25. Mai 2008

Rede von Pfr. i.R Werner Knall an der Gedenkstätte in Dinkelsbühl

Die Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen in der Lindenallee der Alten Promenade in Dinkelsbühl ist den Opfern von Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung geweiht. Ein Ort der Erinnerung, der Besinnung und inneren Einkehr. Die traditionelle Rede an der Gedenkstätte hielt am Pfingstsonntag Pfr. i.R Werner Knall. „Was kann uns helfen“, so fragte der Geistliche, selbst ein Zeitzeuge, „trotz leidvoller Erfahrungen in der Geschichte und der Gefahren, die sich am Horizont der Gegenwart und der Zukunft abzeichnen, krisenfest und hoffnungsvoll zu bleiben?“ – Die Rede an der Gedenkstätte wird im Folgenden gekürzt wiedergegeben.
Liebe Festteilnehmer, liebe siebenbürgische Landsleute! Diese Feierstunde, zu der wir uns an dieser Gedenkstätte eingefunden haben, stellt mich, den Redner, vor die Aufgabe, an die vielen in Kriegs- und Verfolgungszeiten dahingerafften und aus dem Leben gerissenen Menschen zu denken, von denen dieses Mahnmal Zeugnis gibt, und denjenigen, die mitten im Leben stehen und auf eine gute Zukunft hoffen, ein wegweisendes Wort zu sagen. Diese Gedenkstätte ist nicht nur ein schlichter Grabstein der Erinnerung an ein zu Ende gelebtes Leben, sondern sie erinnert an Menschheitskrisen, in die Völker und Kontinente hineingerissen wurden.

Aus diesem Gedenkstein spricht auch die geschichtliche Warnung, dass es Krieg geben kann zwischen Menschen, Tötung um eines Zieles willen, Verschleppungen, Vertreibungen, Vergeltungsdenken, willkürliche Verhaftungen mit verheerenden Folgen für den Einzelnen und seine Familie. Für mich ersteht vor diesem Gedenkstein auch die Erinnerung, dass es bis zum Fall der Mauer in Berlin über ein halbes Jahrhundert lang einen ideologischen Klassenkampf geben konnte, zu dessen direkten Opfern ich mich auch zählen muss. Aber auch Dankbarkeit kommt in mir auf, dass ich zu jenen gehören durfte, die bewahrt wurden, neues Leben aufbauen konnten und dass meine Kinder von solchen geschichtlichen Katastrophen verschont blieben.

Der Redner aber, in dieser Stunde des Gedenkens, steht mit seinem Wort zwischen dem Ungeheuerlichen, das flächendeckend über Menschen hereinbrechen kann, und der Sehnsucht nach Freiheit, Frieden und Leben. Er Redner steht im Spannungsfeld zwischen Geschichtskrisen, die vergangen sind, und solchen, die in der Zukunft einer globalisierten Welt lauern und zyklonartig über Menschen hereinbrechen können wie in Ruanda, wo in 100 Tagen 800 000 Menschen starben.

