28. Juli 2009

Was ändert sich beim Lesen?

„Wahrnehmung der deutsch(sprachig)en Literatur aus Ostmittel- und Südosteuropa – ein Paradigmenwechsel?“ Mit seinem 115., in der wissenschaftlichen Reihe erschienenen Band bleibt das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) seiner Linie treu: Die Reihe ist und war immer darum bemüht, den Diskurs – ostmittel- und südosteuropäische Geschichte, Literatur und Sprache betreffend – zu fördern und dabei aktuell zu sprechen.
Auch der 115. Band ist ein wissenschaftliches Buch geworden – natürlich! Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Aufsätzen und Beiträgen, die die deutsch(sprachig)e Literatur Ostmittel- und Südosteuropas zum Thema haben, kombiniert mit dem als Frage gehandhabten Begriff des „Paradigmenwechsels“. Das Buch greift dabei die Inhalte und Ergebnisse eines Kongresses in Klausenburg aus dem Oktober 2005 auf, der sich mit dem Wahrnehmungswechsel gegenüber Minderheitenliteraturen nach dem Zusammenbruch kommunistischer Herrschaftsformen beschäftigte. Zu den Zielen des Kongresses gehörte es – auf den ostmittel- und südosteuropäischen Raum bezogen –, bisher unbeachtete Themenkomplexe zu berücksichtigen und neue Quellen zu erschließen. Überdies ging es, wie dem Vorwort des Bandes zu entnehmen ist, um „die Erörterung miteinander konkurrierender Methoden“, „den Austausch von Informationen über die jeweiligen Tätigkeitsfelder“ etc.

Das sind interessante Vorhaben, möchte man sagen, aber waren das nicht schon immer Kennzeichen jeder Wissenschaftlichkeit; was steht also hinter den Schlagworten „Paradigmenwechsel“ und „neue Lesarten“? Daran schließt sich die Frage an, ob dieses Buch ausschließlich an ein Fachpublikum gerichtet ist, oder ob auch ein Leser, der sich nicht regelmäßig auf germanistischen Kongressen und Tagungen tummelt, dieser Publikation etwas abgewinnen kann?

Zunächst einmal lässt sich dem Aufbau und der Konzeption des Buches etwas abgewinnen. Die Beiträge sind drei Herkunftsräumen zugeordnet: der Bukowina, Siebenbürgen und dem Banat und, im dritten Block, Ungarn und Slowenien. Im ersten Teil, werden mit Blick auf Paul Celan poetische Landschafts- und Raumentwürfe zur Debatte gestellt. Das zweite Kapitel steht unter den Begriffspaaren „Beharren und Aufbruch“ sowie „Tradition und Erneuerung“. Damit ist im Unterschied zum ersten Teil ein etwas anderer, auf den Umgang mit den Herkunftsgebieten bezogener Akzent gesetzt. Ungarn und Slowenien stehen im dritten Abschnitt für das Thema der regionalen Verortbarkeit literarischen Sprechens und gehen u.a. der Frage nach, ob es geschlossene Regionalliteraturen überhaupt gibt und was mit ihnen gemeint sein könnte.

Damit ist also der Bogen gespannt, die Diskussion um die Wahrnehmung gegenüber (und den Umgang mit) der deutschen Südosteuropa-Literatur eröffnet. Der Paradigmenwechsel auf das Buch bezogen – veranschlagt man ihn im Zustandekommen neuer und zum Teil erst wiederzubelebender Kommunikation – ist nicht zuletzt im Zusammenwirken der Beiträge gespiegelt und das erscheint wirklich außerordentlich gelungen. Es muss für jeden, der Begriffe wie Sprache, Identität oder Heimat einigermaßen scharf und inhaltsorientiert verwenden will, ein geistiges Vergnügen sein, mit diesem Band die Möglichkeit gereicht zu bekommen, ebensolche Begriffe wie Heimat, Fremdheit, Sprache, Erinnerungen usw. für sich selbst zu ergänzen, zu aktualisieren, in Frage zu stellen oder nachzuschärfen. Allzu oft werden sie naiv oder fahrlässig verwendet.

