26. September 2020

Covid-19 in Rumänien: düstere Aussichten

Bukarest – Am 14. September hat die Regierung Ludovic Orban den epidemiologisch bedingten Alarmzustand in Rumänien zum vierten Mal verlängert. Damit gelten für einen weiteren Monat die obligatorischen Schutzvorkehrungen wie soziale Distanzierung in der Öffentlichkeit, die Einhaltung von Hygieneregeln sowie Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und an bestimmten Orten im Freien. Trotz der Warnung des rumänischen WHO-Vertreters, Dr. Alexandru Rafila, im November und Dezember werde wegen zunehmender Verlagerung der Aktivitäten in den Innenraum eine zweite Infektionswelle erwartet, führte die Regierung weitere Lockerungen ein: Erlaubt sind nun Demonstrationen mit Teilnehmern bis zu 100 Personen und auch der Kontaktsport ist wieder genehmigt.
Seit Anfang August verzeichnete Rumänien – nach einem exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen seit Mitte Juli – ein schwankendes Plateau von im Schnitt 1200 bis 1300 neuen Fällen pro Tag, das jedoch am 17. September plötzlich auf über 1700 Fälle hochschnellte. Grund für den erneuten Anstieg sei nicht der Schulbeginn am 14. September, der sich erst in ca. zwei Wochen in den Fallzahlen widerspiegeln werde, erklärte Gesundheitsminister Nelu Tătaru, sondern die Rückkehr der Sommerurlauber an den Arbeitsplatz und die damit verbundene gedrängte Situation im öffentlichen Verkehr. Er hoffe, dass sich „neue Plateau“ sich auf 1600 bis 1700 Fälle täglich einpendeln werde. Besorgniserregend ist der Anstieg der Mortalitätsrate, in der sich unter anderem die Überlastung des Gesundheitssystems reflektiert. Waren es Mitte Juli rund 20 Tote pro Tag, stieg die Zahl der Covid-19-Opfer bis auf über 50 pro Tag. Zum Vergleich: In Deutschland sind es einstellige Zahlen. Elf Landkreise in Rumänien und die Hauptstadt Bukarest werden momentan von Deutschland als Risikogebiete eingestuft. Düstere Aussichten drohen, wenn es so weiter geht: Schon Mitte November könnten um die 1000 Betten auf Intensivstationen fehlen, die täglichen Opferzahlen könnten auf 300 pro Tag ansteigen. Die Einrichtung mobiler Intensivstationen brächte wegen des Mangels an medizinischem Personal keine Lösung.

Trotzdem sollen die – bereits einmal aufgeschobenen – Kommunalwahlen planmäßig am 27. September abgehalten werden. Für eine erneute Vertagung hatten sich die Leiter der PSD, Pro Romania und ALDE ausgesprochen. Präsident Klaus Johannis stellte jedoch klar, dass eine weitere Verlängerung der Mandate aus Demokratiegründen nicht infrage käme.

Auch der Schulbeginn am 14. September fand planmäßig statt, war jedoch von Unsicherheiten und Zwischenfällen geprägt. Am Ende der ersten Schulwoche mussten 49 Schulen wegen Infektionsfällen zum reinen Online-Unterricht wechseln, berichtet die Presseagentur Mediafax. Schlagzeilen machte in Jassy ein randalierender Vater, der eine Schule regelwidrig und ohne Maske betrat und verkündete, er werde seiner Tochter weder das Tragen von Masken noch die Benutzung von Desinfektionsmitteln erlauben. Medienberichten zufolge reichten zahlreiche Lehrkräfte kurzfristig Pensionierungsgesuche ein. Weitere 316 Lehrkräfte fehlen, weil sie sich mit Covid-19 angesteckt haben. Nun fordern auch die Lehrer eine Gefahrenzulage vom Staat, wie sie für Ärzte bereits genehmigt wurde. Staatspräsident Klaus Johannis stellte ein Gesetz zur raschen Besetzung von dauerhaft oder zeitweise vakanten Stellen an Schulen in Aussicht.
Kronstadt gehört zu den Risikogebieten in ...
Kronstadt gehört zu den Risikogebieten in Rumänien. Foto: Peter Simon
Für die landesweit ca. 2,8 Millionen Schüler begann das Schuljahr, ohne die üblichen Einweihungsfeiern, im Ampelsystem: 12423 Schulen eröffneten im sogenannten „grünen Szenario“, das Präsenzunterricht voraussetzt, 4915 im „gelben Szenario“ mit wochenweise abwechselndem Präsenz- und Online-Unterricht für jeweils die Hälfte der Schüler. 263 Bildungseinrichtungen konnten wegen der lokalen epidemiologischen Situation gar nicht eröffnen und unterrichten im „Szenario rot“, also ausschließlich online; betroffen sind rund 100000 Schüler. Was dies für Kinder aus sozial schwachen Familien bedeutet, die sich kein internetfähiges Gerät leisten können oder wo sich mehrere Geschwister eines teilen müssen, lässt sich nur erahnen. Auf dem Land erschwert schwankender Internet-Empfang oder die Tatsache, dass manche Dörfer ganz in Funklöchern liegen, den Zugang zum Online-Unterricht. Und wer soll jenen Kindern helfen, mit Zoom oder Google Classroom zurechtzukommen, deren Eltern Analphabeten sind oder die bei den Großeltern aufwachsen, weil die Eltern im Ausland arbeiten?