Kain und Abel in der Bibel stehen archetypisch bereits für diese Ausgangslage. Natürlich gab es auch in Ruanda geschichtliche und politische Hintergründe. Es gilt einen klaren Blick auf Geschichte und Gegenwart zu wagen, damit Leben, Frieden und Freiheit bewahrt bleiben mögen. Es gilt in der globalen Gegenwart mehr und mehr, die Gefahr von Sprengstoffanschlägen als Kriegsmittel wahrzunehmen, die in einer U-Bahn wahllos Menschen in den Tod reißen um der Umsetzung gleich welcher Ziele willen. Wehe, wenn es einmal global um Brot und Wasser gehen sollte, das jeder Mensch braucht, um leben zu können. Der Redner hier steht, wenn er nicht nur historisieren will, zwischen einem Mahnmal für solches alles und der Zukunft des Lebens.
Beim Heimattag wurde der Opfer von Krieg, ...
Beim Heimattag wurde der Opfer von Krieg, Verfolgung, Flucht und Vertreibung gedacht. Die Gedenkrede hielt Pfarrer i.R. Werner Knall. Foto: Hans-Werner Schuster
Wir stehen mit unseren Blicken in die Geschichte und dessen, was heute noch möglich ist, auch vor einem Blick auf den Menschen selbst, in dem das Irrationale, Ungeheuerliche keimartig haust und unbeherrscht ausbrechen kann, um einen Brand zwischen Menschen zu entfachen. Mühsam ist dieses gefährliche Potential in uns im Zaum gehalten. Die Aufgabe des Redners in dieser Feierstunde ist es trotzdem, das gute, wegweisende Wort für Leben und Zukunft zu wagen. Was kann uns helfen, trotz leidvoller Erfahrungen in der Geschichte und der Gefahren, die sich am Horizont der Gegenwart und der Zukunft abzeichnen, krisenfest und hoffnungsvoll zu bleiben? Ich versuche dieses gute, wegweisende Wort vermittels dreier Einsichten, die uns dabei hilfreich sein können.

I. Ein historisch orientierter Blick

Wenn es stimmt, dass der Urmensch im Zuge seiner Entwicklung den aufrechten Gang nur gelernt hat, weil er aus der Duckposition scheinbarer Sicherheit sich erheben musste, um im Buschgras einen erweiterten Blick nach hinten und nach vorne zu werfen, um auf diese Weise aufkommenden Gefahren besser und schneller begegnen zu können, dann wäre dies ein schönes Bild für meine erste lebensbewahrende Einsicht am heutigen Abend. Es gilt den aufrechten Gang und aufmerksamen Blick auf Vergangenes und Gegenwärtiges zu bewahren. Zukunft braucht Rückblick und Ausblick, auf keinen Fall Verdrängung von Tatsachen, dumpfes unübersichtliches Wegducken, um im Bild zu bleiben, oder gar Beschönigung.

Übertragen in die Gegenwart sieht dies vielleicht so aus: Wenn im Zuge der Zeit Moskau oder auch der Vatikan gesperrte Archive öffnen und nähere Blicke auf vergangene Zeiten und den Menschen in der jeweiligen Zeit möglich werden, wenn Archive der Securitate in Rumänien zugänglich werden, so gilt es feste und klare Blicke darauf zu richten, unser Geschichtsbild zu vervollkommnen, die notwendigen Erkenntnisse daraus zu ziehen für die Neugestaltung des Lebens. Ebenso ist auch der klare Blick aus Gründen der Absicherung des Lebens für den Ausblick nach vorne nötig. Ich weiß, ich sage hier Gängiges, aber auch wenn es uns allen weh tut, müssen Brot, Wasser, Erde und Luft und damit Leben gesichert werden. Aufrechter Gang und möglichst klarer Blick nach vorne und nach hinten ist nötige und wichtige Einsicht. Zukunft braucht Rückblick mit Einblick und Ausblick.

II. Ein psychologisch orientierter Blick

Die zweite hilfreiche Einsicht für das Gelingen und das Bewahren des Lebens, auch des persönlichen Lebens, betrifft unser Verhalten in einer Krise, in die wir hineingeraten sind. Es gibt kein Leben ohne Krisen und es gibt Zeiten, in denen man gemeinsam in der Gesellschaft, in der wir leben, Krisen durchstehen muss. Zur Krise gehört, dass wir uns von lieb Gewonnenem trennen müssen. Das können Vorstellungen oder Ideen sein, wie das Leben ist oder was Leben heißt. Manchmal sind es auch Menschen, von denen wir uns trennen müssen. Sie ist vergleichbar mit einer Fähre, auf der wir sind und mit der wir das eine Ufer verlassen haben, um das andere Ufer zu finden, das heißt aber übertragen: Es gilt neuen Grund für das Weiterleben zu finden. Dabei geht einiges zu Grunde und wir müssen uns selbst dabei neu auf den Grund gehen.

