21. April 2009

Dichtung, Chronik, Dokument: Ioana Ieronims Buch über die "Brückengasse"

Die Autorin dieses Buches, Ioana Ieronim, ist eine der bemerkenswertesten Vertreterinnen der Gegenwartsliteratur Rumäniens. 1947 in Rosenau im Burzenland geboren, Schülerin der dortigen deutschen Schule, Anglistin und Lektorin beim Bukarester Enzyklopädischen Verlag, wurde sie nach der politischen Wende Kultur- und Presseattaché an der Botschaft Rumäniens in Washington D.C. und arbeitet seit 1998 als Direktorin des rumänisch-amerikanischen Fullbright-Programms in Bukarest.
Von der Kindheit in Rosenau handelt ihr Buch „Triumful paparudei“, das schon 1992 erschien und nun seit 2008 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Brückengasse ohne Ufer“ vorliegt.

Mit dem Satz „Und ich erzähle“ beginnt der in 93 Kurzkapiteln ausgebreitete Rückblick und setzt fort: „In der perfekten Leere des Augenblicks (...) erzähle ich von einer statischen Welt: So ist jede Kindheit. Es hat sich scheinbar nichts bewegt hinter der von alten Schritten abgetretenen Schwelle. Wir reden im Flüsterton. Das Kind lebte die Ewigkeit selbst – während die Geschichte ihren großen Fall begann.“ Damit ist gleich zweifach das Anliegen Ioana Ieronims ausgesprochen. Der „große Fall der Geschichte“: das ist die stalinistische Düsternis, die sich über das Land ausgebreitet hatte. „Wir reden im Flüsteron“: das war der Versuch der Überlebensmaxime. Beides bestimmt Inhalt und Atmosphäre des Buches gleichsam als Cantus firmus, auf den sich alles Mitgeteilte bezieht.

Ioana Ieronim bedient sich dabei nicht der Der-Reihe-nach-Erzählung – wie Robert Musil den klassischen Modus des Erzählvortrags nannte –, sondern bricht den Komplex ihres „Berichtes“ in selbstständige Teilstücke auf, die freilich in der Summe ein einheitliches Ganzes darstellen. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt in der Möglichkeit, dem Stoff eine ungewöhnliche Vielgesichtigkeit und -farbigkeit und einen ebensolchen Facetten- und Variationsreichtum zu geben. Bald sind die Kurzkapitel anekdotisch erzählt, bald leuchten sie als Stimmungsbilder, dann wieder in aphoristischer Formulierung auf, Augenblickimpressionen wechseln sich mit Passagen der Meditation ab. Verrat, Deportation, Enteignung, Treue und Freundschaft, heimliche Hilfe und gesellschaftlicher Verfall unter dem Druck der allenthalben spürbaren und schnüffelnden Diktatur, Auswanderung, Verzweiflung und vieles andere mehr – die ganze Bandbreite nicht nur der Ereignisse, sondern zugleich der Gefühlsschwankungen jener Epoche der gezielten Zerschlagung überkommener Daseinsformen wird auf diese Weise lebendig. Ob rumänische, deutsche oder andere Dorfbewohner: die Walze kommunistischer Destruktion rollt über alle gleichermaßen hinweg.

Dass Ioana Ieronim in deutscher beziehungsweise siebenbürgisch-sächischer Umgebung aufwuchs und als Kind rumänischer Eltern die Auflösung und das Erlöschen dieser „mitwohnenden Nationalität“ – wie die ethnischen Minderheiten im Kommunistenjargon hießen – unmittelbar miterlebte und mitfühlend beobachtete, verleiht ihrem Buch über den literarisch definierbaren Rang hinaus einen zusätzlichen Reiz. Es sind einzelne Deutsche, die ihre Sympathie genießen – vor allem „Herr Stamm und dessen Frau Anni“ – und an deren bitterem Los ihr dasjenige der ganzen Volksgruppe bewusst wird. Sie schildert ebenso präzise wie stimmungsstark die Enteignung des Unternehmers Stamm oder einen Dorfball, das ordentliche Anwesen jenes „Herrn Kraft“, der sich neben der Ehefrau ohne Zurückhaltung eine Kebse leistet, den bei Nacht und Nebel verhafteten Nachbarn – „Mutters stummes Weinen für jene, die niemals mehr auftauchen werden“ - oder Onkel Fritz’ zweite Ehegattin Edith u.a.m. Sie reiht so die in Rosenaus Brückengasse gelebten Schicksale zur Chronik einer Straße, wie es der Niedersachse Wilhelm Raabe 1857 in seinem berühmten Roman „Die Chronik der Sperlingsgasse“ in epischer Breite gemacht hatte. Aus Ioana Ieronims „Chronik“ allerdings treten die realen Bewohner jener einstigen Brückengasse auf den Leser zu – keiner ist erfunden, keiner gehört dem Bereich der Fiktion an, kein Name wurde geändert. Auf diese Art summieren sich die dank der oben skizzierten Technik der Stoffausbreitung mögliche Schlaglichter zugleich zum historischen Dokument.

Dessen stilistische Originalität liegt nicht zuletzt darin, dass hier eine Lyrikerin erzählt, die Ioana Ieronim in erster Linie ist. Auf alle Fälle gehört diese Frau in die Reihe jener rumänischen Journalisten, Publizisten und Schriftsteller, die seit 1989/90 offen ihre Zuneigung zu den Deutschen Siebenbürgens äußern dürfen und in manchmal erschütternder Formulierung deren Ausscheiden aus der Geschichte der Landschaft im Karpatenbecken als unschätzbaren Verlust für das ganze Land beklagen. Sie beschämen damit jene bundesdeutschen Schreiber, deren diesbezügliche mangelhafte, falsche oder ideologisierte Information zu den kulturellen Peinlichkeiten in diesen Fragen gehört.

Dagmar Dusil ist für die genaue und sorgfältige, sprachlich schöne Übertragung des Buches ins Deutsche Lob und Anerkennung auszusprechen. An keiner Stelle ist die Arbeit an der Übersetzung des nicht selten diffizilen und anspruchsvollen rumänischen Textes zu erkennen, das heißt, die deutsche Fassung liest sich wie das Original: flüssig, klar, ohne Stolpereien, sie wahrt zudem den Geist der Luzidität, der mit zu den Qualitäten des Werkes von Ioana Ieronim gehört.

Hans Bergel

Ioana Ieronim: Brückengasse ohne Ufer. Aus dem Rumänischen von Dagmar Dusil. Mit einem Nachwort von Hans Bergel, Johannis Reeg Verlag, Bamberg 2008, 184 Seiten, 13,80 Euro, ISBN 978-3-937320-37-3.
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Schlagwörter: Rezension, Belletristik, Rosenau

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