Ohnehin lassen die von Bildungsministerin Monica Anisie zugesagten Tablets und Laptops auf sich warten. Finanzminister Florin Cîțu erklärte zuletzt, sie sollen bis Ende des Herbstes eintreffen. Einige Stimmen halten auch dies für zu optimistisch. Dabei hatte das Unterrichtsministerium bereits Mitte Mai darauf aufmerksam gemacht, dass rund 250000 Schüler keinen Zugang zu den technischen Mitteln für den Online-Unterricht hätten. Man wollte sich für den Herbst entsprechend vorbereiten, um den Missstand zu beheben. Am Abend vor dem Schulbeginn von der Presse dazu befragt, erklärte Anisie, sie wisse nicht, wie es mit der Lieferung aussehe ...

Kurz vor Schulbeginn fehlte an jeder dritten Bildungsanstalt immer noch der Internet-Zugang, bemängelt auch die Deutsche Welle (DW): Vier Internetbetreiber hätten den Anschluss von 2500 Schulen bis 18. September versprochen, wird die Bildungsministerin am Tag des Schulbeginns zitiert. Staatspräsident Klaus Johannis hatte gegenüber der DW erklärt, bereits mit den Betreibern gesprochen zu haben, das Problem werde schrittweise gelöst. Lücken solle nach Möglichkeit der Dienst für Sondertelekommunikation (STS) abdecken helfen.

Das größte Problem Rumäniens aber ist die Ignoranz seiner Bürger: Ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem auf dem Land, hält das Virus für eine Erfindung. Diese Menschen verweigern das Tragen von Mundschutz und ignorieren die Hygieneregeln. 33 Prozent, so eine Umfrage der Marketingfirma Novel Research, zweifeln an der Existenz von Covid-19, zwölf Prozent seien sich sicher, dass das Virus nicht existiert. Problematisch gestaltet sich auch der Umgang mit den streng gläubigen Orthodoxen und Freikirchlern, die glauben, Beten sei wirksamer als Prävention. Immer wieder werden in orthodoxen Gottesdiensten und auf den gerade jetzt besonders beliebten Pilgerfahrten Abstandsregeln gebrochen, keine Masken getragen oder zum Küssen der Ikonen abgenommen, die Kommunion erfolgt für alle mit demselben Löffel. Viele Rumänen fühlen sich durch die staatlich auferlegten Regeln in der Ausübung ihrer Religion eingeschränkt. So entwickeln sich die religiösen Feste gewissermaßen zu „Brutstätten“ des neuen Coronavirus.

Medien versuchen, die Bürger wachzurütteln – mit mäßigem oder gar keinem Erfolg. So berichtet Digi24 regelmäßig im Internet über Schicksale von Corona-Patienten. Die Fernsehjournalistin Carla Tănasie führt zudem in einer Doku-Serie auf Digi24 – unter der Gefahr der eigenen Ansteckung – die Situation auf den Intensivstationen drastisch vor Augen: herzzerreißende Szenen mit schwerkranken Patienten, aber auch den enormen Druck, der auf dem Personal lastet, fängt die Journalistin ein. Tănasie vertritt die Meinung, dass die falsch verstandene Religiösität maßgeblich zur Verbreitung von Covid-19 in Rumänien beitrage. Erboste Corona-Kritiker warfen ihr daraufhin auf Facebook vor, sie würde Falschmeldungen verbreiten.

Nina May

Schlagwörter: Rumänien, Corona, Gesellschaft, Politik, Medizin, Gesundheit, Bildung

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