Meine Generation hat so eine Geschichts- und Lebenskrise mit schmerzhaften Elementen der Verunsicherung mitgemacht und dabei neuen Grund und neue Heimat gefunden. Nicht allen gelang dies. Man konnte dabei auch scheitern. Denjenigen, die neuen Grund fanden, gelang dies, weil sie die Krise auch als eine Möglichkeit oder eine Chance betrachteten, Korrekturen im Leben vorzunehmen. Sie schulten sich weiter, schulten um, erlernten neue Berufe und suchten sich neue Aufgaben und Ziele.

Der Schmerz über den Verlust des hinter dir zurückgelassenen Ufers kann mich auch heute noch treffen, denn die alte Heimat ist mir nicht gleichgültig geworden. Sie ist ja ein Stück meiner Vergangenheit und bleibt ein Teil meines Lebens. Ich bleibe beim Bild der Fähre, weil man mit der Fähre ablegen muss. Das ist auf der Fahrt von einem alten heimatlichen Ufer zu einem neuen Ufer der Heimat mit Krise verbunden. Da muss man auf einiges verzichten, und was zu der Substanz meines Lebens gehört, bewahrend mitnehmen. Vielleicht ist es hilfreich zu erkennen, dass der Inbegriff dessen, was im Wort „Heimat“ liegt, in Bewegung geraten ist: weil die alte Heimat sich in der vergehenden Zeit in meiner Abwesenheit verändert hat; weil die Menschen, die man gekannt und geliebt hat, nicht mehr da sind; weil du dich selbst in deiner Abwesenheit entfremdet hast oder den dort Gebliebenen fremd geworden bist; weil du dich inzwischen selbst unnötiger fühlen könntest; weil es die tiefe Erfahrung vieler Menschen gegeben hat und noch gibt, dass man in seiner alten Heimat zutiefst heimatlos werden kann, wenn Ideologie sich in deine Privatsphäre drängt und die Gestaltungsfreiheit des Lebens bedrängt.

Man kann auch in der alten Heimat heimatlos werden und sie verlassen. Deshalb ist schließlich einmal die Mauer mitten durch Berlin entstanden. Wenn aber gar die einfachsten Grundbedingungen des Lebens, Arbeit, Brot und Wasser fehlen, dann wird der Mensch zum Boatpeople. Er wagt sich auch als Nichtschwimmer auf das Meer, um ein neues Ufer des Lebens zu finden.

Der Inhalt und Inbegriff des Wortes Heimat ist in Bewegung geraten und für viele Menschen unserer Zeit ein fernes, ein verzweifelt gesuchtes und begehrenswertes Ziel geworden. Wir kommen heute einfach nicht mehr umhin, den Inbegriff von Heimat auch in großen Zusammenhängen zu denken. Damit aber kommen wir mit unseren Gedanken in die Nähe des Hebräerbriefes im neuen Testament, der die Menschen durch die Zeit des Vorletzten wandern sieht, immer mit dem Blick auf das Letzte gerichtet, das bei Gott liegt und in der Bibel bildlich als das himmlische Jerusalem beschrieben wird.

III. Der Blick des Glaubens

Nach dem historischen und psychologischen Blick auf den Menschen nun die dritte und letzte Einsicht, die uns der Zukunft begegnen hilft. Es ist der Blick des Glaubens auf uns und unser Leben. Er besagt, dass wir uns, über angereichertes Wissen und unseren Verstand hinaus, im Glauben als von Gott getragene und begleitete Menschen begreifen dürfen. Es ist ein Glaube, der die Hoffnung in die Zukunft in uns erhält und dafür sorgt, dass Hoffnung nie zu Schanden wird. Auch in der letzten Krise des Lebens nicht. Es ist ein Glaube, der uns den Sinn für das, was zu tun ist, im Sinne Christi erneuert, den Egoismus zurückdrängt und uns der Gemeinschaft zuführt und verpflichtet. Ein Glaube auch, der den irrationalen Kräften in uns begegnet. Ein Glaube, der die Vernunft des Menschen als ein Gottesgeschenk ansieht und für den der Apostel Paulus den Rat gibt. „Ich will nicht nur im Geist beten, sondern auch mit dem Verstand.“ (1. Kor 14,15) Das verstehe ich so, dass wir das ganze Leben hineinnehmen sollen in unser Gebet, unseren Rückblick, unseren Ausblick und unsere Krisen.

