8. Oktober 2024
Schauplatz der Erinnerung und Kunst der Fuge: Joachim Wittstocks romaneske Chronik
Rein physisch gesehen ist es ein Schwergewicht, das neue Buch mit über 600 Seiten von Joachim Wittstock „Das erfuhr ich unter Menschen“ mit dem Untertitel „Romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale“, und kein Roman im engeren Sinne. Erschienen ist es im Schiller Verlag, 2024. Gleich im Vorwort wird dem Leser, der geneigten Leserin erklärt, dass es sich um eine Schilderung im Sinne des chronikalischen Realismus handeln wird. Der Titel stammt aus dem Wessobrunner Gebet, einem Sprachdenkmal des Althochdeutschen um 800, und damit knüpft der Autor an eine literarische Tradition an, die im Text mitschwingt (siehe Von den Zeitereignissen zurechtgeformt: Interview mit Joachim Wittstock, dem „Heimweltautor“)

Und schon sind wir in der Geschichte drin, die mit dem dräuenden Abriss und dem Neubau des Sanatoriums Doktor Tartler aus Kronstadt zu tun hat, angesogen von dieser gehobenen und besonnenen Sprache, die sich an Genauigkeit überbietet. Neben technisch versierten und vielleicht etwas angestaubten „Plastplachen“ und „Karniesen“ tauchen das österreichisch angehauchte „Stiegenhaus“, rumänische oder auch lateinische Einsprengsel, bei denen die Übersetzung mitgeliefert wird, aber nicht selten auch poetische Trouvailles auf wie „der säumig Suchende“, oder aber „ein in den Raum kerbendes Zeichen der Zeit“, und man tut gut daran, sie während der Lektüre genussvoll aufzulesen.
Die Chronik selbst, um bei dieser Bezeichnung zu bleiben, hat per definitionem keine „packende“ Handlung oder eine „durchgehende Heldenfigur“, mit der man mitfiebern kann, sie lebt von der Vielfalt, den vielen verschiedenen Erzählsträngen, die sich abwechseln, abgebrochen und wieder aufgenommen und fortgeführt werden, und von den darin dargestellten Figuren und deren Schicksalen. Die da wären: Samuel und Mathilde Tartler, der Namensgeber des Sanatoriums und seine Frau, sowie deren Tochter Dorothea Tartler, die Onkologin, die verschiedenen Bogners und nicht zuletzt Volkmar Decani, ein Pseudo-Bogner und windiger Gesell. Hilfreich ist eine vorangestellte Liste mit den Personen der Schilderung, denn im Laufe der Erzählung kann man leicht den Überblick verlieren. Und wenn man sich an eine Figur gewöhnt hat, muss man sich schon mit der nächsten vertraut machen.
Die Rahmenerzählung, die die Chronik zusammenhält, ist die wechselvolle Geschichte des vormals enteigneten Sanatoriums Doktor Tartler aus Kronstadt vor allem in der Neuzeit, da die Erben es verkaufen wollen („Sanatorium Doktor Tartler“). Weitere Handlungsstränge gelten den Bogners („Doktor Bogner im Kreis seines Umgangs“, „Bogneriana“), einer Volkmar Decani, dem Journalisten, der den Namen Bogner als Pseudonym verwendet („Erzählbericht über Volkmar Decani“). Liebesgeschichten und sogar ein zu entschlüsselnder Mord („Rätselhaft wie der Schnee“) sind auch mit dabei.
Der Schauplatz der Erinnerungen ist Siebenbürgen, vor allem Kronstadt, mit diversen Abstechern nach Temeswar, Sächsisch-Reen, Neumarkt am Mieresch, die Moldau oder auch Deutschland. Die Zeitspanne jedoch umfasst die Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs bis ins Jahr 1975, um dann im letzten Kapitel bis ins Jahr 2021 zu springen und den Schlusspunkt zu setzen.
Die zweifellos schönste Geschichte ist „Schlüsselpunkt“, in der eine Gesellschaft, zu der Dr. Bogner, eine der Hauptfiguren, gehört, in ein Haus eindringt und nicht mehr hinauskann. Sie mutet herrlich absurd an und wurde wohl in jungen Jahren verfasst, wie der Erzähler voranstellt. Gleichzeitig liefert er die Rezeption der Geschichte mit, indem er – listig – kritische Stimmen nach einer Lesung derselben im Literaturkreis zu Wort kommen lässt. Die Geschichte eines Unfalls und einer unglückseligen Rettungsfahrt, die danach folgt, kommt ebenfalls erfrischend absurd und surreal daher. Die anderen Kapitel sind eher der Dokufiktion zuzuschreiben, berichten sie doch sachlich über diverse Schicksale in den Kriegswirren und in der Zeit danach. Wobei die historischen Hinweise beiläufig eingestreut werden, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Figuren. Für einige davon gibt es wohl Entsprechungen und Inspirationen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis Wittstocks, sie wurden jedoch mit anderen Namen versehen.
