14. Januar 2020

Zeitzeugen erinnern sich: Deportation vor 75 Jahren in die Sowjetunion

„Für die Siebenbürger Sachsen bleibt die Russlandverschleppung das schrecklichste Trauma ihrer neuzeitlichen Geschichte“, schreibt der Historiker Dr. Michael Kroner in der Siebenbürgischen Zeitung. 30.376 Sachsen (46,4 Prozent Männer und 53,4 Frauen) wurden vor 75 Jahren, vom 11. bis 16. Januar 1945, zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt; das waren rund 15 Prozent der deutschen Einwohner Siebenbürgens. Nach den Erhebungen des Forscherteams unter der Leitung von Georg Weber (1931-2013) wurde bei mehr als 10 Prozent der Rekrutierten das vorgesehene Alter missachtet: Laut Stalins Deportierungsbefehl sollten deutsche Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren ausgehoben werden. Die ältesten Verschleppten waren 55, die jüngsten 13 Jahre alt. Aus Rumänien wurden etwa 70.000 Deutsche verschleppt. Knapp 12 Prozent aller deportierten Sachsen, das sind 3.076 Personen, haben die Deportationszeit nicht überlebt. Ursula Schenker hat einige Berichte von Zeitzeugen, die heute in Drabenderhöhe leben, zusammengefasst.
Drabenderhöhe/Hermannstadt/Heldsdorf. 13. Januar 1945: Morgens 6 Uhr. Fäuste hämmern an die Tür, alle werden aus dem Schlaf gerissen. Als der Ehemann und Vater von drei Kindern öffnet, stürmen bewaffnete Soldaten, Russen und Rumänen, an ihm vorbei ins Haus, bellen Befehle. Sie sind gekommen, um den Hausherrn zu holen. Er soll zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert werden.

Zitternd steht Martha Depner, geborene Tittes, im oberen Stockwerk, beobachtet das Ganze. Die 21-Jährige stammt aus Heldsdorf, ist gelernte Sozialarbeiterin und kümmert sich um den Nachwuchs des Hauses. „Die Soldaten sahen mich, fragten nach meinen Papieren und brüllten: Du hast dich hier also versteckt! „Dann musste ich meinen Rucksack packen, erhielt einen Schlag in den Rücken, fiel fast die Treppe runter.“ Sie wird, wie Hunderte von Menschen, zur Sammelstelle in die Turnhalle gebracht.
Die ehemalige Russlanddeportierte Martha Depner ...
Die ehemalige Russlanddeportierte Martha Depner lebt heute in Drabenderhöhe. Foto: Christian Melzer
Emma Hubbes, geborene Neudörfer, wohnt noch in ihrem Elternhaus in Heldsdorf, als an jenem Tag ebenfalls Soldaten ins Haus stürmen. Sie nehmen die 18-Jährige sowie ihre Schwestern Katharina und Klara mit. Noch in der Nacht werden die Frauen in Viehwaggons gesperrt. „Morgens setzte sich der Zug in Bewegung. Wir wurden mit über 40 Männer und Frauen in einen Waggon gequetscht.“ Zwei Wochen dauert die Fahrt, keiner weiß, wo es hingeht. Angst und Hunger begleiten sie. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Es gibt kein Wasser zum Waschen. Trinkwasser wird in eine Konservendose geschüttet, ab und zu gibt’s einen Löffel Hirsebrei. Ein WC? Nicht vorhanden. Depner: „Beim ersten Halt kam ein Soldat und schlug mit der Axt ein Loch in den Boden des Waggons, dass die Fetzen flogen. Dann hockte er sich drüber, zeigt, das ist jetzt ein WC. Das war entwürdigend und wir schämten uns, jeder konnte zusehen.“ „Einmal ging die Waggontür auf und es wurde ein Haufen roher Rippchen reingeschmissen. Ich weiß nicht, wer sie gegessen hat, es war so eklig, aber sie waren bald weg“, sagt Martha Depner.

3. Februar 1945: Endstation für Martha Depner ist das eingezäunte Lager Nr. 520 in Enakievo/Donbass (Stalingrad). „Es war mein 22. Geburtstag“ sagt Depner. „Wir wurden registriert, unsere Papiere einbehalten, fühlten uns vogelfrei.“ Emma Hubbes und ihre Schwestern werden zu Aufbauarbeiten ins Lager Makievka/Stalino gebracht. Sie müssen auf Strohsäcken schlafen, die Pritschen waren nicht fertig. Auf Depner warten Eisenbetten, ohne Matratzen. Die Frauen deckten sich mit ihren Mänteln zu. An Schlaf war in den Lagern kaum zu denken: Läuse, Wanzen oder Krätze hielten alle auf Trab. Bewaffnete Männer begleiteten die Frauen zur Arbeit. Während die Schwestern Steine klopfen müssen, wird Depner für die schwere und gefährliche Arbeit an mächtigen Hochöfen eingeteilt. Hier werden Blöcke für Panzerstahlplatten gefertigt. „Das Eisen musste geschmolzen werden, bis es wie Sahne in die Formen lief“, erzählt Depner.