Es gibt eine Begebenheit in meinem Leben, die als tiefe Erinnerung mit mir durch das Leben wandert. Da rastete ich einmal im Donaudelta als zur Zwangsarbeit Verurteilter politischer Häftling in einer dreiköpfigen Arbeitsgruppe in größter Mittagshitze im Schatten des Schilfzaunes eines lipowenischen Fischerdorfes. Wir waren mit Vermessungsarbeiten betraut und wurden von mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten, die um uns einen Bewachungsgürtel bildeten, bewacht. Ein Feldwebel und zwei Soldaten hatten dafür zu sorgen, dass niemand flüchten konnte und dass wir politisch Verfemten mit der Bevölkerung keinen Kontakt bekamen. Da tat sich völlig unerwartet eine Schilftüre in dem Zaun auf und eine lipowenische Fischersfrau trat mitten im Bewachungsgürtel vor uns, setzte uns einen mit Weintrauben gefüllten großen Korb vor die Füße und sagte: „Esst.“ Alle erstarrten. Dann sprangen die Soldaten auf und brüllten: „Bist Du wahnsinnig, Weib? Wir erschießen dich.“ Die aber schleuderte einen Fluch in ihre Richtung und verschwand lautlos, wie sie erschienen war, hinter dem Schilfzaun. Obwohl wir seit Jahren kein Obst zu sehen bekommen hatten und unter Hungergefühlen litten, getrauten wir uns nicht uns zu bedienen und blickten zu unseren Bewachern. Der Feldwebel unter ihnen gab seine Maschinenpistole einem Soldaten, näherte sich langsamen Schrittes unserem Traubenkorb, nahm sich für seine Kameraden ein Paar Trauben und sagte mit leiser Stimme: „Esst, aber wehe euch, wenn ihr etwas mitnehmt.“

Was war geschehen? Hier haben sich Menschen gegen Befehle und Verordnungen, gegen die Gefahr des Verrates, der überall lauerte, und die Frau, streng genommen unter Einsatz ihres Lebens, menschlich verhalten und Grenzen überschritten. Ihre christlich-orthodox geprägte Erziehung und Sozialisation hatte sich in ihnen zu Gunsten der Mitmenschlichkeit durchgesetzt. Das gehört ebenfalls zu der Geschichte des Menschen, dass es auch ein Ringen um bessere Werte in ihm gibt, um Taten der Liebe und der Menschlichkeit zu Gunsten des Anderen. Wir haben keine Scheinwerfer, die uns das Leben und seine Zukunft auf diesem Planeten ausleuchten können, aber wir haben ein Wort, das tief geht und uns begleiten kann. Es ist wie ein lebendiges Licht, das mitwandert durch die Zeit als meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.

Lassen sie mich diese von mir geschilderte Einsicht des Glaubens als hilfreiche Erkenntnis für die Gestaltung der Zukunft zum Abschluss durch den Apostel Paulus im 1. Timotheus-Brief ausdrücken: „Groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.“ (1. Tim. 3,16). So umfasst von der Kraft des Glaubens, können wir das Leben bewahren und die Zukunft bestehen.

Pfr. i.R. Werner Knall

Schlagwörter: Heimattag 2008, Dinkelsbühl

Bewerten:

11 Bewertungen: ++

Neueste Kommentare

  • 25.05.2008, 20:54 Uhr von gloria: Herzlichen Dank an Herrn Pfarrer i.R. Werner Knall.Gott segne ihn und schenke ihm noch viele ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.