Der Ich-Erzähler und Chronist, der manchmal auch in der Wir-Form vorkommt, hat alle Fäden in der Hand – Erzählstränge, Figuren und Nebenfiguren – und spielt damit als großer Puppenmeister. Eng verwoben, brechen die Erzählstränge manchmal unvermittelt ab, um an anderer Stelle mühelos wieder aufgenommen zu werden. Und dann fiebert man doch mit, wenn Volkmar Decani abgeschoben werden soll oder unvermittelt eine Leiche auftaucht im Schnee.
Doch abgesehen von einigen direkt erzählten Geschichten ist der „Bericht“ häufig ein Bericht über einen Bericht. Denn er beruht auf überlieferten Geschichten. Auf Erzählungen von Treffen, Besuchen, Erfahrungen, die von den Figuren zum Besten gegeben werden. Der Chronist berichtet dann darüber, oder aber über Fotos, zuletzt über einen Brief. So liest man also nicht nur die Geschichten selbst, sondern erfährt auch etwas über die Figuren, die diese erzählen, deren Schicksale färben darauf ab. Wittstock selbst thematisiert in Gestalt der Erzählerfigur die Entstehung des Buches, als mise en abyme. Wir erleben seine Anfänge in den ersten Kapiteln und nicht zuletzt seine Zweifel. Und ist nicht eine geplante Broschüre, die über das Sanatorium geschrieben werden soll, auch ein möglicher Text, der verworfen wurde? Und die Niederschrift eines geschichtlichen Spaziergangs durch die Jahrhunderte von Volkmar Decani, ist sie nicht ebenfalls ein Projekt, gar ein Holzweg? So mutiert die romanhafte Chronik zuweilen zur „Romanwerkstatt“. Und gilt die spitzbübische Beurteilung „Der Gesamteindruck ist positiv. Allerdings wirken die Ausführungen etwas versponnen. Die Zitate verleiten dazu, dass man sich in ihrem Fahrwasser bewegt. Aber wir können dabei bleiben, beim literarischen Ansatz und bei der gehobenen Diktion“ (S. 511), nicht viellleicht dem eigenen Text?
Wenn man von einer gewissen höflichen Umständlichkeit absieht, mit der der Erzähler seine Figuren einführt, einer dokumentarischen Akribie und einem Hang zur Vollständigkeit – kann man durchaus die Ironie der Schilderung goutieren, diese vornehme, aber zugleich verschmitzte Distanziertheit, die den Duktus dieser romanhaften Chronik ausmacht. Eine Liebesszene beispielsweise wird meisterhaft auf drei Zeilen als „wirblige Abfolge der Emotionen“ zusammengeschmolzen: „Kaffee, Szekler Palinka, Schallplatte, ja, später, Hüllen fallen, sich einen, vereinigen, Ruf und Gegenruf, aufgleißen, verebben, sich binden, sich verbünden …“ (S. 392).
Schauplatz der Erinnerung und Kunst der Fuge – Joachim Wittstocks neues Werk ist ein gewaltiges und ein vielstimmiges Werk, in dem sich, ähnlich wie in Bachs „Kunst der Fuge“, in dem Stimme und Gegenstimme einander ablösen. Zugleich ist es ein Erinnerungsbuch, ein zutiefst siebenbürgisches Epos, das mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts umspannt und bis in die Nebenfiguren hinein die so typischen Lebensläufe festhält, geprägt von Standhaftigkeit, aber auch Mitläufertum und Spitzeleien, von Auswanderung, Heimkehr, Haft, Abschiebung und ähnlichen einschneidenden Erlebnissen. Es stellt das vielstimmige und vielsprachige Siebenbürgen dar und erklingt dabei selbst polyphon. Einiges hätte wegfallen können, wie beispielsweise die Auflistung der Heilanstalten in Kronstadt, einiges hätte gekürzt werden können, wie etwa die Reise in die Moldau. Doch obwohl dieses Buch dem geneigten Leser, der Leserin einiges an Geduld und Langmut abverlangt, lohnt es sich doch, diese letztendlich wundersame Wanderung mit dem Autor bis zum Schluss mitzumachen. Zu seinem 85. Geburtstag, den er am 28. August in Hermannstadt beging, möchten wir, auch im Namen der Siebenbürgischen Zeitung, gratulieren.
Edith Ottschofski
Joachim Wittstock: „Das erfuhr ich unter Menschen. Romanhafte Chronik siebenbürgischer Schicksale.“ Schiller Verlag, Hermannstadt/Bonn, 2024, 605 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-949583-51-3.
Schlagwörter: Literatur, Wittstock, Roman, Rezension, Kronstadt
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