7. März 2007

Mit dem Dialekt im Fluchtgepäck

Die Fertigstellung des „Nordsiebenbürgischen Wörterbuches“ hat das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) durch ein Symposium über „Lexikographie der deutschen Mundarten in Südosteuropa“ gewürdigt, das am 22. und 23. Februar l. J. im Institut in der Münchner Halskestraße stattfand. Nicht an Lebensmittel, Kleidung oder Hausrat hatte der Bistritzer Sprachforscher Friedrich Krauß gedacht, als sich der Treck der Landsleute im Herbst 1944 auf der Flucht vor den Sowjets aus dem nördlichen Siebenbürgen, dem Nösnerland, damals zu Ungarn gehörig, westwärts in Bewegung setzte. Ihm ging es um andere Güter: Den Hauptteil seines Fluchtgepäcks bildete sein Wortschatz-Archiv, vor allem die über 850 000 Zettel mit dialektalen Wortgut-Aufzeichnungen aus den 48 Nösner Gemeinden, die der Sammler und Dialektforscher bei Feldbegehungen im Laufe von Jahrzehnten erstellt hatte.
Und es gelang Krauß tatsächlich, diesen Thesaurus durch die Wirren der Zeit und des Fluchtweges nach Deutschland zu retten. Ergänzt durch weitere Erhebungen, die er, teils noch im Flüchtlingslager, bei den ausgewanderten Landsleuten vornahm, und durch bibliographische Recherchen, bildete seine Sammlung die Grundlage für die Herausgabe des „Nordsiebenbürgisch-sächsischen Wörterbuches“, das 1986 zu erscheinen begann und 2006 mit dem fünften Band zu Ende geführt wurde.

IKGS-Direktor Prof. h. c. Dr. Stefan Sienerth begrüßte die Teilnehmer, Sprach- und Dialektforscher aus Deutschland, Österreich, Rumänien und Ungarn sowie an der Mundartforschung interessierte Gäste, darunter Prof. Dr. Werner Besch, ehemaliger Ordinarius für ältere deutsche Sprache und Literatur und späteren Rektor der Universität Bonn, der die Bedeutung und den Wert der Krauß’schen Sammlung früh erkannt und gemeinsam mit seinen Mitabeitern Anfang der 1980er Jahre den Rahmen zur Fortführung des Werkes geschaffen hatte. Die Fertigstellung des „Nordsiebenbürgisch-sächsischen Wörterbuches“, „dieses einzigartigen wissenschaftlichen Unternehmens“, habe man zum Anlass genommen, auf dem Symposium auch die fortschreitende Arbeit am „Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch“, von dem kürzlich eine neue Lieferung, der Band Q-R, erschienen ist, sowie allgemeine Fragen der Erfassung deutscher Mundarten in und aus Südosteuropa zu erörtern, sagte einführend der Institutsleiter. Das Symposium wurde vom Mediävisten und Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Anton Schwob (Universität Graz), der dem wissenschaftlichen Beirat des Nordsiebenbürgischen Wörterbuches angehört hatte, moderiert.

Prof. Dr. Werner Besch, sichtlich berührt von dem Jubiläumsereignis der Fertigstellung des großen Projekts, dem er 25 Jahre als Projektleiter eng verbunden war, gab einen Überblick über die Arbeit am Wörterbuch. Ein entscheidender Schritt war der Ankauf des Zettelarchivs durch die Universität Bonn im Jahr 1967 gewesen. Besch würdigte den „faszinierenden Sammler“ und Dialektforscher Friedrich Krauß (1892-1978). Für den hochbetagten Wissenschaftler, den er noch persönlich gekannt und an seinem letzten Wohnort in der Siebenbürgersiedlung Drabenderhöhe besucht hatte, sei die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn die verdiente öffentliche Anerkennung eines Lebenswerkes gewesen, das einer inzwischen untergegangenen Welt ein Sprachdenkmal gesetzt habe. Für das Wörterbuch seien ursprünglich vier Bände geplant gewesen, die von 1980 bis 2000 bearbeitet wurden, sagte Besch. Dass der notwendig gewordene fünfte, trotz der zu überwindenden Schwierigkeiten, doch noch realisiert werden konnte, bedeute auch für ihn ein Glücksmoment. Er dankte den Einrichtungen, die das Unternehmen unterstützt haben, darunter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde in Gundelsheim a. N. und den Böhlau Verlag Köln, der das Werk publizierte. Nicht zuletzt würdigte Besch, der gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. h. c. Kurt Rein (München) Projektleiter war, den Beitrag des Mitarbeiterteams, unter ihnen die allzu früh verstorbene Diplomphilologin und Dialektologin Gisela Richter, und des wissenschaftlichen Beirates.