Auf der Fährte dieser Begriffe greifen die Texte des Buches literarische Beispiele auf, die von Paul Celan über Oskar Pastior, Joachim Wittstock bis hin zu Herta Müller oder Dieter Schlesak reichen, und sie bieten oder provozieren in der Tat neue Leseweisen. Freilich sind die Texte wissenschaftlich-theoretisch gebaut, aber in vielen Fällen so originell, aufmerksam und sensibel, dass auch der gerne-schmökernde Leser oder Kenner dieser Autoren auf seine Kosten kommt und seine Verstehenshorizonte ausweiten kann – einfach deswegen, weil er die Impulse dazu bekommt.

Um ein Beispiel zu nennen: René Kegelmann untersucht das Phänomen der verlorengegangenen Sprachheimat (im Feld von Muttersprache und Emigration) anhand zweier literarischer Texte: Herta Müllers Reisende auf einem Bein und Terézia Moras Alles. In beiden Textbeispielen überstrapazieren die Protagonisten die Sprache und deren Möglichkeiten hinsichtlich der Heimatfindung – sie befinden sich auf einer Heimatsuche, die daran scheitert, dass sie überinterpretiert wird. Sie glauben, mit einer tadellos funktionierenden Sprache das Fehlen von landschaftlicher oder kultureller Heimat aufwiegen zu können. Bei Müllers Protagonistin Irene drückt sich das darin aus, dass sie jeden Sprachklumpen „auf die Goldwaage legen“ muss. Sie kommt nicht heraus, aus dem Zwang ihr Sprachsystem mit anderen vergleichen zu müssen, eben um sich und die Welt um sie herum zu definieren. Moras Held geht einen anderen Weg und stößt doch aufs nämliche Problem: Im Sprachlabor lernt er seine neue Sprache, versucht sie perfekt zu beherrschen und büßt dabei jeden Alltagsbezug ein.

Kegelmann bündelt diese Texte und setzt sie in Beziehung zueinander. Indem er sie wissenschaftlich ausdeutet, versucht er zugleich einen Begriff, wie den einer „sprachlichen Identität“, wieder für die Alltagswelt – also jenseits des poetischen Zauberbergs – versteh- und nutzbar zu machen. Einen Begriff also, der nicht allen Bedeutungsvarianten hinterherlaufen muss, der aber um Aussagekraft bemüht sein sollte.

Die Liste der am Buch mitwirkenden Wissenschaftler versammelt die für den deutsch-südosteuropäischen Literaturraum so fachkundigen Namen wie Stefan Sienerth, Peter Motzan, Joachim Wittstock oder Horst Schuller, Grazziella Predoiu, Fred Lönker oder George Guțu. Den Beteiligten gelingt es, mit der und für die Literatur zu sprechen. Man darf nicht vergessen: Die Schriftsteller zeigen, aber die Wissenschaftler versuchen zu erklären, und das kann manchmal sowohl hilfreich als auch interessant sein.

Joachim Schneider

Wahrnehmung der deutsch(sprachig)en Literatur aus Ostmittel- und Südosteuropa – ein Paradigmenwechsel? Neue Lesarten und Fallbeispiele. Hrsg von Peter Motzan und Stefan Sienerth. München: IKGS Verlag 2009, 337 S., ISBN 978-3-9811694-2-3. 22,50 Euro. Erhältlich im Buchhandel oder zu bestellen über Südost Verlag Service, Am Steinfeld 4, 94065 Waldkirchen. Telefon: (0 85 81) 96 05 14, Fax: (0 85 81) 7 54.

Schlagwörter: Rezension, Literaturgeschichte, Südosteuropa, IKGS

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