vollzug ihrer Rollen, im Festhalten an verbindlichen Routinen. Die Erzählstimme ist ein alles zusammenhaltendes Exoskelett des Narrativs der Dauer: Wo ein Körper war und nicht mehr ist, erhalten die Erinnerungen, die Artefakte und die Topografie die Körperlichkeit.

Wittstocks Roman ist unverkennbar ein Alterswerk, bei dem Erlebnissättigung, Erkenntnisreife und ästhetische Vollendung sehr selbstsicher die Feder geführt haben. Das filigran-wuchtige Schauspiel von zahlreichen Romanfiguren auf dem Hindernisparcours durch das 20. Jahrhundert bis in die Jetztzeit lässt vor unseren Augen eine Regionalkosmogonie entstehen, die in einer solchen Fülle normalerweise nicht in einem Einzelwerk, sondern im Gesamtschaffen eines Autors zu finden ist.
In der deutschsprachigen Literatur gibt es zwar einige extrem umfang- und figurenreiche Großformen – von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ über Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Heimito von Doderers „Die Dämonen“ bis hin zu Uwe Tellkamps „Der Turm“ –, die jeweils eine ganze Gesellschaft in Krisen- und Umbruchsituationen entwerfen. Aber durch die Kombination aus regional gebundener überreicher Stofffülle, der Durchquerung eines Jahrhundertzeitraums, der genealogischen Tiefenstaffelung und einer derart breit aufgefächerten Figurenliste (rund 60 namentlich geführte Personen) kommt Joachim Wittstocks „Das erfuhr ich unter Menschen“ sehr nahe an etwas heran, was andere Autoren eher im Rahmen eines Romanzyklus oder eines über mehrere Bände verteilten Lebenswerks geleistet haben: beispielsweise das dreiteilige Epos „November 1918“ von Alfred Döblin, das Romanprojekt „Jahrestage“ von Uwe Johnson oder die Danzig-Trilogie von Günter Grass. Indes unterscheidet sich Wittstocks panoramisch-chronikalische Erzählstimme deutlich von diesen Modellen: Er erzählt nicht primär ironisch gebrochen, experimentell montierend oder klassisch auktorial breit ausgewalzt, sondern als ruhig registrierende, archivierende und genealogisch orientierte Instanz, die die Vielzahl der Lebensläufe, Orte und Ereignisse sprachlich-erzählerisch in die der geschichtlichen Erdenschwere enthobene Zeitlosigkeit versetzt.
Der in einer solchen Einreihung sehr weit gezogene Bogen muss ergänzend kulturräumlich auch etwas enger auf die rumänienkonnotierte deutsche Gegenwartsliteratur ausgelegt werden. Diese war und ist überwiegend lyrisch ausgerichtet, aber sie ist reich an Erzähltem. Bei einigen dieser Autoren berichtet die Erzählstimme möglichst direkt vom Innenschauplatz: klassisch auktorial, psychologisierend-fiktional. Selbst wenn sie mitunter autofiktional gefärbt ist, bleibt die Erzählstimme von Selektion, Metapher und Perspektivregie geprägt. Bei Herta Müller ist die Erzählhaltung eine global relevante metaphorische Traumavermessung. Iris Wolffs auf binnendeutsche Seelenlagen eingeparkte Innennähe ist eine multiperspektivisch-durchlässige Nahsicht ohne Ich-Form. Eginald Schlattners authentisches Beicht- und Chronistennarrativ fesselt mit der moralischen Bilanz eines von der Großgeschichte überfluteten Binnenraums.
Die Erzählstimmen anderer Gegenwartsautoren nähern sich dem Innengeschehen über einen wahrheitsprobaten Beobachtungsscan des Äußeren. Diese Autoren misstrauen dem freibeuterischen Charakter der Fiktionalität. Bei ihnen waltet das Bemühen um erhöhte Erzählredlichkeit. Grundlage ist der Objektivierungs- und Registraturgestus. Ihre poetische Signatur: Außenblick statt Psychologismus! Sie zeigen akkurat und belegen redlich, statt innenseelisch spekulativ zu schürfen! Selbstverständlich geschieht das nie völlig neutral – Auswahl und Montage bleiben stets Setzung. Bei Johann Lippet ist es die inventarisierende Chronik der Banater Koordinaten. Er ist der sachliche und authentische Ethnograph, der die Alltagsniederungen einer Auflösungszeit vermisst. Joachim Wittstock moduliert feingliedrig das Identitätsringen der Siebenbürger Sachsen. Das macht er im belegten chronikalisch-amtlichen Duktus, in der schnörkellosen Taktung der Rituale, der Topografie, der Rollenrede seiner Charaktere. Wittstocks Kernbotschaft ist die Sprache selbst, es ist das Sprachlayout der kulturellen Longue Durée. Diese Botschaft ist weder regional noch global, sie ist mehr als das, sie ist eine in der deutschen Gegenwartsliteratur singuläre Sichtbarmachung der übergeordneten Zeitlosigkeit – mit den deutlichen Zügen eines modernen Epos.
Zum Titel seines Romans, den er dem um 800 aufgezeichneten Wessobrunner Gebet entnommen und wohl platteren Optionen vorgezogen hat, erklärt der Autor freimütig: „Unsereiner lebt auch von den kulturellen Hauptbeständen der Vergangenheit und sieht sich daher hineingenommen in den Echoraum, der sich zwischen der Niederschrift des uralten Textes und der Gegenwart ergibt, in diese rund 1200 Jahre umfassende Zeitspanne.“ (Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 17. Juni 2024, S. 11) – „Unsereiner“? – Er rechnet sich still einem Phänotyp zu. „Kulturelle Hauptbestände“? – Er definiert seine kulturellen Ressourcen. 1200-jähriger „Echoraum“? – Er quantifiziert den selbstreferenziellen Resonanzraum der Longue Durée. Dieser Erzähler verweigert glaubwürdig die „Zeitdienerei“ im schopenhauerischen Sinn. Er schreibt gegen die Stunde und für das Gültige: Empirie wird in seinem Roman spezifische Sprache, Sprache wird unverwechselbare Form, Form wird zeitlose Dauer, Zeitlosigkeit transzendiert Realität. Ecce Joachim Wittstock, der letzte siebenbürgisch-sächsische Großschriftsteller: gefesselt-frei in einem literarisch-kulturellen Jahrtausendkontinuum!
Walter Fromm
(Diesen Essay widme ich meinem Freund Peter Motzan, der demnächst mit seinen stolzen 80 Jahren ebenfalls auf einen Langzeitraum zurückblicken wird.)Joachim Wittstock: „Das erfuhr ich unter Menschen. Romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale“. Schiller Verlag, Hermannstadt/Bonn, 2024, 605 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-949583-51-3
Schlagwörter: Literaturwissenschaft, Joachim Wittstock, Roman
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