Seitens des Wörterbuchteams referierte Dr. Walter Hoffmann (Bonn) über die Lexikographie des Westmitteldeutschen. Helga Feßler, M. A., aus Endingen ging auf lexikalische Besonderheiten der nordsiebenbürgischen Mundarten und Ursula Galsterer M. A. (München) auf Fragen datenbankgestützter Dialektlexikographie ein.

Dr. Sigrid Haldenwang vom Forschungszentrum der Rumänischen Akademie in Hermannstadt, die Leiterin der dortigen Wörterbuchstelle, gab sodann einen geschichtlichen Überblick über die Entstehung des „Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuches“ (SSWB), von dem 2006 im Bukarester Verlag der Akademie der umfangreiche Band „Q-R“ erschienen ist, der neunte in der Reihe dieses wissenschaftlichen Großprojektes, an dem mit zeitbedingten Unterbrechungen seit mehr als hundert Jahren gearbeitet wird. Bezüge und Unterschiede zum „Nordsiebenbürgischen Wörterbuch“ wurden u. a. erläutert. In das SSWB sind rund 250 Ortschaften einbezogen. Nach Personalwechsel in den Jahren nach der politischen Wende 1990 (Auswanderung etc.) wird die Wörterbucharbeit zurzeit von zwei Mitarbeiterinnen und einem wissenschaftlichen Assistenten bewältigt. Das Standardwerk sei auch deshalb von großer Bedeutung, da es „einen im Untergang befindlichen Dialekt“ dokumentiere. Für die gesamtdeutsche Mundartforschung sei es ebenfalls von großem Interesse, verzeichne es doch altertümliche Sprachzüge, die von den Mundarten im deutschen Sprachraum nicht mehr belegt werden können.

Unter dem „absichtlich provokativ“ formulierten Titel „Das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch – ein Werk von Literaten?“ rückte Prof. h. c. Dr. Stefan Sienerth einen Aspekt der Geschichte der siebenbürgisch-sächsischen Lexikographie ins Blickfeld. Der bekannte Literaturhistoriker, der sich als „Grenzgänger“ zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft bezeichnete, hatte nach Auflösung des Hermannstädter Germanistiklehrstuhls bis zur Ausreise 1990 mehrere Jahre bei der Forschungsstelle der Akademie auch am Wörterbuch, u. a. an dem Band „Q-R“, mitgewirkt. Er zeigte auf, dass neben bedeutenden Linguisten wie Andreas Scheiner, Gustav Kisch oder Friedrich Krauß ein Großteil weiterer Wörterbuch-Mitarbeiter auch anderweitig intellektuell tätig waren, so auf weiten Strecken ihrer geistigen Biographie als Schriftsteller, Literaturhistoriker, Übersetzer und Literaturkritiker, wobei die Sprachwissenschaft für sie keineswegs eine „berufsferne Sparte“ gebildet habe. Der Referent erklärte deren Beteiligung u. a. mit dem hohen Stellenwert, der diesem Großvorhaben in der Kulturgeschichte und der Öffentlichkeit der Gruppe der Siebenbürger Sachsen zukam. Der Vorläufer Johannes Tröster, ein Zeitgenosse von Leibniz, und Dr. Adolf Schullerus seien dabei bezeichnende Beispiele gewesen.

Den aktuellen Stand, Leistungen und Desiderate der deutschen Mundartforschung in Südosteuropa beleuchtete Prof. Dr. Dr. h. c. Kurt Rein (Universität München), ein überaus engagierter Förderer dieser wissenschaftlichen Unternehmungen. Auf eines dieser Desiderate ging Doz. Peter Kottler, Leiter der Wörterbuchstelle an der Universität Temeswar ein. Nach manchen Hürden, die zu nehmen waren, wolle man in diesem Jahr den ersten Band Wörterbuches der Banater deutschen Mundarten fertig stellen. Der Temeswarer Dialektologe begrüßte die in neuerer Zeit zustande gekommene Kooperation der Banater Wörterbuchstelle mit dem IKGS.

Ein Novum im Forschungsbereich präsentierte Prof. Dr. Elisabeth Knipf-Komlósi (Universität Budapest). Sie trug Überlegungen zu einem Ungarndeutschen Wörterbuch vor, das sich dort in der Planungsphase befindet. Prof. Dr. Hermann Scheuringer (Universität Wien) und Doz. Dr. Ioan Lăzărescu (Universität Bukarest) stellten das in Kooperation entstandene, auf das „österreichische Deutsch“ ausgerichtete neue Deutsch-Rumänische Wörterbuch vor, das noch in diesem Jahr erscheinen wird. Es ist vorgesehen, die Beiträge des Symposiums im Verlag des IKGS zu veröffentlichen.

Eduard Schneider

Schlagwörter: Kulturspiegel, IKGS

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