„Draußen herrschten minus 20 Grad, wenn wir steif gefroren reinkamen, versuchten wir uns zu wärmen. Einmal bin ich zu nah an die Blöcke gekommen, der Stoff an einem Hosenbein brannte weg. Zwei lange Haare von ihr werden zu Nähgarn und aus einem Stoffbeutel das neue Hosenbein. Hunger quält alle: Für die schwere Arbeit am Hochofen erhält Depner täglich 1000 Gramm Brot, Männer 1200, die anderen Frauen nur 700 Gramm. Kranke, die auch das Lager putzen müssen, bekommen nur 300 g. Dazu monatelang täglich ein Schlag Sauerkrautsuppe.

Im Frühjahr wird Depner „zur Erholung“ auf einer Kolchose eingesetzt. Die Hitze, Kälte und der Feinstaub haben sie krank gemacht. Auf einer Wiese lebt sie mit vier Mädchen in einem Erdloch. „Dort krochen wir zum Schlafen rein, wärmten uns gegenseitig.“ Auch hier gab es nur Sauerkrautsuppe. Martha Depner wiegt noch 35 Kilo, als sie im Oktober 1946 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Lager entlassen wird. Der Zug bringt sie nach Frankfurt/Oder. Die junge Frau wird auf zwölf Jahre geschätzt, kommt zu einem Bauern ins Magdeburger Land, sagt: „Das waren Menschen wie Engel!“ Ihr Magen, der „nur noch aus Sauerkrautsuppe bestand“, musste erst wieder lernen, andere Nahrung aufzunehmen. Im August 1949 heiratet sie in Österreich ihren Schulfreund Helmut Depner, dem sie drei Söhne gebar. Bevor sie 1966 nach Drabenderhöhe zogen, wohnten sie 14 Jahre im Elsaß.
Emma Hubbes. Foto: Ursula Schenker ...
Emma Hubbes. Foto: Ursula Schenker
Emma Hubbes erlitt beim Steineschleppen eine Verletzung an der Wirbelsäule, erkrankte außerdem an Malaria, so dass sie nach elf Monaten die Heimreise antreten konnte. Bis zur Heirat mit Hermann Hubbes arbeitete sie in der Gastwirtschaft ihres Vaters. Ihre Schwester Klara sah sie nie wieder. Sie starb im Lager an TBC. Katharina wurde erst fünf Jahre später nach Hause entlassen. Seit 1992 wohnt Hubbes mit Sohn und Schwiegertochter in Drabenderhöhe.

Fast alle Kinder blieben ohne Eltern

Der 13. Januar 1945 war der vierte Geburtstag von Enni Janesch, geborene Kellner. Es war der Tag, an dem sich für das kleine Mädchen alles ändern sollte. Ihre Mutter Anna Kellner wurde ins Sammellager nach Reps abgeholt und dann nach Russland gebracht. Erst 1958 sah sie die Mutter wieder.

An diesen schicksalshaften Tag vor 75 Jahren, der viele Mütter und Väter für viele Jahre von ihren Kindern trennte, kann Janesch sich kaum noch erinnern. „Ich weiß nur, dass mein Großvater mich mit dem Pferdewagen nach Reps brachte, damit ich mich von meiner Mutter verabschieden konnte. Fast alle Kinder aus meiner Klasse in dem Örtchen Stein (Kreis Kronstadt) sind ohne Eltern geblieben.
Enni Janesch - an ihrem vierten Geburtstag wurde ...
Enni Janesch - an ihrem vierten Geburtstag wurde die Mutter zur Zwangsarbeit deportiert. Foto: Christian Melzer
„Ich hatte Glück, bin liebevoll und gut behütet bei den Großeltern aufgewachsen. Aber kein Kind wurde seinem Schicksal überlassen, Verwandte, Onkel und Tanten nahmen es bei sich auf. Manchmal war es auch eine Nachbarin, die sich um verlassene Kids kümmerte. Es gab damals noch eine intakte Gemeinschaft, alle haben geholfen. Aber, die Kinder haben gelitten, manche haben es gar nicht verkraftet. Viele von ihnen brachten später nicht das Wort Mutter oder Vater über die Lippen, weil sie ihnen fremd geworden waren.“

1947 wurde Janesch Mutter aus dem Lager Petrovka entlassen und nach Frankfurt/Oder gebracht. Der Vater war in Österreich in amerikanischer Gefangenschaft. Anna Kellner, die sich auf einem Bauernhof bei Magdeburg von den Folgen der Deportation erholte und wieder hochgepäppelt wurde, machte sich später auf den Weg zu ihrem Mann, lief zu Fuß über die Alpen. Im Januar 1949 bekam Enni Janesch eine Schwester, die sie im Januar 1958 zum ersten Mal sah. „Meine Eltern, die im Rahmen der Bergbauaktion 1953 ins Ruhrgebiet übersiedelt waren, haben sich immer darum bemüht, dass ich zu ihnen kommen kann.“ Janesch verschweigt nicht, dass anfangs alles sehr schwer war. Ich war 17 Jahre alt, kannte meine Eltern nicht. Aber wir haben zueinander gefunden.“

Ursula Schenker

Schlagwörter: Deportation, Russlanddeportation, Zwangsarbeit, Zeitzeugenberichte, Drabenderhöhe

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